Diese Sicht teilt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung sogar, wobei sie sich für eine andere Wortwahl entscheidet. Sie schreibt: «Die Portionsangabe von einem Ei pro Woche beruht nicht auf einer Begrenzung aus gesundheitlichen Gründen.» Sondern: «Es ist eine Menge, die für die Nährstoffzufuhr und Gesundheit ausreichend ist, zugleich die Umwelt nicht stärker als nötig belastet und die den durchschnittlichen Verzehrgewohnheiten der deutschen Bevölkerung entspricht.»
Ökologische Aspekte in Ernährungsempfehlungen
In der Stellungnahme wird deutlich: Die Vorzeichen für die Empfehlungen haben sich geändert. Bisher war für die Bewertung von Lebensmitteln vor allem wichtig, wie sie sich auf die Gesundheit auswirken. Berücksichtigt wurden zudem die Ernährungsgewohnheiten der Menschen.
Nun aber werden auch ökologische Aspekte mitberücksichtigt. Es geht nicht mehr nur darum, wie der Mensch sich möglichst ausgewogen und gesund ernähren kann. Es geht auch um die Gesundheit des Planeten.
In der Schweiz sollen ökologische Aspekte bei den Ernährungsempfehlungen künftig ebenfalls eine grössere Rolle spielen, wie das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLV), das die Empfehlungen formuliert, auf Anfrage schreibt: «Die Ernährung hat sowohl einen Einfluss auf die Gesundheit als auch auf die Umwelt. Da etwa ein Drittel der Treibhausgase durch den Lebensmittelsektor verursacht wird, war es notwendig, diesen Aspekt in die neuen Ernährungsempfehlungen einzubeziehen.»
Das hat unausweichlich Folgen für Ernährungsempfehlungen. «Im Mittel haben Proteine aus pflanzlicher Produktion einen tieferen Umweltfussabdruck als Proteine aus tierischer Produktion», erklärt Robert Finger, Professor für Agrarökonomie und -politik an der ETH Zürich. Deshalb haben die Deutschen zum Beispiel den empfohlenen Konsum von Eiern, Milchprodukten und Fleisch heruntergeschraubt. Beim Fisch bleiben die Empfehlungen bei ein bis zwei Portionen pro Woche, obwohl er aus verschiedenen Gründen keine vorzeigbare Umweltbilanz hat. Wie die Schweiz entscheiden wird, ist derzeit noch unklar.
Die Verknüpfung von Ökologie und Gesundheit in den Ernährungsempfehlungen ist gut gemeint. Aber ist sie auch sinnvoll? Die Causa Ei in Deutschland, die Reaktion der Akademie für Präventivmedizin und die notwendig gewordene Erklärung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung zeigen: Es könnte auch in der Schweiz unklarer werden, warum eine Ernährungsempfehlung gegeben wird. Liegt es an den Auswirkungen auf die Gesundheit? Oder an den Folgen für den Planeten? Diese Vermischung ist auch deshalb schwierig, weil es in beiden Bereichen keine eindeutigen Antworten gibt.
Auswirkungen auf die Gesundheit verstehen – weshalb es schwierig ist
Beginnen wir mit der Gesundheit. Philipp Schütz, Ernährungsmediziner und Präsident der Eidgenössischen Ernährungskommission, sagt: «Häufig sind wir nicht sicher, welche Auswirkungen bestimmte Lebensmittel auf die Gesundheit haben.» Man sehe in Studien gewisse Tendenzen, die man dann in Empfehlungen übersetze, um den Menschen eine gewisse Richtschnur zu bieten.
Doch Ernährungsstudien haben Schwächen. Gut wäre es, wenn man vorgehen könnte wie bei einer Medikamentenstudie. Dabei erhält eine Gruppe aus zufällig ausgewählten Teilnehmern eine Tablette mit dem Wirkstoff, der untersucht werden soll. Die andere Gruppe bekommt eine gleich aussehende Tablette ohne Wirkstoff – ein Placebo. Niemand weiss, welche Tablette er bekommt. Das funktioniert in Ernährungsstudien nicht, denn man sieht ja, was man isst. Darüber hinaus werden Studienteilnehmer häufig zu ihrem Ernährungsverhalten nur befragt. Ob die Selbstauskünfte wirklich stimmen, ist ungewiss.
Die gesundheitlichen Auswirkungen eines Lebensmittels zu bewerten, ist also schon unsicher und komplex genug. «Und nun bringt man noch mehr Komplexität hinein, indem man die ökologischen Aspekte mit einbezieht», sagt Schütz. Er erkennt an, dass Ernährungsempfehlungen auch landwirtschaftlich umsetzbar sein sollten und den Planeten nicht über seine Grenzen bringen sollten. «Ökologische Gesichtspunkte sind wichtig.» Dennoch: «Das könnte dazu führen, dass man eine neue Stufe nichtevidenzbasierter Meinungen mitberücksichtigt.»
