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Der laut verfochtene Antirassismus lenkt vom Klassenkampf ab

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Gesellschaft

Der laut verfochtene Antirassismus lenkt vom Klassenkampf ab

Arm oder reich? Die materiellen Lebensgrundlagen definierten den gesellschaftlichen Status eines Menschen stärker als die Hautfarbe oder die sexuelle Orientierung – das schreibt der Literaturwissenschafter Walter Benn Michaels und macht sich damit wenig Freunde.

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Der amerikanische Literaturwissenschafter Walter Benn Michaels bringt etwas in die Diskussion um die Identitätspolitik, was man in der meist mit grosser Verbissenheit und auch Selbstgerechtigkeit geführten Debatte selten findet: ein Augenzwinkern und eine Prise Selbstironie.

Das zeigt nicht zuletzt das gewitzte Schlusskapitel seines Buches «Der Trubel um Diversität». Der renommierte Professor der Universität von Illinois unternimmt darin eine lebensweltliche Selbstverortung und lässt die Leser unter anderem wissen, dass er mit einem jährlichen Haushaltseinkommen von rund 250 000 US-Dollar recht gut von jenem kapitalistischen System lebt, das er als marxistisch geschulter Kopf gerne abschaffen möchte.

Im amerikanischen Original ist Michaels’ Buch bereits 2006 erschienen, und es ist zu begrüssen, dass der Band nun auch dem deutschsprachigen Publikum zugänglich ist – ausgestattet mit einem ausführlichen neuen Vorwort des Autors, in dem dieser sowohl über die Entwicklungen der Debatte in den vergangenen fünfzehn Jahren als auch über die eigenen Erfahrungen seit der amerikanischen Erstveröffentlichung reflektiert.

Dazu gehört leider das mittlerweile auch an deutschsprachigen Universitäten Sitte gewordene Ausladen von Referenten auf Druck von Studierenden und Lehrenden, weil diesen die eine oder die andere Meinung des Kollegen emotionales Unbehagen bereitet. Michaels erging es so im Falle einer deutschen Fachtagung Anfang 2021, in deren Vorfeld ein Teilnehmer die englischsprachige Ausgabe seines Buches in die Hand bekommen und als Form von «Gewalt» empfunden hatte.

Den Status quo bewahren

Dass Michaels’ Buch vor allem von Apologeten einer linken Identitätspolitik als gefährlich wahrgenommen wird, überrascht nicht. Selbst ein Linker und Anhänger des populären «demokratischen Sozialisten» Bernie Sanders, attackiert Michaels das vermeintlich auf Gleichheit zielende identitätspolitische Narrativ an einer Stelle, wo es besonders weh tut: Jenen, die sich Identität und Diversität auf die Fahne schreiben, wirft der Autor vor, nicht auf gesellschaftliche Veränderung, sondern auf die Bewahrung des Status quo hinzuwirken.

Das könne man unter anderem daran ablesen, dass globale Unternehmen bis Ende 2020 rund 35 Milliarden US-Dollar in die Förderung identitätspolitischer Anliegen wie beispielsweise die Schaffung firmeneigener «safe spaces» für Menschen mit Migrationshintergrund gesteckt hätten. Geld, das sicher nicht geflossen wäre, wenn die Unternehmen damit eine ernsthafte Gefährdung ihrer kapitalistischen Existenzgrundlage verbinden würden.

Vom identitätspolitischen Zeitgeist erfasste geistes- und sozialwissenschaftliche Institute der Universitäten sind für Michaels keine Brutstätten des Linksradikalismus, sondern «Forschungs- und Entwicklungsabteilungen des Neoliberalismus», deren Antirassismus ein Manöver zur Ablenkung von der eigentlichen gesellschaftlichen Herausforderung: dem Klassenkampf.

Denn für Michaels definieren eben nicht Identitäten den gesellschaftlichen Status, sondern die sozialen und materiellen Lebensbedingungen. Anders gesagt: Ökonomische Ungleichheit ist ein sehr viel grösserer Differenziator als Hautfarbe, Geschlecht und sexuelle Orientierung.

Was bedeutet Gleichheit?

So wurden laut Michaels die Vereinigten Staaten in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten zwar kulturell immer diverser und inklusiver, gleichzeitig aber die Armen immer ärmer und die Reichen noch reicher. Dass dieser Trend sich fortsetzen wird, schliesst er aus den Zulassungen zu jenen Bildungseinrichtungen, die künftigen Wohlstand versprechen: Die Eliteuniversitäten der Ivy League spiegelten bei der Auswahl ihrer Studierenden zwar mittlerweile recht präzise die ethnische Bevölkerungsstruktur des Landes wider, doch stamme die grosse Mehrzahl aus Familien, die über 125 000 US-Dollar und mehr Jahreseinkommen verfügten. Eine ähnliche Entwicklung beobachtet der Autor auch in Europa.

Vergleichbare Paradoxe finden sich bei Michaels viele, was sein Buch zu einer ebenso erhellenden wie informativen Lektüre macht. Dass er damit bei einer identitätspolitischen Linken auf Gehör stösst, ist allerdings zu bezweifeln. Denn der Band offenbart auch die diametral konträre Auffassung davon, was linke Politik heute ausmacht.

Während Michaels die Angleichung der sozialen Lebensbedingungen in einem klar definierten (nationalen) Raum als Gradmesser einer gerechten Politik ansieht, ist der Gleichheitsanspruch einer identitätspolitischen Linken primär kultureller Natur und obendrein örtlich ungebunden. Den Hyperkapitalismus der Digitalkonzerne stellt sie weniger infrage, als dass sie ihn für ihre Zwecke nutzt. Zwischen diesen unterschiedlichen Welten Anknüpfungspunkte zu finden, damit kämpfen derzeit die Strategen linker und liberaler Parteien weltweit.

Der Historiker David Cannadine hat mit Blick auf das britische Empire einmal darauf hingewiesen, dass im 19. Jahrhundert die Vertreter der Oberschichten in den verschiedenen Ländern und Kulturen sehr viel mehr miteinander gemeinsam hatten als mit Mitgliedern der ärmeren Klassen in ihrer jeweiligen Heimat. Blickt man auf Aktionsradius und Agenda einer heutigen identitätspolitischen Linken, deutet sich eine gewisse Parallele an.

Walter Benn Michaels: Der Trubel um Diversität. Wie wir lernten, Identitäten zu lieben und Ungleichheit zu ignorieren. Aus dem Englischen von Christoph Hesse. Edition Tiamat, Berlin 2021. 300 S., Fr. 37.90.

Florian Keisinger, «Neue Zürcher Zeitung» (22.12.2021)

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