Thomas Pfammatter hat auf zwei bewährte Kräfte vertraut, auf den Schutz des Herren und die Weisheit der Ahnen. «Die Pfarrkirche von Blatten ist nicht gefährdet», sagte der Pfarrer des Lötschentals noch wenige Tage, bevor im Tal eine neue Zeitrechnung beginnen sollte. Die Kirche stehe auf einer Anhöhe im alten Teil des Dorfes, der noch nie von Lawinen oder Hochwasser getroffen worden sei. Früher hätten die Menschen Siedlungen an Orten gebaut, die sehr sicher seien.
Jetzt ist die Kirche weg, ja das ganze Dorf Blatten und mit ihm die alten Gewissheiten. Und Pfammatter, der den Menschen im Tal Mut und Trost spenden soll, ist selbst fassungslos. In der unruhigen Nacht nach dem Bergsturz schrieb er ein Gebet nieder. Es trug den Titel: «Jetzt erst recht».
Jetzt erst recht, das war auch das Motto, als sich an diesem unheilvollen Mittwoch die Behörden zur Information in der Turnhalle von Ferden versammeln, etwas weiter unten im Tal. Wenige Stunden zuvor sind neun Millionen Kubikmeter Stein und Eis in einer Staublawine ins Tal gedonnert und haben das Dorf unter sich begraben. Ein Mann wird noch immer vermisst. Und 300 Menschen haben ihr Hab und Gut verloren, alles, was sie und ihre Vorfahren über Jahrhunderte aufgebaut hatten.
Von den Behörden bis zu den angereisten Bundesräten Martin Pfister und Albert Rösti sagen nach den Worten der Anteilnahme alle: Blatten wird wieder aufgebaut. «Wir wissen, wo das Dorf liegt, wo die Kirche wieder stehen muss und wo unsere Häuser wieder stehen müssen», sagte Matthias Bellwald, der Gemeindepräsident von Blatten. Umweltminister Albert Rösti fügte an, die Natur sei stärker als der Mensch, «das wissen die Bergler». Aber «die Blattnerinnen und Blattner sollen im Lötschental eine Zukunft haben».
Vor dem Schuttkegel haben sich die Lonza und der Dorfbach Gisentella gestaut und einen See gebildet. Bild: Reuters
Es ist die Erzählung, die das helvetische Selbstverständnis fast mythisch prägt: die Berge als ebenso idyllische wie gefährliche Heimat, aus der man sich trotz aller Unbill nicht vertreiben lässt. Doch diese Erzählung wird gerade auf den Prüfstand gestellt. Denn die Liste der Bergdörfer, die verschüttet, überflutet, zerstört werden, wird immer länger.
Das Tabu einer neuen Vision für die Alpen
Vergangenen Sommer rollte eine Gerölllawine durch den Weiler Sorte der Gemeinde Misox in Graubünden und tötete zwei Menschen. Im Tessiner Dörfchen Fontana im Bavonatal hatten Regenfälle einen Erdrutsch ausgelöst, jahrhundertealte Rustici stürzten ein, Autos, Bäume, Strassen wurden mitgerissen, bis das Dorf kaum mehr zu erkennen war. Auch Schwanden im Kanton Glarus, Guttannen im Berner Oberland oder Bondo und Brienz in Graubünden gehören zu den Dörfern, in denen die Bevölkerung um ihre Zukunft bangt.
Zwar können einzelne Ereignisse meist nicht direkt auf den Klimawandel zurückgeführt werden, aber tendenziell nehmen extreme Wetterereignisse zu. Auch das Auftauen des Permafrosts in den Alpen kann dazu führen, dass künftig noch mehr Hänge ins Rutschen geraten. Und noch mehr Dörfer zur Gefahrenzone werden.
Dabei stellen sich unbequeme Fragen, denen sich die Schweiz aber früher oder später stellen muss: Zu welchem Preis sollen die Dörfer geschützt und wiederaufgebaut werden? Muss man gefährdete Gebiete verlassen?