Ökologische Aspekte verstehen – eine weitere Stufe der Komplexität
Denn auch in der Forschung rund um eine nachhaltige Ernährungsweise ist vieles unklar. Eine wichtige Forschungsarbeit, die den ökologischen Überlegungen in Deutschland und der Schweiz zugrunde liegt, heisst «Planetary Health Diet». Sie ist erstmals 2019 in der Fachzeitschrift «The Lancet» erschienen. Entwickelt wurde sie von einem internationalen Team aus Wissenschaftern, der EAT-Lancet-Kommission. Die verschiedenen Fachleute decken Disziplinen wie Gesundheit, Ernährung, Nachhaltigkeit, Wirtschaft, Politik und Landwirtschaft ab und schlagen eine Ernährung vor, die Mensch und Umwelt nutzen soll. Doch die Planetary Health Diet ist umstritten.
Ernährungswissenschafter kritisieren zum Beispiel, die Ernährungsweise garantiere nicht, dass alle Bevölkerungsgruppen mit ausreichend Nährstoffen versorgt würden. Matthias Meier, Professor für nachhaltige Lebensmittelwirtschaft an der Berner Fachhochschule, schätzt die Pionierleistung der beteiligten Wissenschafter, sagt aber auch: «Die Arbeit basiert auf Annahmen und Modellierungen mit sehr vielen Unsicherheiten.»
Meier war beteiligt an der wissenschaftlichen Hintergrundarbeit, mit Hilfe deren das Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen die neuen Ernährungsempfehlungen ausgearbeitet hat. Trotz den Unsicherheiten rund um Ökologie und Ernährung kritisiert er aber nicht, dass ökologische Aspekte eine stärkere Rolle bei den Empfehlungen spielen werden. Im Gegenteil: «Das Bundesamt geht in diesem Punkt nicht weit genug.»
Keine klimagerechte Ernährung angestrebt
Was er damit meint: Die Aufgabe der vom BLV beauftragten Wissenschafter war es, die Ökobilanzen verschiedener Lebensmittel aufzuzeigen. Aber: «Es wurde nicht ermittelt, wie sich die Ernährung zusammensetzen sollte, damit wir beispielsweise ein bestimmtes Klimabudget nicht überschreiten», sagt Meier. Wer sich an die künftigen Empfehlungen hält, kann also nicht davon ausgehen, klimagerecht zu essen.
«Die Umweltaspekte stellen nur eine Dimension in den neuen Ernährungsempfehlungen dar», schreibt das BLV denn auch auf Anfrage. «Die neuen Ernährungsempfehlungen zielen in erster Linie auf eine ausgewogene Ernährung ab, die wissenschaftlich fundiert evaluiert wurde.» Und weiter: «Der Umweltaspekt stützt die Empfehlungen zusätzlich.»
Umweltgerechter essen – das wäre aber auch schon mit den bisherigen Ernährungsempfehlungen möglich gewesen. Würden die Menschen in der Schweiz die Empfehlungen befolgen und nicht so essen, wie sie es tatsächlich tun, dann könnten sie bereits jetzt die ernährungsbedingte Umweltbelastung um knapp die Hälfte reduzieren, zum Beispiel indem sie weniger Fleisch essen. Das ergab eine Untersuchung von Agroscope, dem Kompetenzzentrum des Bundes für landwirtschaftliche Forschung.
Die Untersuchung wird im wissenschaftlichen Hintergrundbericht zu den neuen Schweizer Ernährungsempfehlungen zitiert – und sie ist für Robert Finger zentral. «Ich nehme als Kernbotschaft aus dem Bericht mit: Wir könnten den Umweltzielen schon mit den bisherigen Empfehlungen sehr nahe sein», sagt er. Der Professor für Agrarökonomie und -politik war an dem wissenschaftlichen Bericht rund um die Ernährungsempfehlungen nicht beteiligt. Genau wie Meier und Schütz hält er es für wichtig, Ernährung und Ökologie zusammenzudenken, aber er sagt auch: «Die Informationen müssen transparent vermittelt werden.»
Das BLV schreibt: «Ein Logbuch sowie ein Argumentarium werden am Ende des Jahres 2024 veröffentlicht, um den Entscheidungsprozess für die neuen Ernährungsempfehlungen transparent zu machen.» Das wäre einige Wochen nach der Bekanntgabe der Empfehlungen. Läuft es wie in Deutschland, wird es eine Darstellung der empfohlenen Lebensmittel inklusive ungefährer Mengenangaben geben. Auf den ersten Blick wird es dann nicht ersichtlich sein, welche Rolle gesundheitliche und ökologische Aspekte bei der Bewertung gespielt haben.
Sinnvoll fände Philipp Schütz eine transparente Kennzeichnung der Lebensmittel in den verschiedenen Kategorien. «Nehmen wir die Gruppe der Eiweisslieferanten: Man könnte in der Darstellung zum Beispiel deutlich machen, dass ein Ei eine mögliche Eiweissquelle ist, dass es aber Alternativen gibt, die ökologisch besser abschneiden.» So hätte der Verbraucher eine relevante Information, ohne eventuell rätseln zu müssen, ob das Ei neuerdings wieder ungesund sein soll.