Nehmen wir an, es gibt einen Ort, der über die Zukunft der Erde mitentscheidet. Darüber, ob wir hier in Europa weiterhin Weintrauben anbauen, ob Entwicklungsländer im Süden bewohnbar bleiben, ob Inseln im Pazifik untergehen. Nehmen wir an, wir kennen diesen Ort und wissen genau, wie wichtig er ist. Aber er entzieht sich uns.
Unmöglich? Nein. Eine Tatsache.
Die Arktis ist ein solcher Ort. Sie erwärmt sich dreimal so schnell wie der Rest der Welt, der abschmelzende Eisschild von Grönland lässt den Meeresspiegel ansteigen, und mit dem Auftauen des Permafrosts im arktischen Boden gelangen die Treibhausgase Kohlendioxid und Methan in die Luft, was die Erderwärmung zusätzlich beschleunigt. Die Kälte, die fehlt, und das Süsswasser, das aus den Gletschern ins Meer fliesst, sorgen dafür, dass sich Meeresströmungen verändern – und die Welt damit ihr Aussehen.
In der Arktis spielen sich also rasche, teilweise unumkehrbare Prozesse ab, die den Rest der Erde stark beeinflussen können. Nur wenn wir verstehen, was in der Arktis geschieht, können wir die Folgen für die Erde vorhersagen und rechtzeitig davor warnen.
Doch wie soll das möglich sein, wenn seit dem Krieg Russlands in der Ukraine und den damit verbundenen Sanktionen gegen Russland die Hälfte der arktischen Landmasse und mehr als die Hälfte der arktischen Küste für internationale Forschende nicht mehr zugänglich sind?
Der Hotspot wird zum blinden Fleck
«Towards an increasingly biased view on Arctic change» – hin zu einer zunehmend verzerrten Sicht auf den arktischen Wandel, so lautet der Titel einer Studie, die kürzlich im Wissenschaftsmagazin «Nature» veröffentlicht wurde.
Die Arktis wird also zum blinden Fleck. «Das unterschreibe ich sofort», sagt Gabriela Schaepman-Strub, Professorin für Erdwissenschaft an der Universität Zürich, «die russischen Daten, die uns seit dem Krieg fehlen, sind ein Riesenverlust für die Arktisforschung.»
Schaepman-Strub hat ab 2008 jeden Sommer in Sibirien in der russischen Arktis verbracht. Mit ihrem Team erforscht sie die arktische Biodiversität und die Auswirkungen von Niederschlag und Trockenheit auf Boden, Pflanzen und Permafrost. Als Russland im Februar 2022 die Ukraine angriff, war ihr sofort klar, dass die Zusammenarbeit mit ihren russischen Kollegen sehr schwierig werden würde. 2022 und 2023 konnte sie nicht nach Russland reisen, konnte keine Sensoren reparieren, keine Daten sammeln.
Ein sehr bedeutender Anteil des Permafrosts liege in Russland, sagt sie. «Wenn wir nicht wissen, wie viel Kohlenstoff beim Auftauen in die Atmosphäre gelangt, sind unsere Vorhersagen ungenau und damit eine der Entscheidungsgrundlagen der Klimapolitik.»
Für viele Menschen war die Corona-Pandemie ein Einschnitt in ihr Leben. Für Schaepman-Strub war es dieser Krieg. Überrascht hat er sie allerdings nicht. Ihre russischen Forscherkollegen seien über die Jahre zu Freunden geworden, im persönlichen Kontakt – auch zwischen den E-Mail-Zeilen – habe sie die zunehmende Repression schon zuvor gespürt. Lohnkürzungen, neue Gesetze, Verbot von Nichtregierungsorganisationen. Solche Dinge.
Um ihre russischen Kollegen zu schützen, bleibt Gabriela Schaepman-Strub oft bewusst vage. Auch im Gespräch für diesen Text. «Wir versuchen weiterhin, uns informell auszutauschen», sagt sie. Individuell, nicht institutionell. Was genau ausgetauscht werden darf und was nicht, ist nicht ganz klar. Elektronische Daten und Geld nicht, wissenschaftliche Artikel, an denen gemeinsam gearbeitet wird, schon. Sie müsse sich darauf verlassen, dass ihre russischen Kontakte wüssten, worüber sie sprechen könnten.
«Mir geht es – ausser um die Daten – insbesondere darum, die russischen Forschenden zu ermuntern, weiterzuarbeiten», sagt Schaepman-Strub. «Wenn wir jetzt den persönlichen Kontakt verlieren, ist es später enorm schwierig, diesen wieder aufzubauen.» Für sie ist aber klar, dass sie selbst sich anderweitig orientieren muss. Es brauche Überwindung, sich von der russischen Arktis abzuwenden. Bisher habe sie es nicht geschafft. Für 2025 ist Kanada geplant.
Der blinde Fleck verursacht eine grosse Ungenauigkeit
Die bereits erwähnte «Nature»-Studie, die vor einem verzerrten Blick auf den arktischen Wandel und vor dem blinden Fleck warnt, bezieht sich auf Interact, ein internationales Netzwerk für landgestützte Forschung und Messungen in der Arktis. Es ist das grösste Netzwerk von Forschungsstationen in der Region.