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Bei Arzneimitteln ist Europas Abhängigkeit von China riesig.

Bei Arzneimitteln ist Europas Abhängigkeit von China riesig. Quelle: VCG / China

Wirtschaft

Die Weltpolitik hält Einzug im Medizinschrank: Europa will bei Arzneimitteln unabhängiger werden

Bis zu 90 Prozent der in Europa eingesetzten Antibiotika kommen aus Asien, die meisten davon aus China. Nun will die EU-Kommission Europa bei diesen und anderen Medikamenten unabhängiger machen. Doch der Weg dahin ist ebenso unklar wie die Kosten.

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Die Weltpolitik hält Einzug im Medizinschrank: Europa will bei Arzneimitteln unabhängiger werden

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Was haben Artilleriemunition und Antibiotika gemeinsam? Europas Produktion ist viel zu klein, um in der Not den eigenen Bedarf zu decken. Im Kriegsfall fehlten die Waffen, um sich zu verteidigen. Bei Medikamenten reichte ein Lieferunterbruch von wenigen Wochen, und Europa hätte Probleme, Teile der Bevölkerung am Leben zu erhalten.

80 bis 90 Prozent aller Antibiotika kommen aus Asien, die meisten davon aus China. Würden beispielsweise in einem eskalierenden Konflikt die Lieferketten unterbrochen, würden Routineeingriffe zu Hochrisikooperationen. Einfach zu behandelnde Infektionen könnten tödlich enden. So beschrieben Gesundheitsminister aus elf EU-Mitgliedsstaaten die Gefahr der europäischen Abhängigkeit im März in einem offenen Brief.

Die Schwächen im europäischen Rüstungswesen versucht die Politik seit Russlands Überfall auf die Ukraine zu beheben. Nun also versehen Entscheidungsträger auch die Arzneimittel mit dem Prädikat «sicherheitsrelevant» und hoffen, damit Bewegung in die Sache zu bringen.

Europa hat ein Generikaproblem

Gegenwärtig enthalten gemäss einer von der EU-Kommission initiierten Expertengruppe zwischen 60 und 80 Prozent der Medikamente in Europa pharmazeutische Wirkstoffe aus China und Indien. In China werden viele der Wirkstoffe in chemischen Fabriken hergestellt. Diese Substanzen werden dann oftmals nach Indien verschifft. Dort werden sie zu den Säften angerührt oder zu den Tabletten gepresst, die hierzulande verkauft werden.

Die Medikamente, von denen Europa abhängig ist, sind allesamt Generika, Nachahmerprodukte zu Originalmedikamenten. Die Generikaherstellung wurde in Europa über die Jahre immer weniger lukrativ, etwa weil die Personalkosten hier höher und die Umweltauflagen strenger sind als in Asien. Für Arzneimittelhersteller rechnet sich die Produktion in Europa heute kaum mehr.

Bei Antibiotika sind Europas Probleme am offensichtlichsten. Clemens Fuest, Ökonom und Leiter des Ifo-Instituts München, sagte gegenüber der «Zeit» kürzlich, lieferte China keine Antibiotika mehr, wäre Deutschland «in vier Wochen ein Notstandsgebiet». Aber auch bei anderen Medikamenten bestehen Probleme. Bei Schmerzmitteln sowie Cholesterinsenkern und anderen Mitteln gegen Herz-Kreislauf-Erkrankungen kam es in den vergangenen Jahren regelmässig zu Lieferengpässen.

Lieferengpässe gibt es immer wieder

Um die Abhängigkeit anzugehen, publizierte die EU-Kommission kurz nach dem offenen Brief der Gesundheitsminister den Entwurf für eine «Critical Medicines Act». Lieferkettenabhängigkeiten sollen analysiert und Massnahmen zur Wiederansiedlung gewisser Produktionen erarbeitet werden.

Derzeit listet das deutsche Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) 530 Lieferengpässe auf. Allerdings bedeutet das nicht, dass in Deutschland 530 unterschiedliche Medikamente fehlen. So gibt es derzeit beispielsweise einen Engpass für den Cholesterinblocker Atorvastatin. Statine senken das Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Von dem Lieferengpass betroffen sind 6 Arzneimittel, die sich in ihrer Dosierung unterscheiden.

Ein Lieferengpass bedeutet nicht in jedem Fall einen Mangel und damit einen lebensbedrohlichen Zustand für die Patienten. Um beim Beispiel Cholesterinsenker zu bleiben: Es gibt mehrere, sehr ähnliche Wirkstoffe wie Atorvastatin. In der Regel werden die Konkurrenzprodukte von anderen Firmen hergestellt. Fehlen nun also die Tabletten mit Atorvastatin, können Ärzte und Apothekerinnen den Patienten ein anderes Statin geben. Einen nicht umgehbaren Mangel gibt es gemäss BfArM derzeit nur bei 4 Wirkstoffen.

Will Europa bei Medikamenten unabhängiger werden, müssen Ärzte und Patienten akzeptieren müssen, dass weniger Auswahl gibt. So etwa bei Cholesterinsenkern. Bild: Imago

Weniger Abhängigkeit von Asien bedingt mehr Produktion in Europa

Andreas Burkhardt ist Vorstandsvorsitzender des deutschen Branchenverbandes Pro Generika. Er sagt: «Am Ende ist es ein politischer Entscheid: Was will ich selbst produzieren, um unabhängig zu sein? Was kaufe ich mir ein, weil ich es dadurch billiger bekomme?»

