Die Studie von BCG stellt fest, dass die Gesetze hierzulande entweder zu lasch oder nicht existent sind, wenn es um Innovationen im Nachhaltigkeitsbereich geht. Dabei könnte die Schweiz mit gutem Beispiel voranschreiten. Mit Klimaforschungsinstituten wie der ETH Zürich oder EPFL in Lausanne, der höchsten Dichte an Patentanmeldungen weltweit und potenten Finanzströmen sollte das Land eigentlich dazu prädestiniert sein, eine Vorreiterrolle zu übernehmen. «Was macht denn schon ein Anteil von 0,1 Prozent globalen Treibhausgasemissionen aus?», mag sich manche:r fragen. Wir würden ja ohnehin kaum Einfluss nehmen. In Wahrheit schütten wir bis zu 29-mal mehr Schadstoffe aus. Wenn man die Emissionen vom Flugverkehr, aus Wertschöpfungsketten wie zum Beispiel der Produktion von Importgütern und Finanzströmen mitrechnet, so summieren sich die Emissionen zu knapp 3 Prozent.
Pariser Abkommen: Jedes Land schaut für sich
Im Zuge des Pariser Klimaabkommens ist es jedoch so angedacht, nur die inländischen Emissionen zu betrachten, denn alle tragen hier die Eigenverantwortung. Wird beispielsweise ein Tesla, der auf Zürichs Strassen rollt, in Berlin hergestellt, fällt die Produktion des Fahrzeugs nicht in die nationale Klimabilanz. Die 193 UNO-Mitgliedstatten, die das Abkommen unterzeichneten, streben gemeinsam die Reduktion der Treibhausgasemissionen an – jedes Land für sich.
Weil die Schweiz mit den derzeitigen Massnahmen dieses Ziel nicht erreicht, hat BCG in ihrer Studie Lösungsansätze entwickelt. Die untersuchten Wirtschaftssektoren Verkehr, Gebäude, Industrie und Landwirtschaft sind allein für 90 Prozent der gesamten inländischen Emissionen verantwortlich, darum gilt es hier anzusetzen (siehe Tabelle unten).
Im Energie-Sektor braucht es hingegen mehr Leistung
Die Dekarbonisierung dieser Sektoren hat einen direkten Einfluss auf die Stromnachfrage. Damit mehr Elektroautos auf den Markt kommen, wir mit Wärmepumpen heizen und weiterhin produzieren können, wird bis 2030 rund 30 Prozent mehr Energie aus erneuerbaren Quellen benötigt. Über 90 Prozent des Schweizer Stroms wird bereits aus Wasser- oder Kernkraftwerken gewonnen, weitere 5 Prozent aus Photovoltaik- oder Windanlagen. Daher ist der Energiesektor fast dekarbonisiert. Um die Transitionsphase in eine klimaneutrale Zukunft zu gestalten, braucht es jedoch mehr Energie. Die Kapazitäten müssen rasch ausgebaut werden – aber wie?
Die Mehrinvestition zur Stärkung des Energiesektors würde sich laut BCG-Studie von heute bis zum Jahr 2030 auf rund 50 Milliarden Franken belaufen. Im Vergleich: Eine Woche Stromausfall käme uns doppelt so teuer zu stehen – die derzeit laufende Energiesparkampagne des Bundes rechnet damit, dass sich der Schaden in knapp sieben Tagen auf etwa 100 Milliarden Franken belaufen würde. Insgesamt rechnet BCG aus, dass eine Mehrinvestition in alle Sektoren rund 140 Milliarden Franken beträgt, dann aber die Dekarbonisierung auf dem linearen Absenkungspfad erreicht werden kann.
«Gefragt ist ein nationales Infrastrukturprogramm», stellt BCG fest. Würde man beispielsweise das Schienennetz weiterentwickeln und gleichzeitig Ladestationen für Elektrofahrzeuge bauen, liessen sich die Verkehrsemissionen stark senken. Durch den koordinierten Ausbau von Photovoltaik- und Windkraftanlagen, Pumpspeicherkraftwerken und dem Stromnetz müssten wir uns also auch während einer Energiekrise weniger fürchten. Die Nutzungsdauer der geplanten Infrastrukturprojekte würde bis zu 40 Jahre lang anhalten – ein lohnendes Investment. Neben finanziellen Mitteln braucht es aber vor allem einen politischen Rahmen, der Fortschritt und Innovation fördert. «Gebäude und Verkehr sind die am einfachsten zu dekarbonisierenden Sektoren, da die Technologien dafür bereits vorhanden sind. Es fehlen lediglich Rahmenbedingungen und Anreizsysteme», sagt Reto Knutti, Klimawissenschaftler der ETH Zürich, der auch für die BCG-Studie befragt wurde.