Um Antworten zu finden, braucht es vielleicht einen vom Alpenmythos und von gegenwärtigen Ereignissen losgelösten Blick auf die Veränderungen in den Bergen.
Das war die Idee der ETH-Forscher Günther Vogt und Thomas Kissling: Vor zwei Jahren veröffentlichten sie zusammen mit ihren Studierenden eine Vision für die Alpen, in der sie analysierten, wie einzelne Täler und Ortschaften in Zukunft genutzt werden könnten – und auch, wo sich der Mensch vielleicht besser zurückziehen sollte. Just das Lötschental war in dieser Karte als solcher möglicher Ort eingezeichnet.
«Das hat zu grossen Diskussionen geführt», sagt Thomas Kissling, der die Analyse als Dozent begleitet hat. «Es geht einerseits natürlich um die Existenz von vielen Menschen und eine lokale Kultur, die sehr wertvoll ist. Andererseits waren die potenziellen Gefahren bekannt, die sich jetzt zum Teil leider bestätigt haben.» Unabhängig von Blatten ist Kissling überzeugt, dass es künftig Talschaften geben werde, in denen man sich ernsthaft Gedanken über einen Rückzug machen müsse.
Es ist heikel, das Gefühl von Heimat in einer Kosten-Nutzen-Rechnung zu quantifizieren. Experten äusserten sich in den letzten Tagen denn auch nur sehr zurückhaltend. Doch angesichts der schnellen klimatischen Veränderungen findet es Kissling wichtig, dass die Schweiz grundsätzlich über die Alpen raumplanerisch nachdenkt. Es gebe in dieser Hinsicht fast ein Diskussionsverbot: «Die Idee, dass sich der Mensch angesichts der sich verändernden Bedingungen aus gewissen Flächen zurückzieht, ist noch immer tabu.»
Naturkatastrophen einten den jungen Bundesstaat
Das hat auch historische Gründe. Der Wille zum Wiederaufbau sei tief in unserer Identität verankert, sagt der Klimahistoriker Christian Pfister. Weil es die Solidarität nach Naturkatastrophen war, die die junge Schweiz nach der Herrschaft Napoleons und dem Sonderbundskrieg einte. Diese These zumindest vertritt er in seinem Buch «Katastrophen und ihre Bewältigung».
Als 1806 in Goldau ein Bergsturz fast 500 Menschen in den Tod riss und ganze Dörfer begrub, folgte die erste nationale Hilfsaktion in der damals halbautonomen Schweiz unter Napoleon.
Der Bergsturz von Goldau im Jahre 1806 löste eine nationale Solidaritätswelle aus. Bild: Staatsarchiv Schwyz
Und als sechzig Jahre später das Jahrhunderthochwasser in der Innerschweiz und im Süden 50 Menschen das Leben kostete und grosse Teile des Tessins für Jahre verwüstete, appellierte der Bundesrat an den noch jungen föderalen Staat: Dem Vaterland drohe «Gefahr von innen», der zerstörerischen Gewalt des Wassers gelte es mit der gleichen Entschlossenheit entgegenzutreten wie einem Angriff von aussen. In den reichen Kantonen des Mittellands veranstalteten die Menschen Konzerte und Basare zur Spendensammlung für die Betroffenen im Wallis, in Uri und im Tessin. Umgerechnet auf den heutigen Wert kamen über 500 Millionen Franken zusammen – bis jetzt ein Rekord. Infolge der Katastrophe fanden die einstigen Gegner des Sonderbundskrieges zusammen.
In den darauffolgenden Jahren wurde der Schutz vor Naturgewalten zur nationalen Aufgabe. Es entstanden die ersten grossen Gewässerschutzbauten, vom Bund mitfinanziert. Eine Diskussion wie heute, ob man gewisse Täler aufgeben müsse, wäre im 19. oder 20. Jahrhundert deshalb undenkbar gewesen, sagt der Klimahistoriker Pfister. Doch nun lässt sich die Diskussion an einigen Orten nicht länger verdrängen.