Ein grosser Teil der Wirkstoffproduktion findet heutzutage in Europa überhaupt nicht mehr statt. Hingegen gibt es bei der Herstellung der fertigen Arzneimittel in Europa noch beträchtliche Kapazitäten. Burkhardt ist der Meinung, dass – sofern es genug Anreize gäbe – die Unternehmen ihre Kapazitäten erweitern und die Produktion ausbauen könnten.

Aber bliebe Europas Abhängigkeit von Asien nicht einfach bestehen, wenn zwar hierzulande mehr fertige Medikamente produziert würden, aber die Wirkstoffe dafür weiterhin aus Asien kämen? Burkhardt widerspricht. Wer zumindest Teile der Lieferkette zurückhole, verschaffe sich damit Zeit, bis man von einem Engpass getroffen werde.

Welche Medikamente sollen hier produziert werden?

Politikerinnen und Politiker wollen nun mittels Listen definieren, welche Medikamente für Europa besonders wichtig sind. Wie lang diese Liste werden soll, ist derzeit noch offen. Burkhardt hält es für realistisch, dass 150 kritische Medikamente in Europa produziert werden könnten.

In einer Risikoliste sollten gemäss Medizinern zum einen Medikamente aufgeführt werden, die im akuten Bedarfsfall absolut lebensnotwendig sind. Dazu zählen zum Beispiel Antibiotika, Asthmamittel oder manche Krebsmedikamente. Zum anderen sollten Präparate gelistet werden, bei denen eine Einnahmepause mittel- oder langfristig schwere Schäden auslöst, wie zum Beispiel Blutdrucksenker oder Psychopharmaka.

Damit eine Risikoliste nützlich ist, muss sie zentral für die EU erstellt werden. Denn kein Land kann Dutzende von Medikamenten zu Hause herstellen. Es sind also zahlreiche Kompromisse nötig. So gibt es auch bei Medikamenten kulturelle Unterschiede in den einzelnen EU-Ländern. Ärzte und Patienten werden akzeptieren müssen, dass es nicht mehr die Auswahl aus 7 Cholesterinsenkern gibt.

Teurere Medikamente für mehr Sicherheit

Die entscheidenden Fragen sind am Schluss dieselben wie bei allen anderen geopolitisch motivierten Unabhängigkeitsbemühungen: Wer soll das bezahlen? Und wie viel kostet das überhaupt?

Die eingangs erwähnten Gesundheitsminister fordern, dass Teile der Finanzierung in den EU-Plänen für Verteidigungsausgaben verankert sein sollten. Burkhardt zieht ebenfalls Parallelen zur Verteidigung. Er fordert Quoten für in Europa hergestellte Medikamente – auch bei Rüstungsgütern sei es ja so, dass ein gewisser Teil aus europäischer Produktion bezogen werden solle, um unabhängiger zu sein. Man müsse jeweils europäischen Produzenten Planungssicherheit bieten.

Quelle: Progenerika

Andreas Burkhardt, Vorstandsvorsitzender des deutschen Branchenverbandes Pro Generika.

Doch wie viel mehr die Unabhängigkeit Europa genau kosten würde, lässt sich erst sagen, wenn die Risikoliste steht und die EU entschieden hat, für welche Medikamente sie die Produktion ganz oder teilweise zurückholen will.

Ein gangbarer Weg zur Finanzierung wäre wohl, dass die Massnahmen durch eine leichte Anhebung der Generikapreise ganz oder teilweise bezahlt werden. Die meisten Generika seien derzeit so billig, da fiele eine Preiserhöhung um 10 Prozent kaum ins Gewicht, sagen die Hersteller.

Die EU-Kommission hat für die Massnahmen 80 Millionen Euro budgetiert. Burkhardt bezweifelt, dass damit wirklich etwas erreicht werden könne. Es brauche mehr Geld, das sei offensichtlich.

Die Schweiz will Risiken ebenfalls reduzieren

Neben der EU befasst sich auch die Schweiz mit der Medikamentenproblematik. Sie hat im vergangenen Jahr einen Massnahmenkatalog gegen Lieferengpässe von Arzneimitteln erstellt. So soll die Produktion von Medikamenten im Land teilweise durch den Bund bezahlt werden. Der Bund ist überzeugt, dass sich das rechnet, weil die Engpässe bei Arzneimitteln jährlich Kosten von geschätzt 250 Millionen Franken verursachen.

Zudem sollen Importe erleichtert oder Zulassungen vereinfacht oder gar von anderen Ländern übernommen werden. Die Schweiz hat nämlich ein spezielles Problem. Manchmal verzichten Hersteller darauf, in der Schweiz eine Zulassung zu beantragen, weil der Markt zu klein ist. Somit lohnt sich das Prozedere für sie nicht. Bei diesem Punkt sowie der Erstellung einer Risikoliste fordert der Bundesrat eine Zusammenarbeit mit der EU.

So wird der Handlungsbedarf zwar mittlerweile von allen Beteiligten gesehen. Aber es hapert nach wie vor an der Umsetzung der Programme und Massnahmen. Die Politiker täten gut daran, rasch zu handeln und das Arzneimittelproblem ebenso entschlossen anzugehen wie jenes mit der Artilleriemunition.

Philipp Wolf, Stephanie Lahrtz, «Neue Zürcher Zeitung» (19.06.2025)

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Dieser Artikel behandelt folgende SDGs

Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.

3 - Gesundheit und Wohlergehen

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