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Klima & Energie

Der Arktis wird heiss – aber wir sehen nur die Hälfte

Wegen des Eises ist kaum eine Region der Welt so relevant für das Klima wie die Arktis. Um Probleme früh zu erkennen, brauchen wir dringend Daten. Doch ein Grossteil der Arktis ist für die Wissenschaft inzwischen ein blinder Fleck, denn er gehört zu Russland. Das hat weitreichende Folgen.

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Nehmen wir an, es gibt einen Ort, der über die Zukunft der Erde mitentscheidet. Darüber, ob wir hier in Europa weiterhin Weintrauben anbauen, ob Entwicklungsländer im Süden bewohnbar bleiben, ob Inseln im Pazifik untergehen. Nehmen wir an, wir kennen diesen Ort und wissen genau, wie wichtig er ist. Aber er entzieht sich uns.

Unmöglich? Nein. Eine Tatsache.

Die Arktis ist ein solcher Ort. Sie erwärmt sich dreimal so schnell wie der Rest der Welt, der abschmelzende Eisschild von Grönland lässt den Meeresspiegel ansteigen, und mit dem Auftauen des Permafrosts im arktischen Boden gelangen die Treibhausgase Kohlendioxid und Methan in die Luft, was die Erderwärmung zusätzlich beschleunigt. Die Kälte, die fehlt, und das Süsswasser, das aus den Gletschern ins Meer fliesst, sorgen dafür, dass sich Meeresströmungen verändern – und die Welt damit ihr Aussehen.

In der Arktis spielen sich also rasche, teilweise unumkehrbare Prozesse ab, die den Rest der Erde stark beeinflussen können. Nur wenn wir verstehen, was in der Arktis geschieht, können wir die Folgen für die Erde vorhersagen und rechtzeitig davor warnen.

Doch wie soll das möglich sein, wenn seit dem Krieg Russlands in der Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen gegen Russland die Hälfte der arktischen Landmasse und mehr als die Hälfte der arktischen Küste für internationale Forschende nicht mehr zugänglich sind?

Der Hotspot wird zum blinden Fleck

«Towards an increasingly biased view on Arctic change» – hin zu einer zunehmend verzerrten Sicht auf den arktischen Wandel, so lautet der Titel einer Studie, die kürzlich im Wissenschaftsmagazin «Nature» veröffentlicht wurde.

Die Arktis wird also zum blinden Fleck. «Das unterschreibe ich sofort», sagt Gabriela Schaepman-Strub, Professorin für Erdwissenschaft an der Universität Zürich, «die russischen Daten, die uns seit dem Krieg fehlen, sind ein Riesenverlust für die Arktisforschung.»

Schaepman-Strub hat ab 2008 jeden Sommer in Sibirien in der russischen Arktis verbracht. Mit ihrem Team erforscht sie die arktische Biodiversität und die Auswirkungen von Niederschlag und Trockenheit auf Boden, Pflanzen und Permafrost. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, war ihr sofort klar, dass die Zusammenarbeit mit ihren russischen Kollegen sehr schwierig werden würde. 2022 und 2023 konnte sie nicht nach Russland reisen, konnte keine Sensoren reparieren, keine Daten sammeln.

Ein sehr bedeutender Anteil des Permafrosts liege in Russland, sagt sie. «Wenn wir nicht wissen, wie viel Kohlenstoff beim Auftauen in die Atmosphäre gelangt, sind unsere Vorhersagen ungenau und damit eine der Entscheidungsgrundlagen der Klimapolitik.»

Für viele Menschen war die Corona-Pandemie ein Einschnitt in ihr Leben. Für Schaepman-Strub war es dieser Krieg. Überrascht hat er sie allerdings nicht. Ihre russischen Forscherkollegen seien über die Jahre zu Freunden geworden, im persönlichen Kontakt – auch zwischen den E-Mail-Zeilen – habe sie die zunehmende Repression schon zuvor gespürt. Lohnkürzungen, neue Gesetze, Verbot von Nichtregierungsorganisationen. Solche Dinge.

Um ihre russischen Kollegen zu schützen, bleibt Gabriela Schaepman-Strub oft bewusst vage. Auch im Gespräch für diesen Text. «Wir versuchen weiterhin, uns informell auszutauschen», sagt sie. Individuell, nicht institutionell. Was genau ausgetauscht werden darf und was nicht, ist nicht ganz klar. Elektronische Daten und Geld nicht, wissenschaftliche Artikel, an denen gemeinsam gearbeitet wird, schon. Sie müsse sich darauf verlassen, dass ihre russischen Kontakte wüssten, worüber sie sprechen könnten.

«Mir geht es – ausser um die Daten – insbesondere darum, die russischen Forschenden zu ermuntern, weiterzuarbeiten», sagt Schaepman-Strub. «Wenn wir jetzt den persönlichen Kontakt verlieren, ist es später enorm schwierig, diesen wieder aufzubauen.» Für sie ist aber klar, dass sie selbst sich anderweitig orientieren muss. Es brauche Überwindung, sich von der russischen Arktis abzuwenden. Bisher habe sie es nicht geschafft. Für 2025 ist Kanada geplant.

Der blinde Fleck verursacht eine grosse Ungenauigkeit

Die bereits erwähnte «Nature»-Studie, die vor einem verzerrten Blick auf den arktischen Wandel und vor dem blinden Fleck warnt, bezieht sich auf Interact, ein internationales Netzwerk für landgestützte Forschung und Messungen in der Arktis. Es ist das grösste Netzwerk von Forschungsstationen in der Region.

