Jürg Strauss ist 36 Jahre alt und Bauer in Rickenbach bei Winterthur, und dauernd sagt er Dinge, über die man sich wundern kann. Zum Beispiel:
«Mehr als 45 Stunden Arbeit pro Woche ist für uns ein No-Go.»
Oder: «Ich hatte keinen Stress.» Das bezieht sich darauf, wie er eigenhändig 1200 Obstbäume geschnitten hat.
Die Bäume, und das könnte man ebenfalls seltsam finden, stehen auf seinen Äckern, dort, wo sonst nur Getreide oder Gemüse wachsen würden. An diesem kalten Frühlingsmorgen wollte er auf die Streifen zwischen den Baumreihen eigentlich Linsen säen, aber der Boden ist doch noch zu nass, nun ja, dann eben nächste oder übernächste Woche. Jürg Strauss, Bauer in achter Generation, zuckt mit den Schultern. Er hat die Linsen auch schon einmal im Februar gesät, das war zu früh. Er hat sie schon einmal Mitte April gesät, dann war der Sommer verregnet. «Man weiss ja sowieso nicht, wie es kommt», sagt er.
Und das bedeutet für ihn: Man kann auch etwas ausprobieren. Sein Vater hat damit angefangen, vor zwanzig Jahren war das. Da hat der Vater sich gedacht: ob man nicht unter den Obstbäumen noch etwas anbauen könnte, Getreide zum Beispiel. Man konnte. Und so begann auf dem biologisch bewirtschafteten Hof eher zufällig und ungeplant das, was Jürg Strauss heute auf fast seiner gesamten Fläche von zwölf Hektaren macht: Agroforst.
Moderner Agroforst ist für Maschinen optimiert
Bis zur zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts standen auf allen Feldern der Welt Bäume. Einen Baum samt Stumpf und Wurzeln zu entfernen, war viel zu viel Aufwand. Die Landwirtschaft wurde jedoch immer weiter mechanisiert, und nun waren die Bäume den Maschinen im Weg. Ausserdem: Wo ein Baum steht, kann kein Weizen, Mais und keine andere Feldfrucht wachsen. Er nimmt Platz weg, und seine Wurzeln saugen Wasser auf, das dann den Ackerpflanzen fehlt. Also kamen die Bäume weg.
Aber Bäume haben viele Vorteile, auch für die Landwirtschaft, und die können in Zeiten des Klimawandels und der schwindenden Biodiversität entscheidend sein. Sie brechen den Wind. Sie halten Wasser im Boden, das sonst verdunsten würde. Ihre Kronen spenden Schatten. Sie sind Lebensraum für Insekten und Vögel. Und wenn sich ihre Früchte oder ihr Holz ernten lassen, bedeuten sie keinen Flächenverlust, sondern eine Diversifizierung und im besten Fall durch die Ausnutzung der verschiedenen Höhen sogar mehr Ertrag.
Deshalb propagiert auch Agroscope, das staatliche Kompetenzzentrum für Landwirtschaft in der Schweiz, den Agroforst als eines der Landwirtschaftssysteme der Zukunft. Als Agroforst gilt jede Kombination von Bäumen oder Hecken mit landwirtschaftlichem Anbau oder Tierhaltung auf derselben Fläche.
Anders als traditionelle Systeme wie zum Beispiel eine Streuobstwiese sind die Anlagen so konzipiert, dass sie mit modernen Maschinen bearbeitet werden können. Bei Bäumen bedeutet das: Sie stehen in geraden Reihen mit 15 bis 40 Metern Abstand dazwischen, und sie werden so geschnitten, dass die Krone erst auf einer Höhe von drei Metern beginnt. Ausserdem werden die flachen Wurzeln der Bäume immer wieder gekappt, damit sie in tiefere Bodenschichten ausweichen und der Ackerkultur nicht Wasser und Nährstoffe wegnehmen.
Agroforst ist eine Nische und bedeutet: viel ausprobieren
Jürg Strauss überquert die Strasse vor seinem Hof in Hinter Grüt, einem Ortsteil von Rickenbach mit kaum mehr als 20 Häusern. Die Hühner, die hinter einem Zaun scharren, gehören den Nachbarn. Aber dahinter beginnt das Land von Strauss. Vor fünf Jahren hat er hier 400 niedrige Apfelbäume gepflanzt, in jeder Reihe nur eine Sorte. So sind die Früchte gleichzeitig reif, das erleichtert die Ernte. Schon im zweiten Jahr nach der Pflanzung hatten sie Ertrag, sagt Strauss, zehn oder fünfzehn Tonnen, alles für Most.
