Exzellenz zum Vorteil aller
Seit Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 sind im Durchschnitt pro Jahr netto knapp 60 000 Personen in die Schweiz immigriert. Sie suchen Wohnraum, benutzen Strassen und öffentliche Verkehrsmittel, und ihre Kinder gehen zur Schule. Wobei Wohnungen nicht nur wegen der Ausländer teurer geworden sind und manche Autobahnen verstopfter. Auch die Schweizer können sich mehr Wohnraum leisten und reisen öfter.
Die Ausländer in der Schweiz sind im Allgemeinen bemerkenswert gut integriert. Unter ihnen arbeiten mehr als unter den Schweizern, weil viele erst zuwandern, wenn sie bereits ausgebildet sind, oder das Land wieder verlassen, bevor sie pensioniert werden. Sie stellen 26 Prozent der Bevölkerung, aber 33 Prozent der Erwerbstätigen. Eine Schweiz ohne Zugewanderte wäre eintöniger, ärmer, hätte deutlich weniger innovative Firmen und würde in vielen Bereichen schlicht nicht funktionieren.
So besitzen etwa laut dem Ärzteverband FMH knapp 40 Prozent der in der Schweiz praktizierenden Ärzte ein ausländisches Diplom; neun von zehn stammen dabei aus Ländern des EU-Binnenmarkts.
Die Zuwanderung von Fachkräften hilft nicht nur den Unternehmen, sondern auch den Universitäten in der Schweiz, höchste Qualität zu bieten. Dem volkswirtschaftlichen Departement der Universität Zürich zum Beispiel ist es gelungen, zu den 25 besten der Welt vorzustossen. Von den derzeit 34 Topprofessoren sind nur 12 Schweizer. 7 haben sich während ihrer Karriere an der Uni Zürich einbürgern lassen. Dank allen zusammen erhalten die Studenten eine Ausbildung auf Weltklasseniveau, wobei 85 Prozent der Bachelor-Studenten Schweizer sind.
Keine Nivellierung nach unten
Das ist typisch. Übers Ganze gesehen, haben die Schweizer von der Migration profitiert, weil Einwanderer und Einheimische sich nicht einfach ersetzt haben, sondern sich mehrheitlich ergänzen. Exportorientierte Unternehmen forschen und produzieren in der Schweiz, solange die Rahmenbedingungen stimmen und sie gefragte Spitzenfachkräfte aus dem ganzen EU-Binnenmarkt einfach rekrutieren können. Damit schaffen sie Arbeitsplätze auch für den Mittelstand und zahlungskräftige Kundennachfrage für den Coiffeur oder den Tennislehrer.
In nüchternen Zahlen gemessen, bewirkt dieses Zusammenwirken von einheimischen und ausländischen Erwerbstätigen, dass die Wirtschaftsleistung (das Bruttoinlandprodukt, BIP) pro Kopf in der Schweiz spitze ist: um die Hälfte höher als in den USA und Dänemark, rund doppelt so hoch wie in Deutschland und Frankreich und fast dreimal so hoch wie in Italien.
Seit Einführung der Personenfreizügigkeit mit der EU 2002 hat dieser Wohlstand auch keineswegs stagniert. Pro Kopf ist er um 19 Prozent gewachsen. Das ist stärker als in Dänemark, den Niederlanden und Frankreich und (von doppelt so hohem Niveau aus) nur ein Prozentpunkt weniger als in Deutschland. Die von Gegnern der Personenfreizügigkeit befürchtete Nivellierung nach unten ist nicht eingetreten. Berücksichtigt man den Rückgang der durchschnittlichen Arbeitszeit, wird der Wohlstandszuwachs noch eindrücklicher – ganz im Gegensatz zur Stagnation der 1990er Jahre. Die Schweiz ist mit der Personenfreizügigkeit nicht nur in die Breite gewachsen, sondern reicher geworden.
Freiheitlich, unbürokratisch und effizient
Aller Kritik zum Trotz ist die Personenfreizügigkeit ein genuin freiheitliches Konzept, das wie beim Handel die Entscheide nicht der Bürokratie, sondern dem Einzelnen und der Steuerungsfunktion des Marktes überlässt. Dank der Personenfreizügigkeit haben Schweizer, die im EU-Binnenmarkt eine Arbeit finden, dort ein Aufenthaltsrecht und Europäer dasselbe in der Schweiz. Im Vergleich zum administrierten Saisonnier- und Kontingentssystem, das früher herrschte, hat dies dazu geführt, dass Firmen Fachkräfte einfacher rekrutieren können, Arbeitskräfte eher dort eingesetzt werden, wo sie am produktivsten sind, und man nicht länger auf politisch gut vernetzte Lobbyisten angewiesen ist. Die unter der Personenfreizügigkeit Zugewanderten sind im Durchschnitt vermehrt arbeitstätig und besser qualifiziert als die übrigen Ausländer und die Schweizer.
