Ja, Insekten sind bedroht – aber sie sind auch Künstler des Überlebens
Um die Insekten ist es schlecht bestellt, und doch gibt es auch positive Entwicklungen. Wie eine emotional geführte Debatte über Biodiversität endlich sachlich wird.
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Um die Insekten ist es schlecht bestellt, und doch gibt es auch positive Entwicklungen. Wie eine emotional geführte Debatte über Biodiversität endlich sachlich wird.
6 Min. • • Patrick Imhasly, «NZZ am Sonntag»
Es sieht nicht gut aus für die Insekten hierzulande. Zu diesem Schluss ist diese Woche ein Bericht des Forums Biodiversität der Akademie der Naturwissenschaften Schweiz gekommen. Expertinnen und Experten haben alles verfügbare Wissen über die sechsbeinigen Tiere in unserem Land analysiert, die als Bestäuber in Landwirtschaft und Gärten, als Verbreiter von Samen oder als Zersetzer von organischem Material und Pfleger der natürlichen Böden eine zentrale ökologische Rolle spielen.
Die Situation der Insekten sei «besorgniserregend», so die Fachleute. Bei vielen von ihnen seien die Bestände inzwischen auf einem «bedenklich tiefen Niveau angelangt». Festgemacht wird dieser Befund insbesondere an den Daten der Roten Listen. Sie enthalten Erhebungen zur Bestandesentwicklung von 1153 Insektenarten. Rund 60 Prozent von ihnen gelten als gefährdet oder potenziell gefährdet, 38 Arten sind aus der Schweiz verschwunden.
Das tönt dramatisch, doch man muss den Fachleuten zugute halten, dass sie um Differenzierung bemüht sind. Sie legen zum Beispiel offen, wo die Lücken des Wissens sind. In der Schweiz sind rund 30 000 verschiedene Insektenarten bekannt, vermutet werden aber bis zu 60 000. Das bedeutet: Detaillierte Angaben zur Vielfalt und zur langfristigen Entwicklung auf Roten Listen existieren nur für einen Bruchteil aller Insektenarten
Und es gibt auch positive Beispiele. Wärmeliebende Arten und Generalisten wie der Malven-Dickkopffalter haben sich ausgebreitet. Von den in der Schweiz nachgewiesenen 625 Wildbienenarten sind laut dem Bericht 60 «sicher oder wahrscheinlich» verschwunden. Diesem «massiven Verlust» stehen aber 13 Arten gegenüber, die seit 2000 wahrscheinlich wegen der Klimaerwärmung zumindest in die Grenzregionen zu Italien und Frankreich eingewandert sind.
Zurück zur Sachlichkeit
Keine Frage: Der Verlust an Lebensraum, der grossflächige Einsatz von Dünger, Pestiziden und schweren Maschinen in der Landwirtschaft, die Zersiedlung der Landschaft sowie der Klimawandel setzen die Insekten weltweit unter Druck. Und doch ist die Zeit reif, eine während Jahren höchst emotional geführte Debatte auf den Boden der Sachlichkeit zurückzuholen.
Von einem «Insectageddon» war in den internationalen Medien die Rede – in Anlehnung an eine alles zerstörende Katastrophe. Manche beschrieben den Rückgang der Insekten als «Apokalypse», im britischen «The Guardian» verstieg sich der Kolumnist George Monbiot gar zur Behauptung: «Insectageddon: Die Landwirtschaft ist katastrophaler als der Zusammenbruch des Klimas.»
Doch allein den Medien vorzuwerfen, sie hätten sich in Alarmismus ergangen, greift zu kurz. Dass die Insektendebatte zeitweilig aus dem Ruder gelaufen ist, hat auch mit den Mechanismen der Wissenschaft und dem Überengagement mancher Forscher zu tun.
Begonnen hatte alles 2017 mit einer Studie aus Deutschland («Plos One»). Ehrenamtliche Forscher des Entomologischen Vereins Krefeld bei Düsseldorf hatten in den Jahren 1986 bis 2016 in 63 deutschen Naturschutzgebieten mit sogenannten Malaisefallen Fluginsekten gefangen. Sie wogen die Tiere und stellten fest, dass die Biomasse in den 27 Jahren um volle 75 Prozent zurückgegangen war.
Der erschreckende Befund führte in Deutschland zu erregten Diskussionen bis in die höchsten Sphären der Politik. Dass die Studie mit klar deklarierten Mängeln behaftet war, interessierte nur die wenigsten: Es wurden weder Arten noch ihre relativen Häufigkeiten bestimmt, und an den einzelnen Standorten wurden während der ganzen Zeit nur zwei- oder dreimal, manchmal sogar nur einmal, Erhebungen gemacht.
Zu viel des Guten
Ihren Höhepunkt erreichte die Aufregung, als 2019 Francisco Sánchez-Bayo von der University of Sydney und Kris Wyckhuys von der University of Queensland eine Übersichtsarbeit publizierten, die 71 Studien zum Rückgang der Insekten weltweit analysierte («Biological Conversation»). Sie liessen jegliche wissenschaftliche Zurückhaltung fallen – auch um auf die Dringlichkeit des Problems aufmerksam zu machen, wie sie später einräumten.