In Brienz werden Umsiedlungspläne konkret
Zum Beispiel im Bündner Bergdorf Brienz. Seit Jahrzehnten bewegt sich hier der Berg, Felsstürze und ein riesiges Geröllfeld haben das Leben der 80 Brienzerinnen und Brienzer unsicher gemacht. Schon zweimal wurden sie evakuiert. Zuletzt im November vergangenen Jahres, weil sich die Rutschung oberhalb des Dorfs beschleunigt hatte. Bis heute konnten die Bewohner nicht zurückkehren – trotz millionenteuren Überwachungsanlagen und Schutzmassnahmen.
In Brienz (GR) bewegt sich der Berg. Lange hofften die Bewohner, dass ihr Dorf gesichert werden kann. Doch nun zeichnet sich ab, dass sie wohl doch umziehen müssen. Bild: Reuters
Es ist dieses Hin und Her aus Hoffnung und Enttäuschung, aus Evakuieren und Zurückkehren, das die Leute zermürbt. Und das nun zu einem Umdenken führen könnte.
Schon vor längerem wurden Pläne für eine Umsiedlung des Dorfs entworfen, und allmählich werden sie konkret. An einer Informationsveranstaltung Anfang Mai hat die Gemeinde erstmals offen infrage gestellt, ob es Sinn ergebe, um jeden Preis am Dorf festzuhalten. Bis September können sich Bewohner nun für eine Umsiedlung anmelden.
Daniel Albertin ist Gemeindepräsident und sagt, diejenigen Familien, die seit Generationen in Brienz lebten, täten sich schwer mit dieser Diskussion. Doch etwa die Hälfte der Brienzer Bevölkerung sei inzwischen froh, dass die Gemeinde das Thema ehrlich anspreche. «Einige werden gehen, weil ihr Haus an Wert verloren hat. Andere werden gehen, weil sie die Belastung nicht mehr aushalten.»
Daniel Albertin, Gemeindepräsident von Brienz. Bild: NZZ
Albertin sagt, er beobachte, dass sich die Haltung der Bevölkerung verändert habe. «Hätten wir vor vier, fünf Jahren über eine Umsiedlung sprechen wollen, wären wir als Behörden nicht gut weggekommen», sagt er. «Bei der zweiten Evakuierung wurden uns dann schon Vorwürfe gemacht, dass wir die Umsiedlung nicht schnell genug planen würden.»
Bei aller Heimatliebe: Ist Brienz ein Beispiel dafür, dass irgendwann der Pragmatismus obsiegt?
Bergdörfer aufgeben? Eine «Frechheit»
Im Lötschental will man von solchen Diskussionen derzeit nichts wissen. Blatten und andere Bergdörfer aufgeben? Franziska Biner ist seit einem Monat neue Staatsrätin im Wallis und hat dazu eine klare Meinung: «Ich empfinde diese Haltung ehrlich gesagt als eine Frechheit.» Die Bergdörfer seien die Heimat der Menschen, im Wallis und an vielen anderen Orten in der Schweiz. «Wir haben Jahrhunderte investiert, um diese Landschaft zu kultivieren. Ich verstehe nicht, wie da jemand sagen kann: ‹Gib deine Heimat auf, du kostest zu viel.›»
Zumal die Schadenbilanz im Flachland oftmals grösser ausfällt als in den Bergen. Von den 300 Millionen Franken Schaden, die Naturkatastrophen jedes Jahr anrichten, ist nur ein kleiner Teil auf Fels- oder Bergstürze zurückzuführen. Wind, Hagel und Überschwemmungen fallen viel stärker ins Gewicht – und treffen öfter die dicht besiedelten Voralpen. Biner wie andere Politiker aus den Bergregionen mahnen: Würden die Berggebiete aufgegeben und sich selbst überlassen, steige das Hochwasserrisiko unten im Tal. Darum sollten die Bergregionen gut geschützt werden, mit Gefahrenkarten, Überwachung und Schutzbauten.