Ein konkretes Beispiel: Muss man heute ab Baueingabe für einen Windpark rund 15 Jahre warten, bis das erste Windrad aufgestellt wird, könnte das künftig viel schneller gehen – um auch im Winter die Stromversorgung sicherzustellen. Denn von Oktober bis März können Photovoltaikanlagen nämlich nicht genug Energie produzieren, Windkraft hingegen schon. «Für den Bau von Windparks in der Schweiz gibt es zwei grosse Hindernisse. Erstens sind die Bewilligungs- und Einspracheverfahren langwierig, was es fast unmöglich macht, neue Projekte zu entwickeln», erklärt Margarita Aleksieva, Head of Business Unit Wind and Solar bei der BKW. «Zweitens müssen sich die endgültigen Baugenehmigungen auf Randbedingungen wie die installierte Leistung konzentrieren, nicht auf bestimmte Technologien.»
Damit spricht die Expertin ein wichtiges Problem an: In Baugenehmigungen muss man heute den genauen Typ der Turbine spezifizieren. Die Turbinentechnologie entwickelt sich innerhalb von 25 Jahren jedoch ständig weiter. Dazu Aleksieva: «Bis es dann soweit ist mit dem Bau, muss man die in der Baugenehmigung definierten Turbinen aus dem Museum holen gehen.» Die BKW beabsichtigt, 35 Millionen Franken in das Windprojekt auf dem Montagne de Tramelan zu investieren, damit sechs bis sieben Windturbinen 6000 Haushalte in der Umgebung versorgen könnten. Doch was das Unternehmen bereits 2008 geplant hat, kann infolge von Einsprachen und langwierigen Bewilligungsverfahren frühestens im Jahr 2024 in Betrieb genommen werden.
Die Schweiz hinkt im Vergleich hinterher
Die flächendeckende Implementierung von Schlüsseltechnologien gestaltet sich in der Schweiz als schwierig. Andere europäische Länder wie das Vereinte Königreich oder Frankreich sind da weiter: Sie haben höhere Emissionsreduktionsziele festgelegt und gehen diese mit entsprechenden Massnahmen an. Das Vereinigte Königreich beispielsweise reduzierte seine Emissionen seit 1990 prozentual um fast das Dreifache im Vergleich zu uns. Neben politischen Rahmenbedingungen spielen hier auch finanzielle Aspekte eine wichtige Rolle.
Im aktuellen Vorschlag für das revidierte CO2-Gesetz sei jedoch nicht (mehr) vorgesehen, Kaufanreize für Elektrofahrzeuge einzuführen, Heizen mit fossilen Brennstoffen zu verbieten und vermehrt Investitionszuschüsse für Innovation bereitzustellen. BCG plädiert für einen Kurswechsel. Die Regelungen des angepassten Gesetzesentwurfs reichten mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht aus, um die inländischen Klimaziele zu erreichen. Was in der Studie vor allem kritisiert wird: Ein Drittel der Schweizer Emissionsreduktionen soll im Ausland stattfinden. Diese Kompensation sei aber keine nachhaltige Lösung, sondern nur eine Verschiebung des Problems in die Zukunft. Aufgrund der verwässerten Formulierungen befand der international anerkannte Climate Action Tracker die Klimaaktivitäten der Schweiz als «unzureichend».
Es lohnt sich zu handeln – je früher, desto besser
Das neue CO2-Gesetz tritt frühestens 2025 in Kraft, vorher wird noch der Gegenvorschlag zur Gletscher-Initiative ausgearbeitet. Immerhin müssen seit Januar dieses Jahres Unternehmen hierzulande umfassende Transparenz- und Sorgfaltspflichten erfüllen. Ziel ist es, dass Unternehmen den Investor:innen und anderen Stakeholdern vertiefte Informationen über ESG-Themen (Environment, Social, Governance) liefern. Was bedeutet das konkret?
