Bergsturz von Blatten: Hatte der Klimawandel einen Einfluss?
Kleinere Felsstürze nehmen in den Alpen zu, und das wird auch der globalen Erwärmung zugeschrieben. Sechs Fragen und Antworten zu dem speziellen Fall im Lötschental.
1
Aufnahme des Birchgletschers vom 29. Mai 2025. Bild: Reuters
Kleinere Felsstürze nehmen in den Alpen zu, und das wird auch der globalen Erwärmung zugeschrieben. Sechs Fragen und Antworten zu dem speziellen Fall im Lötschental.
1
4 Min. • • Sven Titz, Kalina Oroschakoff, «Neue Zürcher Zeitung»
Inhaltsverzeichnis
1. Spielte der Klimawandel eine Rolle bei den Ereignissen in Blatten?
2. Nehmen Bergstürze in den Alpen denn zu?
3. Wie steht es um andere Gefahren in den Bergen? Nimmt auch die Zahl der Murgänge oder der Eis- und Schneelawinen zu?
4. Hat der tauende Permafrost eine Rolle gespielt?
5. Drohte der Birchgletscher schon vorher abzustürzen?
6. Welche natürlichen Prozesse haben neben dem Klimawandel eine Rolle gespielt?
Spielte der Klimawandel eine Rolle bei den Ereignissen in Blatten?
Ja und nein. Die Frage sei bei einem einzelnen Ereignis wie in Blatten sehr schwer zu beantworten, erklären Fachleute.
Grundsätzlich steht fest, dass der Klimawandel grosse Veränderungen im Hochgebirge mit sich bringt. Das ist sowohl am Gletscherrückzug zu erkennen als auch am tauenden Permafrost und daran, dass sich die Schneeverhältnisse verändern. In hohen Lagen fällt immer öfter Regen statt Schnee, gleichzeitig hat die Eisschmelze im Frühjahr zugenommen. All diese Faktoren verändern die Gefahrensituation in den Bergen, und teilweise verringern sie auch die Stabilität von Felswänden.
Bergstürze in der Grössenordnung desjenigen von Blatten sind aber seltene Ereignisse, was allein schon die statistische Auswertung erschwert. Und in diesem Fall handelt es sich noch dazu um einen sehr speziellen Bergsturz: Eine Gesteinslawine vom Kleinen Nesthorn löste den Abbruch des Birchgletschers aus. Das Gemisch aus Gestein und Eis rutschte anschliessend in die Tiefe, verschüttete das Dorf Blatten und staute die Lonza auf. Ob es in den Alpen jemals zuvor eine derartige Konstellation gegeben hat, ist nicht klar.
Dass der Klimawandel einen Einfluss auf Bergstürze und auf Gletscher ausübt, dürfte kaum eine Forscherin und kaum ein Forscher bezweifeln. Wie dieser Einfluss bei Blatten genau aussah, werden gründliche wissenschaftliche Analysen zeigen müssen.
Nehmen Bergstürze in den Alpen denn zu?
Die Häufigkeit von Felsstürzen und grösseren Abbrüchen oder Rutschungen in den Alpen wird seit Jahrzehnten aufgezeichnet. Kleinere Ereignisse mit einem Gesteinsvolumen unter einer Million Kubikmeter haben in der Tat zugenommen. Der Klimawandel ist in diesem Zusammenhang ein wichtiger Antriebsfaktor.
Es ist aber gegenwärtig unklar, ob auch Ereignisse mit einem Volumen von mehr als einer Million Kubikmeter häufiger geworden sind. Solange eine solche Zunahme nicht statistisch sauber nachgewiesen ist, zögern Wissenschafter, eine Ursache für die mutmassliche Zunahme grosser Bergstürze zu benennen.
Wie steht es um andere Gefahren in den Bergen? Nimmt auch die Zahl der Murgänge oder der Eis- und Schneelawinen zu?
Der Klimawandel wirkt sich auf verschiedene Risiken im Gebirge unterschiedlich aus. Nicht überall wachsen die Gefahren. Der Zusammenhang zwischen dem Klimawandel und Steinschlag, Felsstürzen und Murgängen ist komplex. Vieles deute darauf hin, dass diese Gefahren generell zunähmen, aber nicht alle und überall, schreibt etwa der Klimaforscher Reto Knutti von der ETH Zürich.
