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Wie Greenpeace eine Grosi-Truppe erschuf, um die Schweiz zu verklagen

Illustration Celina Pereira für «NZZ am Sonntag»: Im Vorstand der Klimaseniorinnen (von oben links nach unten rechts): Oda U. Müller, Rosmarie Wydler-Wälti, Pia Hollenstein, Norma Bargetzi-Horisberger, Anne Mahrer, Elisabeth Stern, Jutta Steiner, Stefanie Brander und Rita Schirmer.

Klima & Energie

Wie Greenpeace eine Grosi-Truppe erschuf, um die Schweiz zu verklagen

Als die Klimaseniorinnen zum ersten mal die Schweiz verklagten, wurden sie vor allem eins: belächelt. Jetzt werden sie am Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte prioritär behandelt. Wie aus einem Kampagnenexperiment von Greenpeace ein Verein von Rentnerinnen wurde, der die Welt verändern könnte.

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Kampagnenexperten unterscheiden vier Typen, die den gesellschaftlichen Wandel herbeiführen: Reformerinnen und Rebellen, Bürgerinnen und Treiber. Rosmarie Wydler-Wälti, 72 Jahre, achtfache Grossmutter, lässt sich in dieser Typologie nicht eindeutig zuordnen. Sie ist ein Hybrid.

Wydler-Wälti war Kindergärtnerin und Erziehungsberaterin, jetzt ist sie pensioniert und verklagt die Schweizer Regierung. Damit könnte die Baslerin einer der neuen Stars der Klimabewegung werden. Bis anhin wurde diese vor allem von den Jungen getragen. Dass jetzt die Alten dazukommen, ist kein Zufall: Seniorinnen wie Wydler-Wälti wurden rekrutiert, um eine Klimaklage vor Gericht zu bringen, die nicht nur die Schweiz verändern könnte, sondern auch die Welt.

«Klimaschutz muss als Menschenrecht anerkannt sein», sagt sie einen dieser Sätze, den sie in den letzten Jahren Hunderte Male gesagt hat, auf Podien oder an PR-Anlässen wie diesem in Luxemburg. Der Kleinstaat bildet den Auftakt einer Europatour, zu der sie zusammen mit Anne Mahrer angetreten ist. Die beiden sind Co-Präsidentinnen eines Vereins von über 2000 Rentnerinnen, die vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) klagen: Klimaseniorinnen gegen die Schweiz.

Warum, erklären sie in diesen Junitagen zuerst den luxemburgischen Journalisten, dann der Justizministerin und jetzt den Besuchern dieses Kulturzentrums: Die Schweiz schütze Seniorinnen wie sie nicht genug vor den Folgen der Klimaerwärmung, insbesondere vor Hitzewellen, von denen sie mehr als die meisten betroffen seien, sie, die älteren Frauen. Und so werben die beiden auch für ein immer populäreres Umweltschutzinstrument: Klagen für das Klima.

«Dürfen wir uns erst wehren, wenn wir bettlägerig sind?»

«Aber ihr seid doch bei bester Gesundheit», wendet ein Herr ein, der im Anzug zwischen den Aktivistinnen in veganen Turnschuhen, Alt-Hippies und Seniorinnen sitzt. «Wir schon, aber unsere Einzelklägerinnen sind bei hohen Temperaturen in grosser Gefahr», antwortet die 74-jährige Mahrer, und Wydler-Wälti fügt an: «Dürfen wir uns erst wehren, wenn wir bettlägerig sind?»

Der Herr lächelt, wie es die meisten getan haben, als sich die Rentnerinnen 2016 bei den Bundesbehörden beschwerten und sich dabei auf die Menschenrechte beriefen, ihr Recht auf Leben, ihr Recht auf Gesundheit. «Hat die Klimadebatte jetzt das Altersheim erreicht?», machte sich damals ein Leserbriefschreiber der NZZ lustig. «Das soll wohl ein Witz sein.»

Sechs Jahre und drei juristische Instanzen später ist Ernst daraus geworden: Am EGMR werden etwa 95 Prozent der Klagen für unzulässig erklärt. Jene der Klimaseniorinnen hingegen steht auf der Prioritätenliste ganz oben. Behandelt wird sie in der grossen Kammer, wo 17 Richter Antworten auf ­wegweisende Fragen finden müssen: Welche Rolle spielen Menschenrechte im Klimaschutz? Verletzten Staaten die Rechte ihrer Bürgerinnen, wenn sie diese nicht genug vor der Klimakrise schützen? Darf die Justiz sich in die Politik einmischen?