Dennoch wäre es keine gute Idee, Freizügigkeit mit der ganzen Welt einzuführen. Mit zu grossen Wohlstandsunterschieden droht in der Tat ein Kontrollverlust. Im Binnenmarkt aber war das bisher kaum der Fall. Als Sicherheit für die Zukunft böte sich am ehesten an, mit der EU eine Ventilklausel auszuhandeln, laut der der Bundesrat die Freizügigkeit mit einem Land temporär aussetzen könnte, sollte die Einwanderung vorab definierte übermässige Ausmasse annehmen.
Die Vergabe von Aufenthaltsrechten innerhalb von administrierten Kontingenten hätte theoretisch den Vorteil, dass der wohlwollende Staat besonders vielversprechende Zuwanderer herauspicken und hohe Eintrittspreise verlangen könnte. Aber so sehr Kostenwahrheit grundsätzlich anzustreben ist, so wenig ist im Einzelfall klar, was das heisst. Während die einen in der Schweiz einen luxuriösen Golfklub sehen, für dessen Mitgliedschaft über den jährlichen Mitgliederbeitrag hinaus ein substanzieller Eintrittspreis hingeblättert werden sollte, nehmen die anderen die Schweiz eher als einen Fussballklub wahr, der für die im Ausland rekrutierten Topspieler erhebliche Einkaufssummen zahlen müsste. Die Personenfreizügigkeit ist da nicht nur liberaler, sondern auch pragmatischer.
Ein dynamisches Zentrum bleiben
Es ist kein Zufall, dass die Schweiz in einer Studie der Bertelsmann-Stiftung als grösste Gewinnerin der Integration im EU-Binnenmarkt aufscheint. Wirtschaftliche Dynamik hat eine geografische Dimension. Kraftzentren entstehen nicht in Palermo oder Rovaniemi, sondern in grenzüberschreitenden Grossregionen wie Süddeutschland, dem Elsass, Norditalien und mittendrin dem Schweizer Mittelland. Der Wohlstand in einem gemeinsamen Arbeitsmarkt wird nicht überall gleich, wie selbst die Erfahrungen in der Schweiz oder den USA zeigen. Er konzentriert sich, bis knapper Boden und steigende Preise dem natürliche Grenzen setzen.
Leistung und Geld sind natürlich nicht alles, was glücklich macht. Aber auch in wohlhabenden Gesellschaften altert und schrumpft die Bevölkerung. In Japan schon lange, in Italien seit einigen Jahren, in Deutschland gerade erst. Der internationale Wettbewerb um Fachkräfte wird härter, die Erwerbstätigen müssen für immer mehr Pensionäre aufkommen: Der Wohlstand gerät unter Druck. Glaubt man den Prognosen, so hat die Schweiz die Chance, noch einige Zeit ein wirtschaftliches Kraftzentrum zu bleiben. Sofern sie weltoffen, liberal und im EU-Binnenmarkt voll integriert bleibt.
Die Nachteile der Zuwanderung lassen sich damit nicht einfach wegreden. Es gilt, die Infrastruktur rechtzeitig anzupassen, einer chaotischen Zersiedlung entgegenzutreten, die Qualität des Bildungssystems zu erhalten, Ausländer gut zu integrieren, Ghettobildung und Überregulierung zu vermeiden. Damit die Vorteile der Zuwanderung ihre Nachteile auch weiterhin eindeutig überwiegen.
Die mulmigen Gefühle sind wohl unvermeidlich. Sie sollten Anlass sein, mit der Zuwanderung weitsichtig umzugehen, sie geschickt zu nutzen und ihre Vorteile aufzuzeigen. Populistische Angstmacherei und ein verklärter Blick zurück helfen da nicht weiter. Eine wirtschaftliche Entwicklung, die hohe Wertschöpfung, Wohlstand und ökologischen Wandel generiert, braucht eine gewisse Breite und (europäische) Integration. Richtig angepackt, sind die Personenfreizügigkeit und die 10-Millionen-Schweiz mehr Verheissung als Gefahr.