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Herkulesaufgabe für den Klimaschutz: Der Luft mehr CO2 zu entziehen, wäre nützlich – was aber fehlt, ist ein Patentrezept

Im Projekt Doddington North Afforestation in England sollen 660 000 Bäume gepflanzt werden. Eines der Ziele: die Aufnahme von Kohlendioxid. Dan Kitwood / Getty

Klima & Energie

Herkulesaufgabe für den Klimaschutz: Der Luft mehr CO2 zu entziehen, wäre nützlich – was aber fehlt, ist ein Patentrezept

Die Klimapolitik steht nicht bloss vor der einen grossen Herausforderung, die Emissionen zu senken. Ein Bericht zeigt: Auch auf die CO2-Entnahme aus der Atmosphäre – etwa mit Wäldern oder Filtern – kann man nicht mehr verzichten. Doch die Aufgabe ist enorm.

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Herkulesaufgabe für den Klimaschutz: Der Luft mehr CO2 zu entziehen, wäre nützlich – was aber fehlt, ist ein Patentrezept

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Der Ausstoss von Treibhausgasen, allen voran Kohlendioxid (CO2), müsse dringend gesenkt werden – so lautet das Mantra des Klimaschutzes. Die Verbrennung von Kohle, Öl und Erdgas soll darum so bald wie möglich der Vergangenheit angehören.

Zu diesem «Tanker» der Klimapolitik gesellt sich neuerdings eine Art «Beiboot»: die Entnahme des Treibhausgases CO2 aus der Luft. Dieses Konzept wird zwar noch oft ignoriert, es dürfte aber in Zukunft immer bedeutsamer werden. Fachleute sagen inzwischen sehr klar, dass es zu den notwendigen Schritten, um die Erderwärmung zu bremsen, wesentlich dazugehört. Das gilt ganz besonders für den Fall, dass man den Temperaturanstieg tatsächlich auf unter zwei Grad begrenzen will, wie 2015 in Paris vereinbart.

Zum einen geht die Reduktion der Emissionen viel zu langsam, zum anderen lassen sich Emissionen in manchen Fällen kaum vermeiden, zum Beispiel bei der Zementherstellung oder in der Landwirtschaft. Um den Treibhauseffekt ausreichend zu verringern, muss der Atmosphäre darum im Laufe des 21. Jahrhunderts zunehmend Kohlendioxid entzogen werden.

Die CO2-Entnahme müsste erheblich wachsen

Das Engagement für die CO2-Entnahme ist derzeit aber nicht einmal annähernd so gross, wie es eigentlich sein müsste. Zwischen Soll und Haben klafft eine geradezu gigantische Lücke. Das geht aus einem Bericht zum Stand der CO2-Entnahme-Technologien hervor, der am heutigen Donnerstag erschienen ist. 26 Fachleute haben daran mitgewirkt. Es handelt sich um den ersten Bericht seiner Art. Geleitet wurde das Vorhaben von der Smith School of Enterprise and the Environment an der University of Oxford.

Der Status quo sieht äusserst bescheiden aus: Im Jahr 2020 wurden rund zwei Milliarden Tonnen CO2 aus der Luft entfernt. Dem standen global weit mehr als 30 Milliarden Tonnen an CO2-Emissionen gegenüber.

Wie lässt sich das Zwei-Grad-Ziel da noch einhalten? Die Wissenschafter analysierten dazu eine Reihe von Szenarien. Im Mittel über diese Szenarien müsste die CO2-Entnahme bis 2030 um die Hälfte gesteigert werden – also um eine Milliarde Tonnen CO2 pro Jahr. Und im Jahr 2050 müssten sogar fünf Milliarden Tonnen mehr CO2 der Luft entzogen werden, als dies heute der Fall ist.

Aufforstung und Vernässung ist nicht alles

Die Frage ist natürlich, wie das konkret funktionieren soll. Die derzeit eingesetzten Methoden zur CO2-Beseitigung sind im Wesentlichen konventioneller Art und stützen sich auf das Land: Die Aufforstung zählt ebenso dazu wie die nachhaltige Bewirtschaftung bestehender Wälder, die Renaturierung von Feuchtgebieten und die Speicherung von Kohlenstoff in dauerhaften Holzprodukten.

Es gibt inzwischen aber auch eine ganze Reihe von neuartigen Methoden, um CO2 der Luft zu entziehen. Mehrere Firmen, zum Beispiel Climeworks in der Schweiz, haben chemische Filter entwickelt. Bei der Verwitterung von Gestein wird CO2 gebunden. Das Meer kann mit Eisen gedüngt oder mit Gesteinsmehl versetzt werden. Die Kombination von Bioenergie mit der Abscheidung und Speicherung von Kohlenstoff (Carbon Capture and Storage, kurz CCS) vermag ebenfalls CO2 zu beseitigen. Eine weitere diskutierte Methode ist die Einbringung von Pflanzenkohle in die Erde, um die Böden zu verbessern und dabei Kohlenstoff zu speichern.