So klingen Geschichten, wie Regisseure sie verfilmen. David gegen Goliath, die da unten gegen die da oben. Im Falle der Klimaseniorinnen ist es jedoch nicht so simpel. Sie sind nicht bloss Ausdruck der sogenannten neuen Alten, die aus grauen Jahren goldene machen. Nein, sie sind auch Teil einer Strategie, kleine Räder einer grossen Maschine, Produkt eines neuen Campainings, ausgedacht und ausgesucht, koordiniert und mitfinanziert von Greenpeace.

Die Umweltorganisation rekrutierte Rosmarie Wydler-Wälti und Anne Mahrer wie Christoph Schlingensief die Laiendarsteller seiner Theaterstücke: Mahrer stammt aus Genf, Wydler-Wälti aus Basel, Mahrer war jahrzehntelang bei den Grünen, Wydler-Wälti politisch ein relativ unbeschriebenes Blatt, Mahrer referiert in diesem Kulturzentrum auf Französisch: «Wo Politikern der Mut fehlt, muss die Justiz sich einmischen.» Und Wydler-Wälti ergänzt auf Deutsch: «Wir müssen alle Möglichkeiten ausschöpfen.»

Während Mahrer spricht, als sässe sie immer noch im Nationalrat, wagt Wydler-Wälti auch, Dinge zu sagen, von denen ihre PR-Berater abrieten. Vier Nächte in diesem Luxemburger Mehrsternehotel zum Beispiel findet sie etwas übertrieben. Je ein Doppelzimmer, auf Kosten von Greenpeace-Spendern. In genau dieser Mischung aus Authentizität und Professionalität sind die beiden ideale Repräsentantinnen einer Klimakampagne «vo de Lüüt», die aus juristischer Perspektive kreativ ist und aus Kampagnenperspektive faszinierend – aus der Perspektive von Bürgerinnen und Bürgern jedoch tendenziell problematisch.

Vision einer Mehrheitsinsel

Es begann 2015 mit einer Identitätskrise. Greta Thunberg ging noch zur Schule, als auch Georg Klingler mit anderen Organisationen für den Pariser Klimagipfel mobilisierte. Der Umweltwissenschafter ist seit 11 Jahren bei Greenpeace Schweiz, Koordinator der Klimakampagne und sogenannter Vereinssekretär der Klimaseniorinnen. Geplant war eine Demonstration in Zürich, gekommen sind 1000 Leute. «Ein Megafrust», sagt der Campaigner, dem klar wurde: So geht es nicht weiter.

Klingler spricht in Kampagnenbegriffen wie etwa der «theory of change», die immer eine Antwort auf die Frage ist, wie Wandel herbeigeführt werden kann. Er beschreibt es mit dem Bild einer Insel, auf der so viele Menschen wie möglich vereint werden müssen. «Nur eine Mehrheitsinsel kann Veränderung bringen», sagt Klingler, der neue Brücken bauen musste für Menschen jenseits des links-grünen Lagers. Und so eine Brücke begann sich 2015 am Horizont abzuzeichnen: Urgenda heisst die Klimastiftung von 886 Niederländern, die ihre Regierung auf einem menschenrechtlich begründeten Rechtsweg zu Emissionssenkungen zwangen.

Bald landete ein Auftrag von Greenpeace in der Inbox der inzwischen verstorbenen Umweltanwältin Ursula Brunner. Mit einem Gutachten sollte sie herausfinden, wie Urgenda importiert werden könnte für eine Schweizer Klimaklage. Brunner setzte die Junganwältin Cordelia Bähr auf den Fall an, der von A bis Z durchdacht und bestmöglich beweisbar sein sollte. Bähr, inzwischen Mitinhaberin der eigenen Kanzlei und Hauptanwältin der Klimaseniorinnen, wälzte Studien, um eine kausale Argumentationskette aufzubauen: Hitze! Seit 1959 haben sich Hitzetage verdreifacht und sind 2,3 Grad heisser. Hitzewellen kommen etwa fünfmal häufiger vor als Ende des 19. Jahrhunderts. Bei einer Erwärmung von bis zu 2 Grad gäbe es sie 14-mal häufiger. Und wer hat eines der grössten Risikos, an solchen Tagen etwa einem Herz-Kreislauf-Versagen zu erliegen? Ältere Frauen, ab 75.

Weltweit werden etwa ein Drittel der hitzebedingten Todesfälle auf den Klimawandel zurückgeführt, im Hitzesommer von 2003 zum Beispiel sind in der Schweiz rund 550 Frauen mehr gestorben als normalerweise zwischen Juni und August. Bei den Männern waren es 420. Damit war eine Argumentationskette gefunden. Was jetzt fehlte, waren Klägerinnen. Denn klagen kann in der Schweiz nur, wer besonders von einem Problem betroffen ist und sich mehr als Opfer eignet als alle anderen.