Sie beschrieben den Zustand der Insektenvielfalt als «schrecklich». Fast die Hälfte aller Arten gingen schnell zurück, ein Drittel sei vom Aussterben bedroht. «Ändern wir nicht die Art und Weise, wie wir Nahrung produzieren, werden die Insekten als Ganzes in wenigen Jahrzehnten verschwunden sein», erklärten die Biologen.
Das war zu viel des Guten. Andere Forscher wehrten sich und warfen den Australiern vor, sie betrieben schlechte Wissenschaft und diskreditierten damit die Biodiversitätsforschung. Atte Komonen von der University of Jyväskylä in Finnland etwa wies nach, dass die beiden Warner jene Studien selektiv zitierten, die irgendwo auf der Welt einen Rückgang von Insekten festgestellt hatten («Rethinking Ecology»).
Und die Ökologin Manu Sanders von der University of New England erklärte im Sommer 2019 im Fachmagazin «American Scientist»: «Ein weit verbreiteter, konsistenter Rückgang der Insekten stellt ein echtes Problem dar. Die Daten belegen einen Rückgang aber lediglich bei rund 2900 Arten – ein winziger Teil der geschätzten 5 Millionen Insektenarten auf der Erde.»
Wir wüssten viel zu wenig über die Ökologie und die Verbreitung der grossen Mehrheit der Insekten, beklagte Saunders. «Warum gehen manche Arten zurück und andere nehmen zu? Warum geschieht das periodisch? Warum nehmen manche Arten ab und erholen sich dann wieder? Wie beeinflussen fremde Insektenarten ansässige Populationen? Was tragen Insekten zu den verschiedenen Leistungen eines Ökosystems bei? Wenn wir die Insekten retten wollen, müssen wir solche Fragen untersuchen.»
In jüngster Zeit sind eine Reihe hochwertiger Studien zum Sterben der Insekten erschienen. Sie zeigen, dass die Sorgen vieler Entomologinnen und Biodiversitätsforscher berechtigt sind, veranschaulichen aber einmal mehr, wie komplex die Situation ist. Ein internationales Team sammelte in Deutschland von 2008 bis 2017 auf 300 Flächen mehr als eine Million Gliederfüsser, zu denen neben den Insekten auch die Krebstiere oder die Tausendfüssler gehören («Nature»).
Viele der 2700 untersuchten Arten sind rückläufig. Sowohl auf den Wiesen als auch in den Wäldern verminderte sich die Zahl der Arten im Zeitraum von zehn Jahren um einen Drittel, ihre Biomasse ging noch stärker zurück. «Das Verschwinden der Insekten ist so dramatisch wie befürchtet», beklagte danach das Wochenblatt «Die Zeit».
Was nun, ob dieser Widersprüche?
Zu anderen Erkenntnissen gelangte vor einem Jahr eine Metaanalyse, die 166 Langzeitstudien von 1700 Standorten in 41 Ländern auswertete («Science»). Sie stellte fest, dass die Anzahl und die Biomasse der landlebenden Insekten um rund neun Prozent pro Jahrzehnt zurückgegangen sind. Süsswasserinsekten hingegen haben in der gleichen Zeiteinheit um fast elf Prozent zugelegt. In beiden Fällen waren die Unterschiede zwischen verschiedenen, manchmal sogar nahe beieinander liegenden Standorten gross.
Den Rückgang der terrestrischen Insekten erklärte die Analyse mit der weltweit intensivierten Landnutzung, das Aufblühen der Süsswasserarten mit Fortschritten bei der Klärung der Gewässer. Schliesslich stellte im August 2020 eine Studie fest, zumindest in den USA sei unter dem Strich kein Rückgang in der Häufigkeit sowie der Artenvielfalt von Insekten und anderen Gliederfüssern festzustellen («Nature Ecology & Evolution»). Für diese Arbeit wurden 5300 Datensätze ausgewertet, die an manchen Standorten bis zu 36 Jahre lang erhoben worden waren.
Was nun, ob dieser scheinbar widersprüchlichen Erkenntnisse? «In den Biodiversitätsstudien spielt sich etwas Eigenartiges ab», hat kürzlich die renommierte Fachzeitschrift «Nature» festgestellt. Obwohl viele Tier- und Pflanzenarten global betrachtet in alarmierendem Tempo verschwänden, könnten Wissenschafter die Rückgänge auf lokaler Ebene nicht immer nachweisen. «Manche Arten, Populationen und Ökosysteme brechen zusammen, andere verebben langsam, bleiben stabil oder gedeihen sogar.» Doch das sei nicht zwingend eine gute Nachricht.
Einig sind sich die meisten Biodiversitätsforscher darin: Es braucht mehr und noch bessere Daten – vergleichbare Erhebungen an Standorten rund um die Welt, die über längere Zeit durchgeführt werden. Dann werden wir vielleicht eines Tages herausfinden, warum die Arten der Welt seit längerem «einen Sesseltanz» aufführen, wie «Nature» die Lage beschreibt.
Patrick Imhasly, «NZZ am Sonntag» (11.09.2021)
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Dieser Artikel behandelt folgende SDGs
Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.
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