Biodiversität in der Schweiz: Wie wirksam sind die Massnahmen, die schon ergriffen wurden? Die wichtigsten Antworten
Zu vielen Aspekten der Artenvielfalt lassen sich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gesicherte Aussagen machen.
Die Langhornbiene ist eine der mehr als 600 in der Schweiz nachgewiesenen Wildbienenarten. 279 von ihnen, das sind 45 Prozent, sind gefährdet, 59 sind in den vergangenen dreissig Jahren ausgestorben. Bild: Imago
Zu vielen Aspekten der Artenvielfalt lassen sich auf Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse gesicherte Aussagen machen.
4 Min. • • Anna Weber, Esther Widmann, «Neue Zürcher Zeitung»
Säugetiere, Pflanzen, Pilze, Vögel, Insekten: Geschätzt 85 000 mehrzellige Arten von Lebewesen gibt es in der kleinen Schweiz – ungefähr gleich viel wie in anderen, grösseren Ländern Europas. Viele dieser Arten sind an spezielle Lebensräume angepasst, die es nur in den Alpen gibt. Die Schweiz hat deshalb eine besondere internationale Verantwortung, sie zu schützen.
Was ist der Stand der Biodiversität in der Schweiz?
Bei Biodiversität ist oft von drei Ebenen die Rede. Eine davon ist die Vielfalt der Arten. Laut der Roten Liste sind hierzulande derzeit 41 Prozent aller bewerteten Tierarten gefährdet oder ausgestorben, bei den Pflanzen sind es 30 Prozent. Im Vergleich zu benachbarten Ländern ist der Anteil gefährdeter oder ausgestorbener Arten in der Schweiz besonders hoch.
Eine weitere Ebene der Biodiversität sind die Lebensräume. In der Schweiz gibt es insgesamt 225 verschiedene Typen von Lebensräumen, vom Brombeergestrüpp über Gletscherbäche bis hin zum Erdseggen-Engadinerföhrenwald. Fast die Hälfte der bewerteten Schweizer Lebensräume gelten laut der Roten Liste derzeit als bedroht. Verschwindet ein ganzer Lebensraum, verschwinden auch die auf diesen Lebensraum spezialisierten Tier- und Pflanzenarten.
Schliesslich ist auch die genetische Vielfalt von Organismen eine wichtige Grösse für die Biodiversität. Wenn Arten nur noch in vereinzelten Gebieten vorkommen, die nicht miteinander verbunden sind, pflanzen sich kleine Gruppen von Individuen nur noch untereinander fort. Dann verarmen sie genetisch, was sie wiederum anfälliger macht für Krankheiten oder kleine Veränderungen in der Umgebung. Zur genetischen Vielfalt von Arten in der Schweiz gibt es aber bis jetzt nur sehr wenige Daten.
Gelten seltene Arten automatisch als bedroht?
Nein. Damit die Rote Liste eine Art als bedroht einstuft, müssen mehrere Kriterien erfüllt sein. Fast immer gehört dazu, dass die Bestände seit der letzten Erhebung abgenommen haben. Nur wenn von einer Art nur noch weniger als tausend fortpflanzungsfähige Individuen existieren, gilt sie auch bei gleichbleibendem Bestand als bedroht. Dieses Kriterium wurde bei der heutigen Roten Liste bei 8 Prozent der gefährdeten Pflanzenarten angewendet.
Geht es mit der Biodiversität bergauf oder bergab?
Das kommt darauf an, über welche Zeiträume man die Biodiversität bewertet. Schaut man sich die langfristige Entwicklung seit 1900 an, ist die Biodiversität stark zurückgegangen. Das lässt sich aus alten Herbarien, Schmetterlingssammlungen und Aufzeichnungen schliessen. Viele Arten, die früher offenbar häufig vorkamen, findet man heute gar nicht mehr oder nur noch sehr selten.
