«Zerstören wir die Biodiversität, zerstören wir unsere Zukunft»
Im Kampf gegen den Biodiversitätsverlust revolutioniert ETH-Professorin Kristy Deiner die Forschung, spürt neue Arten auf und konkurriert in internationalen Wettbewerben.
ETH-Professorin Kristy Deiner testet die Drohne für ihre Teilnahme am XPRIZE Rainforest-Wettbewerb. Fotos: ETHZ
Im Kampf gegen den Biodiversitätsverlust revolutioniert ETH-Professorin Kristy Deiner die Forschung, spürt neue Arten auf und konkurriert in internationalen Wettbewerben.
5 Min. • • Anja Ruoss, Sustainable Switzerland Editorial Team
Das leise Summen einer Drohne durchschneidet die Stille über einem Waldstück im Kanton Zürich. Knapp über den Baumwipfeln schwebend, scheint das kleine Gerät etwas zu suchen. Plötzlich stoppt es in der Luft. An einem dünnen Draht senkt die Drohne ein kleines Stück Papier langsam in das grüne Blätterdach hinab – und zieht es nach wenigen Minuten vorsichtig wieder zurück. Dann dreht sie ab und fliegt zielsicher zum Waldrand, wo eine Gruppe Forschender bereits gespannt auf ihre Rückkehr wartet.
Das BiodivX-Team arbeitet im Bereich der Umwelt-DNA (eDNA) – einer Technik, die es ermöglicht, die DNA von Lebewesen direkt aus Wasser- und Bodenproben oder sogar aus der Luft zu extrahieren. Ziel ist es, nachzuweisen, welche Lebewesen in einer Umgebung existieren, ohne dass diese direkt beobachtet oder gefangen werden müssen. Gemeinsam mit Experten aus dem Bereich Robotik hat diese Methode Kristy Deiner, ETH-Professorin und Pionierin auf dem Gebiet, entwickelt. Seit fünf Jahren arbeitet sie an der Technologie – einer Revolution der Biodiversitätsforschung –, die sie nun am unscheinbaren Waldrand testet. «Dank der eDNA können wir alle Arten bestimmen, die in den letzten Tagen bis Wochen an diesem Ort waren», erklärt Deiner.
Artenvielfalt dramatisch zurückgegangen
Die Schweiz mit ihrer vielfältigen Landschaft aus Bergen, Wäldern und Gewässern bietet einen einzigartigen Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten. Doch wie in vielen anderen Teilen der Welt ist auch hier die Biodiversität bedroht. «Viele Lebensräume und Arten Europas haben in den letzten 100 Jahren dramatische Rückgänge erlitten», erläutert Deiner. «Dieser Verlust wird jedoch von verschiedenen Generationen auf unterschiedliche Weise erinnert, wodurch sich der Ausgangswert verschiebt.» Als Beispiel dafür nennt sie die Feuchtgebiete im Kanton Zürich. Diese haben seit 1850 fast 92 Prozent ihrer ursprünglichen Fläche eingebüsst. «Doch wenn wir auf ein Feuchtgebiet treffen und dabei Vögel, Insekten oder Blumen beobachten, denken wir oft: Wie wunderschön dieser Ort ist, hier muss alles in Ordnung sein. Diese Fehleinschätzung resultiert daraus, dass uns nicht bewusst ist, wie solche Lebensräume einst aussahen und wie weit verbreitet sie waren.»
Die Schweiz mit ihrer vielfältigen Landschaft aus Bergen, Wäldern und Gewässern bietet einen einzigartigen Lebensraum für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten.
Die Diskussion um das Biodiversitätsgesetz, das am 22. September zur Abstimmung steht, verfolgt Kristy Deiner mit grossem Interesse. Als US-Amerikanerin ohne Stimmrecht in der Schweiz engagiert sie sich auf ihre Weise: indem sie ihr Wissen teilt und Bewusstsein schafft. «Wir sind vollständig von der Biodiversität abhängig. Sie zu zerstören, bedeutet, unsere eigene Zukunft zu zerstören», sagt Deiner. Es sei entscheidend, die übrig gebliebene Natur zu schützen. «Das allein reicht jedoch nicht aus. Es ist notwendig, das Land und die Gewässer wieder herzustellen und zu rehabilitieren. Biodiversität braucht Platz zum Gedeihen.» Deiner dreht sich um und deutet mit einer Handbewegung auf die Wohnhäuser, die nur wenige 100 Meter vom Waldrand entfernt stehen. «In der Schweiz stösst man selbst in den entlegensten Gegenden auf menschliche Spuren. Menschen sind allgegenwärtig. Deshalb müssen wir ein besseres Gleichgewicht finden, das die Bedürfnisse der Menschen mit dem Schutz der Natur in Einklang bringt.»
