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Der Hochofen 8 (links) von ThyssenKrupp Steel in Duisburg wird schon heute mit Wasserstoff betrieben.

Der Hochofen 8 (links) von ThyssenKrupp Steel in Duisburg wird schon heute mit Wasserstoff betrieben. Bild: Jochen Tack / Imago

Klima & Energie

Nach dem Kohle-Aus: Nordrhein-Westfalen erfindet sich neu und setzt auf Umweltwirtschaft

Das deutsche Bundesland war bekannt für Kohlezechen und Schwerindustrie. Doch in Nordrhein-Westfalen hat die Umweltwirtschaft stark zugelegt, zum Beispiel werden vielerorts Autobatterien rezykliert. In einem Bericht ist sogar von einem Boom die Rede. Zu schön, um wahr zu sein?

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Nach dem Kohle-Aus: Nordrhein-Westfalen erfindet sich neu und setzt auf Umweltwirtschaft

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Obwohl die Kohlezechen im Ruhrgebiet längst Vergangenheit sind, ist deren Erbe allgegenwärtig: Hier und da trägt ein Haus noch die original verrusste Fassade, stählerne Fördertürme und gewaltige Abraumhalden prägen die Silhouette von Städten und Landschaft. Der vielzitierte Strukturwandel – weg von der Schwerindustrie, hin zu Handel, Logistik, Wissenschaft und Kultur – ist noch in vollem Gange.

Ein weiteres Standbein ist allerdings seit einigen Jahren die Umweltwirtschaft. Das geht aus dem gut hundert Seiten starken «Umweltwirtschaftsbericht 2024» hervor, den das nordrhein-westfälische Ministerium für Umwelt, Naturschutz und Verkehr in Auftrag gegeben und den die Prognos AG aus Düsseldorf in Kooperation mit dem gemeinnützigen Institut für ökologische Wirtschaftsforschung aus Berlin erarbeitet hat.

Die Botschaft vom «Boom» der Umweltwirtschaft ist von manchen Medien als ein echter Mutmacher interpretiert worden: «Wie lassen sich Wirtschaft und Umweltschutz vereinen? Offenbar gut, wie aktuelle Zahlen aus Nordrhein-Westfalen (NRW) zeigen. «Die Umweltwirtschaft wächst stark», titelte die deutsche «Tagesschau» am 7. November, dem Erscheinungstag des Berichts.

Die Querschnittsbranche hat eine doppelte Dividende

Die Umweltwirtschaft ist eigentlich keine eigene Branche, sondern eine Querschnittsbranche, zu der Teile vieler klassischer Branchen zählen – von der Landwirtschaft über die Elektroindustrie bis hin zu Dienstleistungen. Laut dem Bericht umfasst die Umweltwirtschaft alle Unternehmen, «deren Produkte und Dienstleistungen einen Beitrag zum Klima-, Umwelt- und Ressourcenschutz leisten». Dabei geht es zum Beispiel um Entsorgung, Mobilität, Energie sowie um Technologien, die Umweltbelastungen vermindern und Abläufe effizienter machen.

Der besondere Charme der Umweltwirtschaft: Wenn sie wächst, fällt mit ökonomischer und ökologischer Wertschöpfung eine doppelte Dividende an, wie der nordrhein-westfälische Umweltminister Oliver Krischer sagt. Diverse Daten aus dem Bericht verdeutlichen den positiven Trend:

  • Im Berichtszeitraum von 2010 bis 2023 stieg die Bruttowertschöpfung der Umweltwirtschaft in NRW von 30,7 Milliarden Euro auf 52,8 Milliarden Euro.
  • Die jährliche Steigerung der Umweltwirtschaft von 4,3 Prozent liegt über dem Wachstum der Gesamtwirtschaft in NRW mit 3,7 Prozent.
  • Die Zahl der Erwerbstätigen in der Umweltwirtschaft stieg von 500 000 auf 600 000. Im Jahr 2030 sollen es 800 000 sein.
  • 6,2 Prozent der Erwerbstätigen in Nordrhein-Westfalen arbeiten in der Umweltwirtschaft, das sind mehr als in der Metallindustrie und im Maschinenbau zusammen.
  • Die Exporte der Umweltwirtschaft stiegen von 10,5 Milliarden Euro auf 14,5 Milliarden Euro. Auch diese Steigerung liegt deutlich über der Gesamtentwicklung in NRW.
  • 6,5 Prozent aller Ausfuhren von NRW entfallen auf die Umweltwirtschaft.
  • Den ökologischen Mehrwert durch das Vermeiden von Schäden und die Schaffung ökologischer Werte schätzt der Bericht auf 28,9 Milliarden Euro.

Die Autoren des Berichts legen ausführlich dar, wie sie die Zahlen ermittelt und welche Quellen sie genutzt haben. Seit dem ersten Bericht von 2010 haben sie ihre Methodik immer weiter verfeinert. Um trotzdem die Zahlen von damals mit denen von heute vergleichen zu können, rechneten sie für den jüngsten Bericht die alten Zahlen noch einmal neu.

Ökologische Effekte werden eher unterschätzt

Trotz aller Akribie sind die Daten nur als Näherungen zu sehen. Auch wenn das Ministerium als Auftraggeber des Berichts mit positiven Zahlen glänzen möchte, betonen die Autoren: «Die Annahmen, die den Analysen und Berechnungen zugrunde liegen, wurden auf die aktuelle Fachliteratur gestützt und konservativ getroffen. Verlagerungs- oder Bumerangeffekte wurden nicht betrachtet.» Insgesamt gehen die Autoren davon aus, dass sie die ökologischen Effekte eher unterschätzen.