Publikumsgesellschaften ab einer gewissen Grösse müssen Rechenschaft über Umwelt-, Arbeitnehmer- und Sozialbelange, die Achtung der Menschenrechte sowie die Bekämpfung von Korruption ablegen. Bei den Umweltbelangen geht es insbesondere um Ziele und Vorgehensweisen zur Reduktion von CO2-Emissionen. Die Gesetzgebung fordert auch Angaben zu klimabezogenen Risiken und Chancen für den Geschäftserfolg. Damit wird deutlich, wo in der Wertschöpfungskette das Business eines Unternehmens positive oder negative Folgen hinterlässt. So kann die Firma dementsprechend verantwortlich gemacht werden. Per 2024 – also bereits in 15 Monaten – ist die Berichterstattung verpflichtend.
Die Erarbeitung von detaillierten Nachhaltigkeitsberichten mögen manche Unternehmen als lästige Pflicht betrachten. Doch das ist zu kurz gedacht. Joachim Stephan, Schweiz-Chef der Boston Consulting Group, erklärt die Vorteile: «Nachhaltigkeit ist mehr als ein Trend, sondern verändert die Wirtschaft tiefgehend. Arbeitsnehmende präferieren bei der Jobsuche vermehrt Firmen mit glaubwürdigen Nachhaltigkeitsstrategien. Aktien von Firmen, die Klimaschutzmassnahmen ergreifen, übertreffen die der Konkurrenz. Ausserdem profitieren «Early Movers» von besseren Finanzierungsbedingungen – immer mehr Banken prüfen bei der Vergabe von Krediten Nachhaltigkeitsziele und insbesondere Klimarisiken.» Selbst der Verkauf von umweltfreundlichen Alternativen gewinnt rasch an Dynamik und zunehmend Marktanteilen.
Das zeigt auch der Erfolg von innovativen Schweizer Start-ups im Nachhaltigkeitsbereich: Climeworks, Synhelion und Oxara bringen Technologien auf den Markt, die entweder CO2 sammeln oder Kraft- respektive Baustoffe neu denken. Aber auch Grossunternehmen wie die Migros können eine Vorreiterrolle einnehmen. Bereits jetzt setzten sie Massnahmen um, die bis 2030 zum Standard werden sollten: Volle Transparenz für Konsument:innen hinsichtlich Klimafreundlichkeit von Produkten, bestmögliche Reduktion von Emissionen entlang der Wertschöpfungskette und ein klares Ausweisen des CO2-Absenkungspfads sowie Plastikreduktion wo möglich. Zum Beispiel wird bei Delica in Meilen die Produktionsanlage mit Seewasser gekühlt, womit 690 Kilogramm synthetische Kältemittel gespart werden konnten. «Die Wirtschaft bewegt sich schneller als die Politik. Während die grossen Unternehmen längst erkannt haben, in welche Richtung sie gehen müssen, tut sich die Politik nach der Ablehnung des CO2-Gesetzes im Jahr 2021 noch schwer mit dem Thema», so Professor Knutti.
Fast 70 Prozent der Schweizer Stimmbürger:innen wünschen sich strengere Klimaschutzmassnahmen, wie 2021 eine VOX-Analyse ergab. Das Stimmungsbild dürfte sich angesichts von Rohstoffknappheit, Lieferkettenschwierigkeiten und Energiekrise noch verfestigt haben. Am Willen der Bevölkerung liegt es also nicht. Worauf es jetzt ankommt: ein klarer, langfristiger regulatorischer Rahmen, um Investitionen in Richtung Dekarbonisierung zu kanalisieren. «Ja, es ist möglich, dass die Schweiz ihre Klimaziele bis 2030 erreichen kann und ihre jährlichen Treibhausgasemissionen gegenüber 1990 um 50 Prozent reduziert – und das ohne Kompensationen im Ausland. Dazu braucht es aber von Politik, Wirtschaft und jedem Einzelnen grosse Schritte nach vorne», lautet das Fazit von Daniel Kägi, Lead Climate and Sustainability Schweiz der Boston Consulting Group. Aber auch ohne die entsprechenden Regulatorien sollten Schweizer Unternehmen die veränderten Marktbedingungen antizipieren und engagiert in die Zukunft investieren. Auch 2050 wollen wir schliesslich noch Gipfelstürmer sein, bei hoffentlich weissen Weihnachten.