Köbeles Aufmerksamkeit richtet sich allerdings weniger auf die Schweiz, sondern vielmehr auf die Länder weiter östlich: Österreich, Slowenien, Tschechien, die Slowakei und Südpolen stehen jetzt im Fokus von Meteorologen. In diesen Gebieten dürften die Auswirkungen der Vb-Wetterlage wohl am heftigsten sein. Köbele rechnet mit grossflächig 150 bis 250 Litern Regen pro Quadratmeter in wenigen Tagen. Einzelne, aber noch unsichere Modellprognosen gingen sogar von Regenmengen von 300 bis 400 Litern aus, sagt er. So oder so: Die umfangreichen Niederschläge dürften zu Überschwemmungen und Hochwasser führen. Für Vb-Wetterlagen seien diese aber nicht aussergewöhnlich hoch, solche Mengen kämen immer wieder vor.
Am Anfang steht das Italien-Tief
Vb (fünf b) ist eine alte Klassifikation für Grosswetterlagen, die heute eigentlich nicht mehr verwendet wird. Sie stammt vom deutschen Meteorologen Wilhelm Jacob van Bebber, der 1891 typische Zugbahnen von Tiefdruckgebieten mit römischen Zahlen nummerierte. Überdauert hat nur das Kürzel Vb, es steht für eine besonders gefährliche Wetterlage. Dabei fliesst hochreichende Kaltluft in den Mittelmeerraum und löst über Norditalien ein Tiefdruckgebiet aus, das vom Golf von Genua zur Adria zieht und von dort weiter nach Norden zur Ostsee und ins Baltikum. So steht es jedenfalls im Lehrbuch.
Durch den Vorstoss hochreichender Kaltluft aus der Arktis an den Rand der heissen Subtropen saugt sich die Luft über dem noch warmen Mittelmeer mit Wasserdampf voll. Über das östliche Mittelmeer strömt sie in einer scharfen Kurve wieder nach Norden. Das sich bildende Tiefdruckgebiet, das wegen seines Geburtsorts am Golf von Genua auch Genua-Tief genannt wird, wird somit auf einer Vb-Zugbahn einmal um die Alpen herumgeführt. Am östlichen Ende der Alpen gleitet die warme Luft schliesslich auf die Kaltluft auf und löst so intensiven Dauerregen in Bayern, Österreich, Tschechien und Polen aus.
Doch nicht jede Lage ist gleich. Dieses Mal handle es sich um eine östliche Variante der Vb-Lage, erklärt Köbele. Das Tief entwickelt sich nicht über dem Golf von Genua, sondern über der Adria und zieht von dort nach Norden – in Kroatien und Slowenien blitzt und donnert es deshalb gewaltig. Süd- und Ostdeutschland, die bei Vb-Wetterlagen häufig am schwersten getroffen werden, bleiben dadurch weitgehend verschont. Eine Hochwasserkatastrophe wie im August 2002 oder im Juni 2013 dürfte daher in Deutschland ausbleiben. Auch in der Schweiz ist keine grössere Überschwemmung in Sicht, die Zugbahn des Tiefs liegt glücklicherweise zu weit östlich.
Dafür trifft es die östlichen Nachbarn umso schlimmer. Sorgenvoll blicken Meteorologen und Hydrologen auf die bergigen Regionen in den betroffenen Gebieten wie dem Riesen- und dem Altvatergebirge in Tschechien, dem Glatzer Schneegebirge im Grenzraum zu Polen oder den Ostalpen in Österreich. Hier drohen in engen Gebirgstälern gefährliche Sturzfluten und Murenabgänge und möglicherweise ähnlich verheerende Zustände wie im Ahrtal vor drei Jahren. In höheren Lagen kann es auch Schneebruch geben.
Am Mittelmeer droht ein Unwetterherbst
Je nach Anströmung könnten sich die Wolken in diesen Regionen gefährlich stauen und eingelagerte Schauer und Gewitter verursachen, die die prognostizierten immensen Regenmengen zusätzlich erhöhen. In den Wettermodellen zieht das verantwortliche Tief zudem nicht zur Ostsee ab, sondern wird in der Region regelrecht eingeklemmt. Dadurch könnte es bis in die neue Woche hinein schütten. Da in diesen Gebieten die Einzugsgebiete von Elbe, Oder und Neisse liegen, drohen in Deutschland zumindest hohe Pegelstände.
Die kritische Wetterlage in Mitteleuropa könnte aber erst der Anfang sein. Da die durchschnittliche Oberflächentemperatur des Mittelmeers weiterhin zwei Grad höher liegt als im langjährigen Schnitt, könnte vor allem rund um das Mittelmeer ein Unwetterherbst bevorstehen. Der hohe Wasserdampfgehalt der Luft bietet erhöhtes Potenzial für schwere Gewitter und subtropische Wirbelstürme, sogenannte Medicanes. Diese kurzlebigen Stürme entwickeln sich im Spätsommer und im Herbst und bringen verheerende Regenmengen und Wind in Orkanstärke. Vor einem Jahr wütete ein Medicane in Libyen, in der Hafenstadt Darna starben nach dem Bruch zweier Staudämme Tausende Menschen.
Wie von Wissenschaftern schon seit Jahrzehnten vorhergesagt, erwärmt sich im Zuge des Klimawandels die Region ums Mittelmeer besonders schnell. Die Sommer werden heisser und trockener, die Wassertemperaturen steigen unter der mediterranen Hitzeglocke stark an. Schon jetzt sind auftretende Niederschläge um zehn bis zwanzig Prozent intensiver, wie Klimaforscher zeigen, in Schauern und Gewittern sogar noch stärker. Auf diese Zunahme sind Rückhaltebecken oft nicht ausgelegt, dann können sie überlaufen. Der Klimawandel wird solche Extremereignisse in Zukunft rund ums Mittelmeer weiter verschärfen.