Das Areal des ehemaligen Güterbahnhofs Mariendorf in Berlins Süden erstreckt sich über 100 000 Quadratmeter. Bis vor kurzem prägten zwei langgezogene Lagerhallen das Gebiet im Bezirk Tempelhof-Schöneberg, daneben die Verkaufsflächen eines Discounters und ein grosser Baumarkt. Eine unwirtliche Brache, kaum Grünflächen, eingerahmt von zwei Hauptstrassen und der S-Bahn-Linie.
Bald soll hier alles anders sein. Auf der weiten Fläche entsteht ein komplett neuer Kiez, ein gemischtes Stadtquartier mit Mietwohnungen und Büros, Gewerbeflächen und Gastronomie, einer Geflüchtetenunterkunft und einem Quartierhaus. Nachhaltigkeit wird grossgeschrieben. Aus einem ungenutzten, weitgehend versiegelten Grundstück soll lebenswerter Lebensraum werden.
«Ideen muss man haben.» Der Slogan des Baumarkts am Eingang des Areals, der als letzter Zeuge der Vergangenheit den Baumaschinen weichen musste, hat es auf den Punkt gebracht: Wer hier etwas Grosses schaffen will, muss kreativ sein und seinem Einfallsreichtum freien Lauf lassen – genauso wie es das Planerteam des Architekturbüros Collignon Architektur getan hat, dem die Bauherren den Entwicklungsauftrag zugesprochen haben.
Nicht einfach eine Baulücke schliessen
Wie aussergewöhnlich das Marienhöfe-Projekt ist, zeigen allein schon die Dimensionen des Vorhabens: Auf dem ehemaligen Bahngelände sind 20 Gebäude geplant, insgesamt 170 000 Quadratmeter Geschossflächen, 800 Wohnungen auf 80 000 Quadratmetern, 90 000 Quadratmeter Gewerbeflächen, dazwischen Erholungszonen mit viel Natur, Ausbildungsstätten, Altersresidenzen und einem Handwerkerhaus mit subventionierten Arbeitsflächen, in dem auch etwas lärmigere Kleinbetriebe einen Standort finden. Letzteres wurde auf besonderen Wunsch des Bezirks in die Planung aufgenommen, genauso wie auch andere Anliegen von zahlreichen Interessengruppen ins Projekt integriert wurden. Es galt, die verschiedensten Ansprüche unter einen Hut zu bringen – jene der zukünftigen Bewohnerinnen und Bewohner genauso wie jene der angrenzenden Gebiete, der Ämter und der Bauherren.
«Beim Projekt Marienhöfe ging es nicht einfach darum, eine Baulücke zu schliessen», erinnert sich Architektin Heike Warns. Vielmehr wollte man die architektonischen Chancen nutzen, die ein solcher Freiraum mitten in Berlin bietet, und für eine breite Bevölkerung einen lebenswerten Lebensraum schaffen. «In den Marienhöfen soll eine Durchmischung entstehen, wie sie auch andernorts in der Stadt anzutreffen ist und wofür Berlin weitherum geliebt wird», so Warns. Gemeint ist das pulsierende Leben, wie man es von der Spreemetropole kennt, ein Nebeneinander von Arbeit und Freizeit, Wohnen, Gewerbe und Handwerk. Ein Abbild von Berlin, inklusive gut eines Drittels geförderter Wohnungen und einer Geflüchtetenunterkunft für 300 Migrantinnen und Migranten.
Damit sich die Vision eines lebenswerten Lebensraums für alle in der Realität umsetzen lässt, braucht es neben der Nutzmischung auch eine passende architektonische Gestaltung des Gebietes. Laut den Planern ist eine Einheit der Neubauten gefragt. Die Gebäude sollen aufeinander Bezug nehmen, aber gleichzeitig nicht beliebig und austauschbar wirken. Als Leitgedanke dient eine Familie, bei der man von weitem sieht, dass die Familienmitglieder zusammengehören, obwohl sie durchaus unterschiedliche Charaktere aufweisen.
Ein traditioneller Anger als Mittelpunkt
«Ein weiterer wichtiger Aspekt für einen lebenswerten Lebensraum bildet die Verbindung mit dem Aussenraum », erklärt Collignon-Architekt Tilman Weitz. Nach traditionellem Vorbild bildet ein Anger das Zentrum der Marienhöfe, ein meist grasbewachsenes Land oder ein Dorfplatz in Gemeinbesitz, der von allen Bewohnern des Quartiers genutzt werden kann. Die Innenund Aussenräume sollen miteinander im Austausch stehen: Wer sich in der freien Natur zwischen den Gebäuden aufhält, soll mitbekommen, was hinter den Mauern und Fenstern der Häuser geschieht. «Das Ganze soll einladend sein, nicht abweisend. Das ist eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass ein Quartier lebendig wird», ergänzt Weitz.
