Und damit fällt ein Teil der Argumentation für Kühe in sich zusammen. Denn Getreide, Mais und Soja für die Milchkühe kommen von Feldern in der Schweiz oder anderswo, auf denen auch Getreide, Mais oder Soja für die menschliche Ernährung wachsen könnten.
Zwar ist der Anteil von Kraftfutter niedriger als in anderen Ländern; in Deutschland oder Italien bekommen die Kühe mehr als doppelt so viel davon wie in der Schweiz. Trotzdem sind die Wiederkäuer nun nicht mehr die einzige Möglichkeit, auf sonst landwirtschaftlich nicht nutzbarem Grasland Lebensmittel zu erzeugen. Ihre Fütterung steht in direkter Konkurrenz zur Erzeugung von Nahrung für Menschen.
«Der Bund hat eine grundsätzliche Richtung formuliert, in die das Agrarsystem sich entwickeln soll», sagt Robert Finger, Agrarökonom an der ETH Zürich, bei einem Gespräch in seinem Büro. «Dazu gehören Verbesserungen für die Umwelt. Wenn man die erreichen will, ohne den Selbstversorgungsgrad zu reduzieren, wäre es zielführend, mehr Ackerfläche für die menschliche Ernährung direkt zu nutzen.»
Und dann ist da noch ein Problem. Die Vorstellung vom Alltag der Kühe ist verklärt.
Wer an die Schweiz und ihre Kühe denkt, stellt sich glockenbehängte Tiere auf saftig grünen Hängen vor atemberaubender Alpenkulisse vor, bevorzugt mit einer Hütte aus braunem Holz im Hintergrund, wo ein sonnengegerbter Senn in weissem Leinenhemd und Gilet den ganzen Sommer lang Käselaibe formt.
Das gibt es, plus/minus Leinenhemd und Gilet, durchaus noch. Der Agrarökonom Finger legt eine Grafik auf den Tisch. Sie zeigt: Die Zahl der Grossvieheinheiten – das sind Kühe oder auf das Gewicht einer Kuh umgerechnete Schafe und Ziegen –, die den Sommer auf Bergweiden verbringen, hat sich in den vergangenen 20 Jahren kaum verändert. «Aber es werden auch nicht mehr», schickt er hinterher.
Die Wahrheit ist: Statt auf saftig grünen Hängen vor atemberaubender Alpenkulisse stehen viele Kühe das ganze Leben im Tal. Immer weniger Berghänge werden bewirtschaftet, weder beweidet noch gemäht. In den vergangenen 25 Jahren sind etwa 300 Quadratkilometer aufgegeben worden, eine Fläche von der Grösse des Kantons Schaffhausen. Viele dieser Alpweiden sind schwer zugänglich und zu steil, um sie maschinell zu bearbeiten.
Vor 100 Jahren war das egal, menschliche Arbeitskraft war billig, und jedes Fitzelchen Land musste genutzt werden, sonst gab es nicht genug zu essen. Heute sind die Verhältnisse ganz anders. «Es ist rentabler, die Kühe in den tiefer gelegenen Bergzonen I und II zu halten», sagt Matthias Meier, Umweltwissenschafter von der Berner Fachhochschule, am Telefon. Die Bergweiden, artenreiche Wiesen auf nährstoffarmen Böden, verbuschen. Der Wald breitet sich aus.
Wald klingt erst einmal gut. Aber wenn er eine Alpweide überwächst, bedeutet das: Biodiversität geht verloren.
Die Kühe, die im Bergland fehlen, sind im Tal zu viel. Sie produzieren Unmengen Gülle. Weil sie auf insgesamt zu wenig Fläche stehen, verfetten die Weiden, das heisst, sie bekommen zu viele Nährstoffe, wie Meier erklärt. Zudem wird die Gülle gezielt als Dünger auf die Felder und Wiesen ausgebracht, übrigens auch im Biolandbau. Im Stall versickern Kot und Urin erst gar nicht. Das darin enthaltene Ammoniak gelangt in die Luft und wird auf nährstoffarme Flächen geweht. Die ökologisch wertvollen Pflanzen, denen es dort gutgeht, sterben aus.
Der in Ammoniak enthaltene Stickstoff wandelt sich im Boden durch verschiedene natürliche Prozesse in Nitrat, das das Grundwasser belastet.
2008 beschloss der Schweizer Bundesrat eine Deckelung der Ammoniak-Emissionen. Trotzdem sind sie seitdem kaum gesunken und betragen immer noch 42 000 Tonnen statt der maximal angestrebten Menge von 25 000 Tonnen.
Bei der Verdauung produzieren Kühe Methan, das sie vor allem durch Rülpsen aus dem Körper befördern. Es kursieren Zahlen dazu, wie viel es genau ist, doch sie sind nicht verallgemeinerbar, sondern stark abhängig von Rasse und Haltungssystem.
Zwar gibt es verschiedene praktikable Ansätze, mit Futterzusätzen den Methanausstoss zu verringern, und die «werden auch lebhaft genutzt», wie Finger sagt. Allerdings können sie möglicherweise die Milchmenge verringern, die das Tier gibt. Dann werden pro Liter Milch gar nicht weniger Treibhausgase ausgestossen. Die Idee, den Kuhdung zur Methanreduzierung mit künstlichen Blitzen zu behandeln, hat sich ebenfalls noch nicht durchgesetzt. Der grösste Regler, an dem man drehen kann, bleibt die Zahl der Kühe. Je weniger Kühe, desto weniger Methan wird frei.
Trotzdem ist es für Bauern im derzeitigen System gut, viele Kühe zu halten. Denn Milcherzeugung ist «kein Zuckerschlecken», sondern «viel Arbeit für wenig Geld», wie der Umweltwissenschafter Meier sagt. Wenn die Bauern für ihre Milch mehr Geld bekämen, könnten sie auch von weniger Kühen gut leben.
Weiter wie bisher, das ist ein riskantes Szenario. Die toxische Beziehung hält noch, weil ihr Gift in die Umwelt abfliesst. Langfristig aber entzieht sie sich selbst die Existenzgrundlage.
Die Schweiz ist ein Grasland. Und das finden viele Menschen schön. Die Frage ist: Welchen Preis sind sie bereit, dafür zu zahlen? Und: Könnten sie eine Beziehung ohne Gewalt führen?
Im Jahr 2023 haben die 532 319 Milchkühe in der Schweiz 3,7 Milliarden Kilogramm Milch produziert. Wie viel die Menschen pro Kopf tatsächlich konsumieren, lässt sich nicht ermitteln; Import, Export, Auswärtsessen und weggeworfene Lebensmittel machen jede Rechnung unseriös. Die entscheidende Kennzahl ist das Angebot an Milchprodukten. Diese Menge schwankte in den vergangenen Jahren kaum, Hafermilch-Trend hin oder her.