So genannte Gletscherläufe (GLOFs) sind eine der grössten, aber wenig bekannten Gefahren, die in Bergregionen lauern, sagte Hou nach der Vorführung des SRF-Dokumentarfilms «Expedition ins Innere eines Gletschers» am Global Science Film Festival in Basel.
«Solche Katastrophen gibt es schon seit Jahrhunderten. Aber in den letzten Jahren haben sie in dramatischer und katastrophaler Weise die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Wissenschaft auf sich gezogen», sagt Hou, der an der Shanghai Jiao Tong Universität in China eine Professur für Eis und globalen Wandel innehat.
Obwohl diese plötzlich auftretenden Ereignisse Millionen von Menschen bedrohen, sind sie noch nicht gut erforscht. Und Vorhersagen bleiben höchst spekulativ. Dennoch lernen Forschende in der Schweiz und anderswo mehr und mehr über diese Gefahren.
«Tsunamis im Himmel»
Die Ursachen für Gletscherläufe sind im Prinzip bekannt: Durch den Klimawandel und den Rückzug der Gletscher bilden sich Seen hinter natürlichen Dämmen. Diese Dämme können überlaufen oder brechen und ohne Vorwarnung riesige Mengen an Schmelzwasser freisetzen. Das Entwicklungsprogramm der Vereinten Nationen spricht von «Tsunamis im Himmel».
Aber warum ist es so schwierig, solche Ereignisse vorherzusagen? Laut Caroline Taylor, Doktorandin an der Universität Newcastle, die vor kurzem die globale Bedrohung durch GLOFs untersucht hat, gibt es einfach zu viele Variablen. Dass also «keine zwei Ausbrüche jemals gleich sind».
Die Erstellung eines einzigen Vorhersagemodells ist, wie bei anderen Naturkatastrophen auch, äusserst schwierig. Forschende würden Ereignisse und entsprechende Vorwarnungen übersehen, wenn bestimmte Kriterien gegenüber anderen bevorzugt würden, sagt sie.
In einer im Februar veröffentlichten Studie hat Taylor mit Kolleginnen und Kollegen das potenzielle Risiko kartiert. Sie kamen zum Ergebnis, dass weltweit 15 Millionen Menschen den Auswirkungen möglicher GLOFs ausgesetzt sein könnten. Mehr als die Hälfte von ihnen lebt in Indien, Pakistan, China und Peru.
Die am meisten gefährdeten Regionen sind der Himalaya und die Anden. Die Schweiz hat unter den 30 untersuchten Ländern nach Neuseeland das zweitgeringste Risiko. Dennoch könnten rund 700'000 Menschen in der Schweiz von einem GLOF und seinen Auswirkungen betroffen sein.
GLOFs treten seit Hunderten von Jahren auf, zumindest wird schon so lange über sie berichtet. Aber selbst die Schweiz, ein Land mit grosser Erfahrung in der Gletscherdynamik und der Modellierung und Überwachung von GLOFs, kann eine Katastrophe nicht vollständig verhindern.
«Es ist eine Illusion, eine einheitliche Strategie finden zu wollen», sagt Mauro Werder, Glaziologe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule ETH Zürich. Die grösste Herausforderung bestehe darin, dass die bestehenden Technologien Veränderungen im Kanalsystem eines Gletschers nicht genau messen könnten.
Es gibt unzählige sehr kleine Risse in einem Gletscher oder an der Grenzfläche zwischen Eis und Fels, die sich ständig entwickeln und bewegen und so zur Bildung von Gletscherseen beitragen, sagt Werder. Die Forschenden können nur eine allgemeine Tendenz erkennen, sagt er, aber sie wissen nicht, ob diese Risse winzig bleiben oder mehrere Meter gross werden.
Es ist auch nicht bekannt, ob das Schmelzwasser langsam durch die Risse abfliesst oder sich schnell ansammelt, bis ein kritisches Volumen erreicht ist, das zu einem GLOF führt. «Vielleicht wird es nie passieren, vielleicht einmal oder mehrmals», sagt er.
Teure Experimente
Im Jahr 2008 wurde in den Berner Alpen ein 15 Millionen Franken teurer Tunnel gebaut, um den Schmelzwassersee des Unteren Grindelwaldgletschers zu entwässern. Leider, so Werder, funktionierte der Tunnel nur ein paar Jahre lang und verlor dann seine Wirkung, weil sich der Gletscher noch schneller als erwartet zurückzog.
Die SRF-Einstein-Doku «Expedition ins Innere eines Gletschers» zeigt ein weiteres ambitioniertes Schweizer Experiment: Im Jahr 2019 haben die lokalen Behörden einen Entwässerungstunnel durch den Plaine-Morte-Gletscher gebaut. Dieser Eisgigant erstreckt sich zwischen den Kantonen Bern und Wallis und sammelt jeden Sommer über eine Milliarde Liter Schmelzwasser an.
Der Tunnel entwässert einen der Gletscherseen künstlich und soll das GLOF-Risiko für das darunter liegende Dorf Lenk mindern. Die örtlichen Behörden stellten das tatsächliche GLOF-Risiko in Frage und warfen die Frage auf, ob ein Tunnel der kostengünstigste Ansatz ist. Dies, obwohl das Projekt von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft WSL wissenschaftlich begleitetExterner Link wurde.
Der chinesische Glaziologe Hou sagt, dass solche Massnahmen nicht nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip bewertet und validiert werden sollten, da es keine «Einheitslösung» gibt. Jede Abschwächungsmassnahme könne eine vorübergehende Wirkung haben, sei aber notwendig.
Die «Expedition ins Innere eines Gletschers» führt die Zuschauerinnen und Zuschauer in den Plaine-Morte-Gletscher, wo der Entwässerungstunnel gebaut wird.
Viele Gletscher werden nicht überwacht
Hou betont, dass sich die Wissenschaft in einem Punkt einig ist: Es ist sehr wahrscheinlich, dass Gletscherseen an Grösse und Anzahl zunehmen werden und es bei zunehmend wärmerem und feuchterem Klima häufiger zu Überschwemmungen kommen wird.
Laut Doktorandin Taylor werden in den kommenden Jahren mehr Menschen von solchen Ereignissen betroffen sein, wenn die Bevölkerung in der Nähe von Gletscherseen weiter wächst und keine Schutzmassnahmen ergriffen werden.
In der Schweiz, wo die Gletscherseen gut zugänglich sind, ist es viel einfacher, die Situation zu überwachen, als in viel grösseren Ländern wie China oder Indien. Dort sind die Seen oft isoliert und nur umständlich zu erreichen. Auch geopolitische Spannungen stehen oft im Weg.
Taylor sieht hier jedoch Fortschritte, da die GLOF-Überwachung die Grenzen überschreitet und Informationen zwischen Ländern wie Indien und Bhutan mittlerweile ausgetauscht werden, in denen es früher an Kommunikation und Datenaustausch mangelte. «Die Dinge bewegen sich in die richtige Richtung», sagt sie.