Was im Bericht fast untergeht: So positiv die Entwicklungen der Umweltwirtschaft für NRW sind, so hinkt das Land doch der Entwicklung in Gesamtdeutschland in allen Kenngrössen hinterher. Bei den Erwerbstätigen und der Bruttowertschöpfung ist der Abstand gering, bei den Exporten aber deutlich: Während NRW den Export seiner Umweltgüter jährlich um 2,5 Prozent steigern konnte, legte Gesamtdeutschland um 6,3 Prozent zu. Angesichts der Tatsache, dass NRW nach wie vor einen schwierigen Strukturwandel durchmacht, kann das Land aber durchaus ein Lehrbeispiel für andere Industrieregionen sein.

Zwei konkrete Beispiele für die Umweltwirtschaft in NRW:

  • Besonders gut lässt sich der Strukturwandel am Duisburger Hafen erkennen, der mit neuen Logistikschwerpunkten und der Ansiedlung von produzierenden Betrieben die Wende geschafft hat. Heute ist er der grösste Binnenhafen der Welt, der direkt und indirekt 50 000 Menschen in Lohn und Brot bringt. Als Symbol des Wandels gilt die Kohleinsel, ein Terminal, wo bis vor vier Jahren noch Hunderte Millionen Tonnen Kohle umgeschlagen wurden. Derzeit entsteht dort ein Wasserstoffterminal, denn man erwartet, dass Binnenschiffe auf Wasserstoffantrieb umrüsten. «Sichtbarer kann man es nicht machen, dass der Aufbruch in eine neue Zeit begonnen hat», sagt Markus Bangen, der Vorstandsvorsitzende der Duisburger Hafen AG.
  • Für Erforschung und Recycling von Autobatterien ist NRW «international gesehen ein wichtiger Standort», so der «Umweltwirtschaftsbericht». Die 17 aufgeführten Forschungsinstitute, Startups und etablierten Unternehmen decken die gesamte Batterie-Wertschöpfungskette ab. Allein in Münster versammeln sich fünf Standorte unter dem Slogan «Battery City Münster».

Wie sehr die Umweltwirtschaft den Arbeitsmarkt verändert, bestätigt auch ein Bericht, den das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung RWI und das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung im Herbst veröffentlicht haben. Die Wissenschafter beobachteten zwischen 2012 und 2022 einen Trend zu weniger umweltschädlichen Tätigkeiten innerhalb einzelner Berufe sowie einen wachsenden Anteil von Berufen, die der Umwelt zugutekommen.

In der Schweiz wachsen Kreislaufwirtschaft und Cleantech

Hinweise auf die zunehmende Bedeutung der Umweltwirtschaft finden sich auch in der Schweiz. Der Bundesrat beschloss in einer Sitzung Mitte November, zum Wohle der Umwelt sowie der Schweizer Ökonomie die Kreislaufwirtschaft zu stärken.

Das Bundesamt für Statistik schätzt die Bruttowertschöpfung mit Umweltgütern und -dienstleistungen auf 24,7 Milliarden Franken, die Zahl der Erwerbstätigen auf 168 000 Vollzeitäquivalente. Von 2000 bis 2022 haben sich die Bruttowertschöpfung und die Zahl der Beschäftigten im Umweltsektor mehr als verdoppelt. Vor allem die Bereiche erneuerbare Energien und Gebäudesanierung sorgten für den Aufschwung. In einer Mitteilung des Bundesamts für Umwelt heisst es: «So ist der Cleantech-Sektor bei uns, in der EU und weltweit einer der am schnellsten wachsenden Märkte mit anhaltend hohem Wachstumspotenzial.»

Allerdings merkt Niklas Nierhoff vom Bundesamt für Umwelt selbstkritisch an, dass «wir trotz den Fortschritten, auf die wir stolz sein können», mit unserem hohen Lebensstandard immer noch zu viele Ressourcen verbrauchen: «Die ganze Weltbevölkerung könnte sich unseren Standard nicht erlauben, ohne dass Ökosysteme und das Klima noch weiter aus den Fugen geraten.»

Zweifel am grünen Wachstum bleiben

Ist die Umweltwirtschaft ein wirksamer Hebel, um Wirtschaftswachstum und Umweltschäden zu entkoppeln? Die Zahlen aus dem «Umweltwirtschaftsbericht» von NRW stimmen in diesem Punkt wenig optimistisch.

Das sieht man gut am Beispiel Mobilität: Der Nutzen des öffentlichen Nahverkehrs für die Umwelt ist sehr überschaubar. Die Effekte ermittelten die Forscher mithilfe eines sogenannten kontrafaktischen Szenarios, in dem es keine Busse und Bahnen gibt und die Menschen auf Auto und Fahrrad umsteigen und zu Fuss gehen müssen. Das Ergebnis: Ohne öffentlichen Verkehr (öV) würde der Ausstoss von derzeit 40 auf 42 Millionen Tonnen Kohlendioxid steigen. Der Umweltbonus des öV macht also nur fünf Prozent der Gesamtbelastung durch die Mobilität aus.

Zwar beziffern die Autoren die CO2-Einsparung dank dem öV mit einem Geldwert von 700 Millionen Euro. Doch wie viel mehr würde es bringen, wenn Menschen weniger unterwegs wären – etwa durch Arbeiten im Home-Office.

Bis anhin sieht es nicht danach aus, als wäre eine ökologische Orientierung der Wirtschaft ein Persilschein für weiterhin unbegrenztes Wachstum. Doch wie der «Umweltwirtschaftsbericht 2024» für NRW und weitere Veröffentlichungen zeigen, lassen sich trotz steigender Bruttowertschöpfung und Beschäftigung mithilfe vieler Stellschrauben die Schäden für Umwelt und Klima immerhin drosseln.

Christian Weymayr, «Neue Zürcher Zeitung» (16.12.2024)

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