Seit 2017 ist viel passiert. Statt Facebook nutzen viele Menschen heute andere Kanäle häufiger, etwa WhatsApp oder Telegram. Auf zweifelhafte Informationen über den Brexit folgte eine Phase der zweifelhaften Informationen über die Corona-Pandemie, die sich online verbreitet haben. Auf diese folgten zweifelhafte Informationen über die russische Invasion in der Ukraine.
Doch nicht nur die Themen haben sich geändert: Es gibt auch mehr Forschung.
Die USA als «das vulnerabelste Land" für Desinformation
Die Sozialen Medien wirken – anders als Radio und Fernsehen – losgelöst von Staatsgrenzen. Sie sind global. Entsprechend liegt der Schluss nahe: Wenn die Sozialen Medien Fake News, Desinformation und Polarisierung antreiben, tun sie das überall auf der Welt gleich. Aber so ist es nicht.
Es gibt Länder und Regionen, die gegenüber Online-Desinformation schutzloser sind als anderes. Besonders ausgeliefert sind die USA.
Die 2020 veröffentlichte Studie «Resilience to Online Disinformation: A Framework for Cross-National Comparative Research" hat verschiedene europäische Länder und die USA angeschaut. Die USA wird dabei von einem Team um die Kommunikationswissenschaftlerin Edda Humprecht als Sonderfall im Bezug auf Online-Desinformation beschrieben.
Die Gründe dafür sind wirtschaftlich und strukturell: «Das Land sticht heraus durch seinen grossen Werbemarkt, seine schwachen öffentlich-rechtlichen Medien und den im Vergleich fragmentierte Newskonsum.» Durch die Grösse des Werbemarkts ist es attraktiv Fake News an die Social Media-Nutzer:innen dort zu leiten. Die Studie kommt zum Schluss, dass die USA «das vulnerabelste Land» für Verbreitung von Online-Desinformation ist.
Wer informiert sich in den Sozialen Medien?
Die Entwicklungen der letzten Jahre haben international aber zu einem stärkeren Bewusstsein für Online-Desinformation bei vielen Menschen geführt. Gemäss dem Reuters Digital News Report 2023 informieren sich nur noch 17% komplett unbekümmert via Social Media – die anderen sind besorgt, dass sie wichtige Infos verpassen oder in ihrer Meinung zu wenig herausgefordert werden.
Weiterhin nutzen viele die Sozialen Medien für Nachrichten, aber in manchen Ländern ist der Anteil kleiner geworden: In der Schweiz informierte sich 2018 jede:r Zweite:r über die Sozialen Medien – 2023 sind es noch 39%. Die USA erreichte den bisherigen Rekordanteil von 51% bereits 2017; 2022 waren es noch 42%.
Höhere Werte gibt es in vielen afrikanischen Ländern. In Nigeria nutzen gegenwärtig 78% die Sozialen Medien als News-Quelle.
Für die politische Meinungsbildung waren die Sozialen Medien in der Schweiz ohnehin noch nie das entscheidende Medium: So ist das Fachbuch «Digitalisierung der Schweizer Demokratie» 2021 zum Befund gekommen, dass «die sozialen Medien von einer klaren Mehrheit der Schweizer Stimmbürgerinnen und Stimmbürger im Vorfeld von Wahlen und Abstimmungen nicht zur Meinungsbildung konsultiert» werden.
Als Informationsquelle zur Politik in der Schweiz sind Radio, Fernsehen und Zeitungen bis heute wichtiger. Ihnen wird auch stärker vertraut.
Tobias Keller, Medien- und Politikwissenschaftler bei gfs.Bern, der an diesem Fachbuch «Digitalisierung» mitgearbeitet hat, nennt gegenüber SWI swissinfo.ch einige Faktoren, die die Situation in der Schweiz von jener in den USA und in Brasilien unterscheiden. Die reichweitenstarken Medien in den USA sind «deutlich politischer gefärbt als in der Schweiz – und die Sozialen Medien befeuern politisch-gefärbte Sichtweisen». In Brasilien wiederum sind WhatsApp und Telegram «sehr wichtige Informationskanäle». Einseitige oder falsche Informationen werden in dieser Halböffentlichkeit selten aufgeklärt.
Das Zusammenspiel aus öffentlich-rechtlichen und privaten Medien, sowie das Mehrparteiensystem mit seiner konsensorientierten Politik sind laut Keller Faktoren, warum die Schweiz im internationalen Vergleich resilienter gegen Polarisierung und Populismus im Netz ist.
«Das Vertrauen ins politische System und die Organe ist in der Schweiz schon fast traditionell deutlich grösser und stabiler als im Ausland. Und die direkte Demokratie wird als Korrektiv sehr geschätzt – anstelle von Faust im Sack oder auf der Strasse, wie es dann halt in indirekten Systemen eher geschieht», findet Keller.