Die Zahl der Starkniederschläge, die Murgänge auslösen können, hat zugenommen. Durch vermehrten Steinschlag und den Gletscherrückzug gibt es auch mehr Material, das durch starke Niederschläge oder eine kräftige Schneeschmelze mobilisiert werden kann. Gleichzeitig werden mit dem Schwinden der Gletscher die Eislawinen seltener. In niedrigen Höhenlagen gehen Lawinen zurück, weil dort die Schneemengen abnehmen.
Hat der tauende Permafrost eine Rolle gespielt?
Eine Steilwand über dem Birchgletscher gehört zum ursprünglich 3341 Meter hohen Kleinen Nesthorn, dessen Gipfelregion sich im Bereich des Permafrosts befindet. Im Wallis liegt die Grenze des Permafrosts bei einer Höhe von ungefähr 2500 Metern. Das bedeutet, dass das Wasser im Gestein des Kleinen Nesthorns ganzjährig gefroren ist.
Der Klimawandel führt dazu, dass die Permafrostgrenze langfristig steigt. Wo der Permafrost taut, können Gesteinspartien instabil werden. Zum Beispiel kann das Eis in den Spalten dann im Sommer schmelzen und anschliessend wieder gefrieren. Dabei dehnt es sich aus und sprengt auf diese Weise das Gestein.
Die betreffende Steilwand des Kleinen Nesthorns befindet sich allerdings mehr als 500 Meter über der Permafrostgrenze, und sie zeigt Richtung Norden. Es ist daher unklar, wie stark sie bereits vom Auftauen des Permafrosts betroffen war, als die ersten Felsstürze den Bergsturz von Blatten einleiteten.
Drohte der Birchgletscher schon vorher abzustürzen?
Vor dem Bergsturz hatte sich der Birchgletscher immer schneller bewegt: Seine Gletscherfront war seit 2019 um ungefähr 50 Meter in Richtung Tal gewandert – eine Ausnahmeerscheinung in der Schweiz. Es ist sehr plausibel, dass diese Beschleunigung von Felsstürzen vom Kleinen Nesthorn auf den Gletscher begünstigt wurde, denn der Schutt übte einen grossen zusätzlichen Druck auf das Eis aus. Gleichzeitig schrumpfte das Volumen des Birchgletschers.
Diese Veränderungen des Birchgletschers könnten auch das Kleine Nesthorn beeinflusst haben: Womöglich hat das langsame Wegrutschen des Gletschers die Steilwand instabiler gemacht. Vielleicht wäre die Lawine aus Gestein und Eis ohne die spezielle Vorgeschichte des Gletschers erst später abgegangen und weniger zerstörerisch geworden. Nachgewiesen sind diese Kausalbeziehungen jedoch noch nicht.
Neun Millionen Kubikmeter Gestein und Eis begruben Ende Mai das Dorf Blatten. Bild: Reuters
Welche natürlichen Prozesse haben neben dem Klimawandel eine Rolle gespielt?
Die Alpen sind wie andere Gebirge auch der Erosion unterworfen. Die Kollision von Erdplatten hat bewirkt, dass sich das Gebirge zwischen Italien und Mitteleuropa aufgetürmt hat. Chemische und physikalische Prozesse der Erosion führen hingegen zum Zerfall der Alpengipfel. Das Kleine Nesthorn zum Beispiel besteht nicht aus massivem Granit, sondern aus durch Verwitterung relativ stark zerbrochenem Gestein.
Felsstürze und Bergstürze sind also ein wesentlicher Teil des natürlichen Geschehens im Hochgebirge. Der Klimawandel verändert nun die Häufigkeit und den konkreten Verlauf von Bergstürzen in den Schweizer Alpen. Eindeutige Kausalbeziehungen zwischen dem Klimawandel und einem einzelnen Ereignis wie demjenigen bei Blatten zu belegen, bleibt aber aus wissenschaftlicher Sicht oft noch schwierig.
Sven Titz, Kalina Oroschakoff, «Neue Zürcher Zeitung» (04.06.2025)
Hier publiziert Sustainable Switzerland exklusiv kuratierte Inhalte aus Medien der NZZ. Abonnemente der NZZ entdecken.
Dieser Artikel behandelt folgende SDGs
Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.
Werbung
Gesellschaft
Die Kraft neuer Gewohnheiten: Wie soziale Innovationen unseren Alltag verändern können4 Min. •
9
Wieso der Thwaites-Gletscher in der Antarktis für den Klimawandel ein entscheidender Kipp-Punkt sein könnte
3 Min.
6
Wenn die Eisriesen schmelzen
3 Min.
9
Überschwemmungen durch Gletscherwasser: Können sie verhindert werden und wie?
5 Min.
1