Eine gute Datengrundlage zur Biodiversität gibt es aber in der Schweiz erst seit den 1990er Jahren. In den letzten dreissig Jahren ging es in manchen Bereichen bergauf. Besonders bei grossen Tieren wie Luchs, Biber, Wolf oder Steinadler haben sich die Populationen erholt, und die ehemals gefährdeten Arten kommen wieder häufiger vor. Das liegt vor allem daran, dass diese Tiere stark durch die Bejagung gefährdet waren und sich diese regulieren lässt. Lebewesen, die aufgrund des Rückgangs ihres Lebensraumes bedroht sind, lassen sich deutlich schwieriger schützen.
Für viele andere Arten stagnierte daher die Situation auf dem tiefen Niveau der neunziger Jahre oder wurde sogar noch schlechter. Gerade Spezialisten wie der Gletscherfalter, die Herbst-Wendelähre oder das Rebhuhn, die sich stark an einen bestimmten Lebensraum angepasst haben, haben es schwer. Generalisten wie Krähen, die sich in vielen verschiedenen Umgebungen wohlfühlen, breiten sich hingegen aus.
Insgesamt erkennen Experten keine Trendwende, die für eine generelle Erholung der Biodiversität sprechen würde.
In der Schweiz gibt es wieder mehr Biber – ein Erfolg. Doch Arten zu schützen, indem man ihre Bejagung verbietet, ist viel einfacher, als zerstörte Lebensräume wiederherzustellen. Bild: Imago
Wie wirksam sind die Massnahmen, die schon ergriffen wurden?
Die bisher ergriffenen Massnahmen zeigen Wirkung, reichen aber nicht aus, um den Rückgang der Biodiversität aufzuhalten.
Auf geschützten Flächen stellt man eine deutlich höhere Biodiversität fest. Allerdings sind die geschützten Biotope häufig voneinander isoliert, was die genetische Vielfalt der dort lebenden Arten beeinträchtigen kann und langfristig zum Problem werden könnte.
Gewisse Arten kommen heutzutage nur deshalb noch in der Schweiz vor, weil ihr Lebensraum aktiv geschützt wurde. Dazu zählen zum Beispiel das Grosse Mausohr, eine Fledermausart, der Moor-Steinbrech, eine europaweit vom Aussterben bedrohte Blume, oder die Kreuzkröte, die ursprünglich in Flussauen lebt. Von manchen dieser Arten ist in der Schweiz nur noch eine einzige Population bekannt, die ohne die expliziten Bemühungen sofort verschwinden würde.
Heute sind 13,4 Prozent der Landesfläche der Schweiz als Gebiete für den Erhalt der Biodiversität ausgewiesen. Laut dem Übereinkommen über die biologische Vielfalt von 1992 hätten es bis 2020 bereits 17 Prozent sein sollen. Der Ausbau schreitet also langsamer voran als geplant.
Der fleischfressende Rundblättrige Sonnentau ist geschützt und wird als potenziell gefährdet eingestuft. Denn sein Lebensraum, die Moore, sind in der Schweiz jahrhundertelang systematisch vernichtet worden. Bild. Karin Hofer / NZZ
Warum ist Biodiversität wichtig?
Biodiversität ist die Grundlage für ein stabiles Ökosystem, und stabile Ökosysteme bilden unsere Lebensgrundlage.
Die vielfältigen Nutzen der Natur für den Menschen werden oft unter dem Begriff «Ökosystemleistungen» zusammengefasst. Dazu zählen das Bestäuben von Nutzpflanzen durch Insekten, das Filtern von Wasser durch Bodenorganismen, der Schutz vor Extremereignissen wie Erdrutschen, Stürmen oder Hitzewellen und vieles mehr.
Die Schweiz hat ausserdem eine besondere Verantwortung für viele kälteliebende Arten, die häufig nur in den Bergen überleben können. Werden sie in der Schweiz nicht geschützt, droht ihnen weltweit das Aussterben. Insgesamt 39 Arten kommen sogar nur in der Schweiz vor.
Anna Weber, Esther Widmann, «Neue Zürcher Zeitung» (06.09.2024)
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Dieser Artikel behandelt folgende SDGs
Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.
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