Ohne saubere Luft keine Klimawende
Die CO2-Entnahme aus der Atmosphäre werde von Politikern in Europa «sträflich vernachlässigt», kritisiert der Klimaforscher und Ökonom Ottmar Edenhofer.
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CO2-Entnahme als «Gamechanger»: Prof. Ottmar Edenhofer sieht breites Portfolio an Optionen. Bild: Imago
Die CO2-Entnahme aus der Atmosphäre werde von Politikern in Europa «sträflich vernachlässigt», kritisiert der Klimaforscher und Ökonom Ottmar Edenhofer.
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4 Min. • • Kalina Oroschakoff, Sustainable Switzerland Editorial Team
Für eine Gruppe von einflussreichen europäischen Klimawissenschaftlern steht fest: Ohne Technologien, mit denen CO2 aus der Atmosphäre entfernt wird, kann sich die Europäische Union von ihren klimapolitischen Ambitionen verabschieden. «Die EU muss neben den notwendigen Emissionsminderungen zusätzlich verstärkt Kohlendioxid aus der Luft filtern, um ihre Klimaziele zu erreichen», betont Ottmar Edenhofer.
Der deutsche Wissenschaftler leitet das European Scientific Advisory Board on Climate Change (ESABCC), einen 2021 gegründeten Expertenrat, und berät die EU-Führungsriege dabei, die Klimaziele der Staatengemeinschaft zu erreichen. Und die sind ambitioniert: Im Rahmen ihres «European Green Deal» hat sich die EU verpflichtet, die Treibhausgasemissionen bis 2050 auf netto null zu drücken. Dafür muss einerseits der Ausstoss massiv reduziert werden – er lag zuletzt bei rund 3,4 Milliarden Tonnen CO2-Äquivalenten pro Jahr –, andererseits aber auch CO2 in grossem Masstab aus der Luft entfernt werden. Denn klar ist: Weder in der Schwerindustrie noch in der Luft- und Schifffahrt lassen sich die umweltschädlichen Emissionen so einfach mindern.
Im Februar dieses Jahres veröffentlichte das Expertengremium Vorschläge, wie die EU Anreize für den Einsatz der verschiedenen Techniken zur CO2-Entnahme schaffen könnte. Edenhofer zufolge würde das nicht nur Innovationen fördern, sondern auch die Position der EU im weltweiten Wettlauf um die Marktführung bei grünen Technologien stärken. Edenhofer ist dabei nicht nur in wissenschaftlichen Beratungsgremien aktiv, er ist auch Direktor und Chefökonom des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung und Professor an der TU Berlin. Man habe im klimapolitischen Diskurs bisher vor allem über Emissionsminderungen gesprochen, sagte er vor wenigen Wochen bei einer Rede an der Universität Luzern. Auch die notwendige Anpassung an die unvermeidbaren Auswirkungen steigender Temperaturen – dazu gehören häufiger auftretende Hitzewellen – sei Teil der Debatte. Aber «die dritte Säule der Klimapolitik, die aus meiner Sicht sträflich vernachlässigt wird, das ist die Entnahme von CO2 aus der Atmosphäre», so Edenhofer.
Temperaturkurve zurückbiegen
Es gibt einige Gründe dafür, warum die Forscher europäische Politiker nun verstärkt dazu drängen, sich mit dieser Thematik zu beschäftigen. Netto-Null-Emissionen bis 2050? Das sei kein realistisches Szenario mehr für die Welt, sagte Edenhofer in Luzern. Alles deute darauf hin, dass das Pariser Klimaziel, die Erderwärmung möglichst auf 1,5 Grad Celsius gegenüber der vorindustriellem Zeit zu bremsen, erst einmal nicht erreicht werde. Das Scheitern wäre für viele Ökosysteme und Lebewesen mit grossen Risiken verbunden, warnen Forscher seit Jahren. Mit Glück könne man die «Temperaturkurve wieder zurückbiegen», so Edenhofer. Konkret bedeutet das, den Temperaturanstieg wieder nachträglich zu reduzieren. Das würde aber wohl bis zum Ende des Jahrhunderts dauern und sei nur möglich, wenn der Atmosphäre mehr Kohlendioxid entzogen werde, als Fabriken, Autos oder Schiffe noch ausstossen. Für den Klimaforscher steht fest: «Ohne diese Option werden wir klimapolitisch scheitern».
Für Europa steht viel auf dem Spiel. Die Politik hat sich allzu lange darauf verlassen, dass die Wälder und Böden grosse Mengen an Kohlenstoff aufnehmen. In Zukunft, so sehen es neue Klimagesetze vor, sollen Europas Bäume und Böden sogar noch grössere Mengen speichern. Jetzt aber zeigen Daten der europäischen Umweltagentur EEA, dass Wälder seit einigen Jahren weniger Kohlenstoff aufnehmen. Das hat unter anderem damit zu tun, dass der Waldbestand älter wird und mehr Bäume gerodet werden.
In tiefes Gestein gepresst
Hinzu kommt das Problem, dass technische Methoden, um CO2 aus der Luft zu filtern und zu speichern, nur schleppend vorankommen. Die Technologien sind teuer, benötigen grosse Mengen an Energie und bringen weitere Risiken mit sich. Dazu gehört, dass sie teilweise viel Fläche benötigen, die für landwirtschaftliche Zwecke verwendet werden könnte. Zu dieser Gruppe gehören sogenannte DACCS-Technologien, die Kohlenstoff direkt aus der Luft filtern und speichern. Dabei wird das aus der Umwelt «eingefangene» Kohlendioxid erst verflüssigt und dann mit hohem Druck in tiefe Gesteinsschichten gepresst – was in der Öffentlichkeit und bei Umweltorganisationen allerdings auf Widerstand stossen könnte.
Ein anderes Verfahren beruht auf dem Einsatz von Bioenergieanlagen, die das beim Verbrennen von pflanzlichem Material frei werdende CO2 sofort abscheiden und speichern. Der Beitrag solcher Techniken ist jedoch noch sehr winzig. Mit keinem von ihnen lässt sich derzeit die gewaltige Menge an CO2 entnehmen, die nötig wäre, um das Klimaproblem ansatzweise in den Griff zu bekommen. Zudem stellt sich die Frage, wie lange die verschiedenen Techniken überhaupt CO2 speichern können. Für Edenhofer ist angesichts der vielen Unsicherheiten klar: «Entscheidend ist, es geht um ein breites Portfolio von Optionen, die auch regional sehr unterschiedlich verteilt sind». Europa müsse anfangen, ernsthaft in die Techniken zu investieren. «Die Kernfrage ist nur, wer soll das alles finanzieren?»
Dieser Artikel behandelt folgende SDGs
Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.
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