15-Minuten-Stadt für mehrere Generationen
Die gewünschte Lebendigkeit wird zusätzlich durch die öffentliche Nutzung der Erdgeschosse erreicht. Deshalb sind im Parterre Restaurants und Cafés eingeplant, handwerkliche Betriebe wie eine Fahrradwerkstatt, eine Kindertagesstätte oder auch Co-Working-Spaces und Einkaufsläden. Die Marienhöfe entsprechen dem Konzept einer 15-Minuten-Stadt: Die Bewohnerinnen und Bewohner brauchen im täglichen Leben keine weiten Wege zu gehen. Alles Notwendige ist vor Ort erhältlich – und dies für sämtliche Generationen. «Eigentlich könnte man als Säugling im Quartier einziehen und selbst als Senior noch dort wohnen», ist Weitz überzeugt.
Für einen problemlosen Anschluss an die angrenzenden Kieze und die Innenstadt sorgen die nahe S-Bahn-Station sowie Rad- und Fusswege, die das neue Quartier auf allen Seiten ans Berliner Langsamverkehrsnetz anbinden. Ansonsten hat der motorisierte Individualverkehr in den Marienhöfen fast keinen Platz – zumindest an der Oberfläche. Das Zentrum des Kiezes soll grün bleiben. Daher kann die Strasse durch das Quartier nur von Fussgängern, Radfahrern und zum Beispiel von Rettungsdiensten durchgängig genutzt werden. Der Anwohner- und Zubringerverkehr wird möglichst frühzeitig unter die Erdoberfläche umgeleitet.
Auch sonst haben die Architekten von Collignon Architektur bei der Planung der Marienhöfe grossen Wert auf Nachhaltigkeit gelegt. Das Areal soll CO₂-neutral betrieben werden. Grundlage dafür bildet ein innovatives, ganzheitliches Energiekonzept, welches auf Solarenergie, Geothermie sowie Eisspeicher setzt und die Spitzenlasten mit Hilfe eines eigenen Blockheizkraftwerks auffangen soll, das mit Biogas betrieben wird.
Einen wesentlichen Teil des Energiekonzepts bilden auch die Gebäude selbst, die dank ihrer Dämmstandards eine hohe Energieeffizienzklasse erreichen und weitere wichtige Funktionen für einen lebenswerten Lebensraum übernehmen. So sind die Dächer und teilweise auch die Fassaden der Häuser begrünt, was dem Mikroklima zugutekommt. Die zahlreichen öffentlichen und privaten Grünflächen sowie eine gute Winddurchströmung sorgen auch in den heissen Sommermonaten für ein angenehmes Mikroklima.
Für einen weiteren Kühleffekt ist die Regenwasserversickerung verantwortlich, die komplett auf dem eigenen Grundstück stattfindet. Dadurch fliesst das Regenwasser nicht einfach direkt in die Kanalisation, sondern erzeugt mehr Luftfeuchtigkeit und damit einen besseren Kühleffekt. «Um die spätere CO₂-Neutralität zu erreichen, haben wir zahlreiche Nachhaltigkeitslösungen schon sehr früh in die Planung aufgenommen», erklärt Moritz Alt, Architekt bei Collignon Architektur. Kein Wunder, dass das Projekt Marienhöfe bereits vor Baubeginn das Platin-Vorzertifikat für nachhaltige Stadtquartiere der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen (DGNB) erlangen konnte. «In der Bauausschreibung und auch im Bau werden die Generalunternehmen ebenfalls darauf bedacht sein, dass schadstoffarme und recycelbare Baustoffe zum Einsatz kommen. Unser Ziel ist es, dass wir auch am Ende die Topauszeichnung Platin erhalten werden», ergänzt Alt.
Inzwischen hat das Projekt einen Grossteil der Teilbaugenehmigungen erhalten, demnächst ist der Weg für den Baubeginn frei. Läuft alles nach Plan, soll der «Kiez» Marienhöfe in einigen Jahren bezugsbereit sein – und gut 3000 Einwohnerinnen und Einwohnern einen lebenswerten Lebensraum bieten.