Doch das kostet. Und es ging auch diese Woche nicht lange, bis über diese Frage des Geldes diskutiert wurde. Im Wallis gibt zu reden, dass die Bevölkerung just letztes Jahr ein kantonales Klimagesetz abgelehnt hat, das unter anderem eine Reserve von 100 Millionen Franken für Investitionen in Schutzmassnahmen umfasst hätte. Ständerat Beat Rieder, selber aus dem Lötschental, forderte vom Bund mehr Investitionen in die Gefahrenprävention. Seinem Tessiner Ratskollegen Fabio Regazzi schwebt ein neuer Fonds für Unwetterschäden vor.
Auch der Ökonom Lukas Rühli von der liberalen Denkfabrik Avenir Suisse macht sich Gedanken zur Zukunft der Bergdörfer. Er betont, es seien allein die Gemeinde und der Kanton, die entscheiden müssten, ob Blatten wiederaufgebaut werde. Aber: «Der Wiederaufbau von Siedlungen ist keine nationale Aufgabe», sagt Rühli. «Die Gemeinde und der Kanton müssten diesen selbst finanzieren können.»
Blatten will leben
Es ist genau diese Diskussion, vor der dem Hotelier und früheren Blattner Gemeindepräsidenten Lukas Kalbermatten graut. Er, der das bekannte Hotel Edelweiss verloren hat, fürchtet, dass Blatten nun zum Paradebeispiel wird für die Frage: «Was ist es der Schweiz wert, ein Dorf zu erhalten?» Diese Diskussion könne schnell emotional werden und die Menschen verletzen, die schon verletzt und ratlos genug seien.
Wie ratlos, zeigen Gespräche im Tal. Viele Bewohner können sich nicht vorstellen, ohne Blatten zu leben. Doch sie können sich beim Anblick des riesigen Schuttkegels auch nicht vorstellen, wie hier wieder ein Leben möglich ist.
Lukas Kalbermatten, Hotelier von Blatten. Bild: Dominic Steinmann / NZZ
Kalbermatten fürchtet, dass die Menschen resignieren und wegziehen könnten. Es gehe jetzt auch darum, das soziale Leben zu erhalten, sagte er im Radio, die Jugendvereine, die lebendigen Musikgesellschaften, den Kirchenchor. Und anschliessend soll das Dorf wiederaufgebaut werden. «Was die Leute hier wollen und was die Natur zulässt, das müssen wir machen.»
Nur: Was lässt die Natur zu? Die unmittelbare Gefahr im Tal hat sich etwas verringert. Der Pegel des aufgestauten Sees sinkt langsam, das Wasser findet seinen Weg durch den Schuttkegel. Gleichzeitig zeigt sich immer deutlicher: Hier wird so schnell nichts Neues gebaut. Den Schuttkegel vollkommen zu räumen, das scheint laut Experten kaum machbar. Er dürfte als instabile Steinwüste im Talboden bleiben und auf Jahrzehnte hinaus unbewohnbar sein.
Und so konnte Gemeindepräsident Matthias Bellwald zwar am Samstag, am Tag 3 nach der Katastrophe, in der Turnhalle von Ferden bekräftigen, dass die Blattnerinnen und Blattner sich an die Devise ihres Pfarrers hielten: Jetzt erst recht. Schon in zwei Wochen will er an einer Gemeindeversammlung erste rudimentäre Pläne für eine Zukunftsperspektive vorstellen. Doch wo genau dieses «neue Blatten» entstehen soll, das kann heute noch niemand sagen.
Unweit der Turnhalle steht ein altes Holzhaus. An der Wand prangt die Inschrift: «Was Du erhältst, nimm ohne Stolz an. Was Du verlierst, gib ohne Trauer auf.» Wenn es denn so einfach wäre.
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