Die ETH-Professorin zeigt jedoch auch Verständnis für diejenigen, die die Situation weniger dramatisch beurteilen. «Ohne die meisten Arten sehen zu können, ist es schwer, sich ihre Bedeutung vorzustellen und eine Beziehung zu ihnen herzustellen», sagt Deiner. «Daher haben wir mit der eDNA-Analyse eine Methode entwickelt, um alle Lebensformen zu überwachen und ihnen eine Stimme zu geben.»
Kristy Deiner sammelt am Ufer des Lauenensees eDNA-Proben.
Mit ihrer Technologie engagiert sich Deiner in verschiedenen Projekten schweizweit und arbeitet eng mit lokalen Gemeinschaften zusammen. «Ich habe die Gelegenheit, Anwohner von Quellgebieten eines Bachs bis zu seinem Ausfluss in einen See zu treffen. Diese Gemeinschaften sind miteinander verbunden und heute verstehen diese Menschen, dass das, was stromaufwärts passiert, die Umwelt und Wahrnehmung stromabwärts verändern kann.» Oft münde dies in eine Debatte zwischen ländlichen und städtischen Gebieten. «Das ist nicht nur für die Schweiz, sondern weltweit typisch», ergänzt Deiner. «Doch wir können nicht lokal produzierte Lebensmittel wollen und dann darüber klagen, dass die Landwirtschaft Wasserwege verschmutzt.» Die Expertin betont deshalb die Notwendigkeit der Zusammenarbeit: «Nur wenn die Menschen über die erforderlichen Informationen verfügen oder die Daten gleich am besten selbst sammeln, besteht die Grundlage, um gemeinsame Lösungen zu erarbeiten.»
Einsatz von eDNA für Naturschutzprojekte
Um ihre Forschung noch weiter in die Praxis umzusetzen, hat Deiner gemeinsam mit ihrer Kollegin Dr. Elvira Mächler das ETH-Spin-off SimplexDNA gegründet. Ihr Fokus liegt dabei in der Überwachung von invasiven Arten durch eDNA. «Wir arbeiten weltweit an mehreren Projekten, von der Überwachung der derzeit in der Schweiz eindringenden und sich ausbreitenden Quaggamuschel bis hin zur Messung der Biodiversität wiederhergestellter Mangroven in Senegal für das Ausstellen von Co2-Zertifikaten.»
Im Final eines globalen Wettbewerbs
Auch im Rahmen des XPRIZE-Rainforest-Wettbewerbs haben Deiner und das Team BiodivX die selbst entwickelten Technologien unter realen Bedingungen getestet. Ziel des Wettbewerbs war es, innovative Verfahren zu erarbeiten, mit denen die Biodiversität von Regenwäldern überwacht werden kann.
Als eines von sechs Finalistenteams mussten die Forschenden aus Zürich innerhalb von 72 Stunden Informationen über die Artenvielfalt des brasilianischen Regenwalds generieren. «Das Zeitlimit hat uns vor eine grosse Herausforderung gestellt», erzählt Deiner. «Wir mussten einen Arbeitsablauf, der normalerweise etwa 70 bis 100 Stunden dauert, auf 15 Stunden reduzieren und sowohl die Genauigkeit als auch die Präzision erhalten.» Um die Vorgaben zu erfüllen, baute das Team ein Rucksacklabor, das überall eingesetzt werden kann und sehr wenig Strom oder Kühlung benötigt. Laut Deiner ein Quantensprung in ihrer Forschung: «Das ist enorm und wird den Zugang zur Technologie erheblich erleichtern.»
Die Proben wurden mit einer Drohne aus einer Entfernung von bis zu 1,6 Kilometern gesammelt. «Das ist eine Leistung, die ich nie für möglich gehalten hätte», sagt Deiner. Insgesamt konnte das Team DNA-Material von mehr als 300 wahrscheinlich einzigartigen Arten des Regenwalds analysieren – in nur 16 Proben. Wie sie in dem internationalen Wettbewerb abgeschnitten haben, erfahren die Zürcher Forschenden jedoch erst Ende Jahr. Ihre Ergebnisse können im Video eingesehen werden.
Deklaration: Dieser Inhalt wurde vom Sustainable Switzerland Editorial Team im Auftrag der ETH Zürich erstellt.
Dieser Artikel behandelt folgende SDGs
Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.
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