Von den 60 einbezogenen Stationen nördlich des 59. Breitengrads liegen 17 in Russland. Ausgewertet wurden 8 Variablen, darunter Lufttemperatur und Gesamtniederschlag, Schneehöhe und Biomasse der Vegetation. Die Frage war, inwiefern sich diese mit und ohne russische Daten verändern.

Der Ausschluss russischer Stationen führe zu einer grossen Ungenauigkeit, schreiben die Fachleute. Dabei lägen einige Verzerrungen in der gleichen Grössenordnung wie die erwarteten Verschiebungen aufgrund des Klimawandels bis zum Ende des Jahrhunderts. Es wird also schwierig sein, zu unterscheiden, an welchen Fehlprognosen der Klimawandel und an welchen die fehlenden Daten aus Russland schuld sind.

Es verlieren alle dabei

Ist die Arktis Russland egal? Bestimmt nicht. Im Gegenteil.

Viele Länder sehen den arktischen Wandel als wirtschaftliche Chance. Natürliche Ressourcen wie Gas und Öl, aber auch die für die Umstellung auf erneuerbare Energien dringend benötigten Metalle der seltenen Erden liegen in arktischen Böden. Mit dem Auftauen des Permafrosts und dem Abschmelzen des Eises werden sie besser zugänglich. Auch werden neue, direktere Handelswege frei.

Nicht nur Arktisanrainer wie Russland haben eine offizielle Arktisstrategie. Deutschland hat eine, die EU hat eine, China – das sich selbst als Fast-Arktisstaat bezeichnet – hat eine. Auch die Schweiz weiss um die Bedeutung der Arktis. Die Akademien der Wissenschaften Schweiz beschrieben 2022 im Report «Die Arktis unter Druck. Menschgemachter Wandel in der Arktis und die Rolle der Schweiz» die Parallelen zwischen dem alpinen und dem polaren Raum und die Verantwortung aller, die Arktis für das Klima und für den Frieden zu schützen.

Russland hat bereits in seiner Arktisstrategie 2020 festgehalten, wie es Ressourcen nutzbar machen, Seewege ausbauen und die militärische Infrastruktur modernisieren will. 2022 stufte Russland die Arktis in der maritimen Doktrin als «lebenswichtig» für nationale Interessen ein. Im neuen aussenpolitischen Konzept Russlands vom März 2023 ist die Arktis aufgewertet worden, wie die deutsche Bundesregierung beobachtet hat.

Russland sabotiert den Arktischen Rat bis jetzt nicht

Der Arktische Rat ist das wichtigste Forum der Arktisanrainer. Es setzt sich mit Umweltfragen auseinander, nicht aber mit Geopolitik. Nach der Invasion Russlands in der Ukraine wurde die Zusammenarbeit mit Russland ausgesetzt. Doch der Rat ist ein konsensbasiertes Gremium, in dem nur alle acht Mitgliedsstaaten (Dänemark, Finnland, Island, Kanada, Norwegen, Russland, Schweden, USA) gemeinsam entscheiden können.

Ohne Russland haben internationale Netzwerke nicht nur weniger Wert, der Arktische Rat müsste sich auch komplett neu organisieren. Unter der gegenwärtigen Führung von Norwegen hat der Rat im Februar 2024 eine Lösung gefunden, wie zumindest auf wissenschaftlicher Ebene eine Zusammenarbeit stattfinden kann. Minister treffen sich nicht, gewisse Arbeitsgruppen aber schon.

Russland drohte im Februar damit, aus dem Arktischen Rat auszutreten. Auch hatte man sich im Rat darauf eingestellt, dass Russland ihn sabotieren oder für Propagandazwecke nutzen könnte. Doch all das ist bisher nicht geschehen. Offenbar ist das nicht im Interesse Russlands.

Etablierte Gremien wie der Arktische Rat könnten in der gegenwärtigen Situation gar an Bedeutung gewinnen. Das sieht auch die Arktisforscherin und UZH-Professorin Gabriela Schaepman-Strub so: «Von neuen Abkommen ist Russland meist nicht zu überzeugen. Bestehende Kooperationen, zu denen Russland nicht aktiv Stellung beziehen muss, können aber noch funktionieren.»

Die Arktisforschung braucht Russland

«Dieser Krieg ist für die Menschen und die Umwelt eine Katastrophe. Wir versuchen, den Schaden für die Wissenschaft möglichst zu begrenzen, aber sogar das ist schwierig», sagt Schaepman-Strub. Die Hälfte der Arktis aus der Arktisforschung auszuschliessen, ist allerdings schlicht nicht möglich.

Derweil schwindet für die russischen Forschenden die Unterstützung von allen Seiten. Kontakte brechen ab, die Teilnahme an internationalen Projekten ist kaum mehr möglich. Einem Kollegen sei schon zweimal der Lohn gekürzt worden, erzählt Schaepman-Strub, «früher hat er damit noch Assistierende bezahlt, heute reicht es kaum noch für die eigene Familie». Anscheinend gibt es bald nur noch zwei Möglichkeiten für viele russische Wissenschafter: entweder die Wissenschaft oder Russland zu verlassen. Mit unabsehbaren Folgen für die Arktisforschung – und die Welt.

Brigitte Wenger, «Neue Zürcher Zeitung» (09.04.2024)

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Dieser Artikel behandelt folgende SDGs

Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.

13 - Massnahmen zum Klimaschutz
15 - Leben an Land
17 - Partnerschaften zur Erreichung der Ziele

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