Auf dem Feld zwischen den Bäumen wachsen im Sommer Linsen oder Getreide. Sind die geerntet, sät Strauss eine sogenannte Gründüngung, die den Boden mit Nährstoffen anreichert und auf der die Äpfel weich fallen und mit einer Maschine aufgesammelt werden können.
Etwa 350 der ungefähr 48 000 Landwirtschaftsbetriebe in der Schweiz betreiben Agroforst, meist nur auf einem kleinen Teil ihrer Fläche von durchschnittlich 20 Hektaren. Sonja Kay von Agroscope sagt: «Ich rate den Landwirten: Pflanze so viel, wie du realistisch betreuen kannst, und dann in zwei Jahren die nächste Runde.» Jürg Strauss schafft das mit der Betreuung inzwischen fast auf seiner gesamten Fläche.
Was gut funktioniert und was nicht, das ist aber immer noch viel Experiment. Agroforst, das bedeutet: ausprobieren.
Ist das nicht ein Risiko? Strauss sieht das nicht so. «Die einzelnen Elemente müssen ungefährdet sein», sagt er und meint damit: Er hat seine Felder, und für das Getreide hat er eine Genossenschaft als sichere Abnehmerin. Nur wachsen nun eben dazwischen auch noch Äpfel. Der Ertrag diversifiziert sich, und damit auch das Risiko von Krankheiten und Totalausfällen. «Wir haben noch nie Einbussen gehabt oder nichts geerntet», sagt Strauss.
Bäume als Rankhilfe für Reben: Ein bisschen Schatten macht besseren Wein
Also probiert er weiter. Hinter dem Bauernhaus von 1697 geht es leicht bergan. Hier im Weinberg hat Strauss Weiden gepflanzt. Die Idee, noch unerprobt: Sie sollen den Reben als Rankgerüst dienen. Er wolle «nicht gerade einen Wald aus dem Weinberg machen», sagt Strauss, aber doch sei hier wie auch auf den anderen Feldern «die Idee, die Natur ein bisschen zu imitieren». Reben seien eigentlich Pflanzen vom Waldrand, wo sie Lianen bildeten. Und wenn die Trauben durch etwas weniger Sonne ihre Säure behalten, werde der Wein besser.
Strauss spritzt seine Bäume und Reben nur zweimal im Jahr, mit Tonerde und Schwefel. Sein grösstes Problem: Mit den Maschinen zwischen den Baumreihen hindurchzufahren, verdichtet den Boden. Das sei «nicht wegzudiskutieren», gibt er zu, «das ist etwas, was mich immer mehr bewegt».
Er versucht, möglichst leichte Maschinen zu nehmen. Den Boden bearbeitet er nur oberflächlich und verbessert ihn mit Kompost. Den sogenannten Hofdünger, also Tierdung, kauft er von einem Biohof dazu. Auf seinem eigenen Hof gibt es keine Tiere. Sein Grossvater hat mit der Milchwirtschaft aufgehört, und so ist es geblieben. Strauss ist froh darüber. Statt in Stallbauten kann er das Geld in neue Bäume investieren. Einen Agroforst anzulegen, bedeutet eine Anfangsinvestition von 15 000 Franken pro Hektare. Ein Stall kostet 25 000 bis 35 000 Franken – pro Kuh.
Kastanienbäume vertrocknet: weitermachen trotz Rückschlägen
Wenn Walter Steiner über seine Erfahrungen mit Agroforst erzählt, klingt es ein bisschen anders als bei Jürg Strauss. Das Erste, was Steiner am Telefon sagt, ist: «Die Situation ist schwierig.» Wirtschaftlich sei es für Landwirte «in der Schweiz nicht so krass schlimm, aber klimatisch ist es schlimmer, als ich es mir vor zehn Jahren hätte vorstellen können».
Steiners Hof La Vignette liegt im Kanton Waadt. Er umfasst 40 Hektaren, auf denen er Ackerkulturen anbaut und Kühe und Hühner hält. Vor fünfzehn Jahren, erzählt er, habe er auf einer Konferenz vom Agroforst gehört und von bis zu 120 Prozent Ertrag auf der gleichen Fläche. Er versprach sich diesen vor allem von Edelkastanienbäumen, und zwar dreifach: Marroni, edlen Honig und irgendwann das Holz. Darunter säte er Weizen, Raps, Sonnenblumen, Getreide, Linsen, Erbsen oder Leinsamen.