Bis anhin werden der Luft mit neuartigen Methoden allerdings erst 2,3 Millionen Tonnen CO2 pro Jahr entzogen – das sind nur 1,1 Promille von der Menge, die man mit konventionellen Methoden beseitigt. Viel zu wenig also. Laut den Autoren des Berichts müsste die CO2-Beseitigung mit neuartigen Methoden bis 2030 um das 30-Fache und bis 2050 sogar um das 1300-Fache zunehmen, wenn man das Zwei-Grad-Limit einhalten will. Es sind atemberaubende Zahlen.

Auch die konventionellen Methoden müssten noch wachsen, bis 2050 allerdings bloss um die Hälfte. Hinter dieser eher mässigen Zunahme steckt das Problem, dass ihr Ausbau an Grenzen stösst: Viele Flächen werden vorrangig für die Landwirtschaft benötigt. Sie können nicht der Aufforstung oder anderen landgestützten Methoden gewidmet werden, ohne erhebliche Konflikte heraufzubeschwören.

Bodenkohlenstoff wird durch landwirtschaftliche Methoden gespeichert.

Quelle: NZZ / svt. Quelle: Smith, S. et al: The State of Carbon Dioxide Removal - 1st Edition (2023)

Bodenkohlenstoff wird durch landwirtschaftliche Methoden gespeichert. Dabei kann der Ertrag gesteigert werden. Darum ist das Preisminimum negativ. Diese Aufstellung enthält nur Methoden, für die es Preisschätzungen gibt.

Die Technologien zur Entnahme müssen hochskaliert werden

Der Politik scheint im Allgemeinen noch überhaupt nicht bewusst zu sein, wie wesentlich die CO2-Entnahme für ihre klimapolitischen Massnahmenpakete ist. Laut dem Bericht haben sich zwar bereits 120 Länder der Erde das Ziel gesetzt, die CO2-Emissionen auf null zu senken, aber die wenigsten haben die Entnahmetechnologien auch nur erwähnt.

«Der Stand von Forschung, Entwicklung und Politik ist hier ähnlich rückständig wie der zu erneuerbaren Energien vor 25 Jahren», sagt der Umweltökonom Jan Minx. Er ist einer der Hauptautoren des Berichts und forscht am Mercator Research Institute on Global Commons and Climate Change in Berlin.

Vor allem die neuartigen Methoden der CO2-Entnahme müssten rasch hochskaliert werden, heisst es in dem Bericht. Je schneller das geschehe, desto grösser sei die Chance, im Laufe des 21. Jahrhunderts nennenswerte Mengen der Atmosphäre zu entziehen und in der Folge auch das Klimaziel von Paris einzuhalten.

Ein Portfolio von Methoden fördern

Noch ist keine einzige neuartige Methode reif für eine Nutzung im industriellen Massstab. Wolle man die CO2-Entfernung auf die Grössenordnung von einer Milliarde Tonnen ausweiten, sei das mit erheblichen Unsicherheiten verbunden, meint Gregory Nemet von der University of Wisconsin-Madison, einer der Autoren. Das betreffe die Kosten, den Ressourcenbedarf und die Geschwindigkeit der Ausweitung ebenso wie die Folgen für die Ökosysteme. Viele Auswirkungen liessen sich ohne Erfahrungen unter realen Arbeitsbedingungen nicht vollständig abschätzen, sie würden sich wahrscheinlich erst in sehr grossem Massstab zeigen. Darum empfiehlt Nemet, ein breites Spektrum von Methoden zu entwickeln.

Je nach Methode wird das CO2 unterschiedlich lange der Atmosphäre entzogen. Die Aufforstung zum Beispiel führt nur zu einer temporären Speicherung; absterbende Bäume zersetzen sich ja irgendwann wieder. Aus Gründen der Transparenz und Preisgestaltung müsse diese Zeitabhängigkeit berücksichtigt werden, wenn man die Methoden zertifizieren wolle, sagt Minx. Die EU habe im vergangenen Jahr bereits einen ersten Schritt in diese Richtung unternommen.

Obwohl die Forderungen nach einer Reduktion immer lauter wurden, ist der Ausstoss an Treibhausgasen jahrzehntelang immer weiter gestiegen. Bei der CO2-Entnahme droht sich dieses Trauerspiel nun zu wiederholen, wenn auch in kleinerem Massstab. Politiker sollten geeignete Rahmenbedingungen für die potenziell enorm hilfreichen Technologien zur CO2-Beseitigung schaffen. Das wäre jedenfalls besser, als sich für eine Förderung mit der Giesskanne zu entscheiden.

Sven Sitz, «Neue Zürcher Zeitung» (19.01.2023)

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