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Klima & Energie

Geologen verwerfen das «Anthropozän» – damit beweisen sie wissenschaftliche Autonomie

Die Menschen verändern die Erde fundamental. Doch die Geologie ist so frei, die Begriffe, die sie für nützlich hält, selbst zu wählen. Die Bezeichnung des Anthropozäns ergibt vor allem als Kulturepoche Sinn.

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Geologen verwerfen das «Anthropozän» – damit beweisen sie wissenschaftliche Autonomie

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Für viele schien es bloss eine Formalität zu sein: Anfang März entschied ein Fachgremium der Geologie über die Frage, ob das «Anthropozän» zu einer Epoche erklärt werden soll. Der Begriff kommt von griechisch «anthropos», was Mensch bedeutet. Als Anthropozän wird der Zeitraum bezeichnet, in dem die Menschen einen überragenden Einfluss auf die Erdoberfläche ausüben – zum Beispiel indem sie Tagebau betreiben, Küsten versetzen, Böden verseuchen oder versiegeln, das Klima verändern.

Das Fachgremium – eine Unterabteilung der Internationalen Union der Geologischen Wissenschaften – votierte allerdings klar dagegen, eine neue Epoche auszurufen. Etliche Beobachter reagierten verdutzt. Haben die Geologen etwa noch nicht mitbekommen, wie einschneidend der Mensch den Planeten verändert? Zweifeln sie den Ernst der Lage an?

Nichts dergleichen ist der Fall. An dem Entscheid des Fachgremiums zeigt sich vielmehr: Wissenschaftliche Fächer wie die Geologie verteidigen die Freiheit ihrer fachspezifischen Argumentationsweise gegen weltanschaulich geprägte Ansprüche. Das ist ein gutes Zeichen.

Geologisch betrachtet sind wir immer noch im Holozän

Die Idee, eine neue Epoche namens Anthropozän auszurufen, reifte in den vergangenen zwei Jahrzehnten. Immer mehr Wissenschafter und Nichtwissenschafter fanden wegen des ausufernden Einflusses der Menschen auf den Planeten, der angebrochene Zeitabschnitt brauche einen eigenen Namen.

Geologisch betrachtet befinden wir uns seit 2,6 Millionen Jahren im Quartär, welches in die Epochen Pleistozän und Holozän unterteilt ist. Wenn Wissenschafter eine neue Epoche auf der geologischen Zeitskala deklarierten, hätte das in der Öffentlichkeit eine grosse Symbolkraft – es wäre eine Art Adrenalinschub für die Umweltbewegung. Für die Befürworter des Anthropozäns war das immer eine wichtige Motivation.

Eine Arbeitsgruppe um den Geologen Jan Zalasiewicz von der Universität Leicester sammelte jahrelang Informationen, die eine offizielle Deklaration der neuen Epoche unterstützen sollten. Die Mitglieder bestimmten sogar schon einen Zeitpunkt, an dem das Anthropozän anfangen sollte, nämlich das Jahr 1952 – wegen des Beginns von Atomwaffentests. Auch einen Ort, an dem sich der Beginn der Epoche erkennen liesse, haben sie bereits gefunden: Der kleine Crawford Lake in Kanada birgt passende Sedimente, in denen Spuren der Atomwaffentests zu finden sind.

All das hat die erfahrenen Geologen des Fachgremiums nicht überzeugt. Sie haderten vor allem mit dem Startdatum. Der menschliche Einfluss auf die Erdoberfläche begann an manchen Orten schon vor Jahrtausenden – etwa dort, wo die Landwirtschaft ihren Anfang nahm. Andernorts griff der Mensch erst im 20. Jahrhundert spürbar ein. Es gibt also keinen synchronen Beginn.

Auch hätte die Einführung einer Epoche, die keine hundert Jahre lang wäre, für die Forschungsarbeit der Geologen keinen praktischen Nutzen. Die geologische Zeitskala ist eigentlich dazu geschaffen worden, dass man sich zeitlich in der 4,5 Milliarden Jahre langen Erdgeschichte orientieren kann. Schon das Holozän ist vergleichsweise extrem kurz. Die Definition einer ganz neuen jungen Epoche würde viele Aufgaben – die Anfertigung von Karten und Dokumentationen etwa – nur verkomplizieren.

Das Anthropozän ist eher eine Kulturepoche

Die Befürworter der neuen Epoche reagierten frustriert auf den Entscheid, dabei war ihre Arbeit nicht umsonst. Niemand wird die Bezeichnung Anthropozän aufgeben, nur weil sie nicht in der geologischen Zeitskala steht. Der Begriff besitzt viel Strahlkraft und hat durchaus seinen Sinn: Er beschreibt ein weithin zu beobachtendes Phänomen der Zivilisation, das unsere Gegenwart und ihre Sorgen so stark prägt wie kaum ein anderes. Aber man wird den Begriff wohl eher in einem kulturwissenschaftlichen Sinne verwenden – etwa so, wie man von der Renaissance oder dem Zeitalter des Barocks spricht.

Die Geologen haben jedes Recht der Welt, das Anthropozän nicht in ihre Nomenklatur einzuführen. Wissenschaft ist nicht dazu da, weltanschauliche Ansprüche von Zeitströmungen zu befriedigen. Sich von solchen Ansprüchen zu lösen, war eine der zentralen Errungenschaften des Aufklärungszeitalters. Es wäre höchst beunruhigend, fiele man hinter diesen Stand zurück.

Das Fazit? Wir bleiben geologisch betrachtet in der Epoche des Holozäns, das vor rund 12 000 Jahren begann. Und befinden uns gleichzeitig im Kulturzeitalter des Anthropozäns. Das ist kein Widerspruch – sondern beschreibt den Zustand der Welt ziemlich gut.

Sven Titz, «Neue Zürcher Zeitung» (03.04.2024)

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