Und so sind Rosmarie Wydler-Wälti und Anne Mahrer unterwegs nach Luxemburg. Im Zug ist es heiss, eng, laut. Wegen Bauarbeiten und Verspätungen dauert die Bahnreise mehr als sieben Stunden. Die über 70-Jährigen beklagen sich nicht ein einziges Mal, ziehen beim Umsteigen ihre Rollkoffer hinter sich her und verzichten freiwillig auf die Rolltreppe.

Dabei hat Mahrer sogenannte Pleuraplaques auf der Lunge, die auf eine schlummernde Asbesterkrankung hinweisen. Auf der Fahrt erzählt sie von ihrer 30-jährigen Arbeit als Bibliothekarin an einer Schule, deren Deckenplatten bei Arbeiten mehrfach aufgeschnitten wurden. Und wie sie als Genfer Grossratspräsidentin eine Sanierung erkämpfte und sich auch als Nationalrätin für eine längere Klagefrist von Asbestopfern einsetzte. Von zehn auf zwanzig Jahre erhöht worden ist diese aber erst, nachdem die Schweiz vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verklagt worden war. «Da ist mir klargeworden, was der EGMR politisch bewirken kann», sagt Mahrer.

Projektkoordinator Georg Klingler holte zwei Leute an Bord, um die Klimaseniorinnen zu erschaffen, «die kein verlängerter Arm von Greenpeace sind», wie er mehrfach betont, sondern vielmehr ein Hybrid aus Klage und Bewegung, professioneller Kampagnenorganisation und unabhängigen ­Botschafterinnen. Als Berater half der PR-Stratege Daniel Graf beim Aufbau, ohne den etwa das Frontex-Referendum nicht zustande gekommen wäre. Und als Network-Campaigner wurde Oliver Heimgartner ­eingestellt, späterer Co-Kampagnenleiter der Konzernverantwortungsinitiative und Co-Chef der Stadtzürcher SP. Sein Job war es, klage­bereite Frauen zu finden, die sich auch als atypische Köpfe einer Bewegung eigneten, denen sich mehr Menschen zugehörig fühlen als den übellaunigen Strassenblockanten.

Es erinnert an Domino – einen Stein anstossen, andere umkippen lassen: Greenpeace gewann Elisabeth Joris für das Vorhaben, die renommierte Historikerin und Pionierin der Frauen- und Geschlechtergeschichte. Joris wiederum teilte das Büro damals mit Historikerin Heidi Witzig. Und die wiederum war Mitgründerin der Grossmütter-Revolution, einer Bewegung von alten Frauen für alte Frauen, zu der wiederum die heutige Co-Präsidentin der Klimaseniorinnen gehörte.

Rosmarie Wydler-Wälti kann sich noch gut an den jungen Mann von Greenpeace erinnern, der an einem Wochenende der Grossmütter-Revolution «aufmüpfige alte Frauen» suchte und sie später zu Hause besuchte. Wie in einem Casting habe er alles wissen wollen, erzählt Wydler-Wälti, von ihrem Schweizerhalle-Trauma bis zum Engagement in der Anti-AKW-Bewegung. «Gerade weil ich kaum Politerfahrung hatte, bot er mir das Präsidium an», sagt sie. «Sonst würden wir zu sehr als grüner Haufen wahrgenommen.»

Am 23. August 2016 wurde der unabhängige Verein der Klimaseniorinnen gegründet, mit Greenpeace als Hauptpartner und prominenten Aushängeschildern wie der Autorin Judith Giovannelli-Blocher. Ist der Wirbel doch grösser, wenn die Schwester von Christoph Blocher die Schweiz verklagen will. Inzwischen erzählen Wydler-Wälti und Mahrer den luxemburgischen Journalisten, wie weit sie gekommen sind – sozusagen aus dem Nichts an den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Meilenstein oder Geldverschwendung?

Juristisch betrachtet ist der Fall insofern Erfolg, als der EGMR ihm höchstmögliche Beachtung schenkt. Experten wie Johannes Reich von der Universität Zürich, Professor für Umweltvölkerrecht, erwarten ein historisches Urteil. Noch einen Schritt weiter denkt die Lausanner Rechtsprofessorin Evelyne Schmid.«Ich kann mir gut vorstellen, dass die Schweiz verurteilt wird», sagt sie, «wahrscheinlich für eine mangelnde inhaltliche Auseinandersetzung, möglicherweise auch für eine Verletzung des Rechtes auf Leben und Gesundheit.» Die Kernfrage sei, welche Schutzpflicht die Regierung ihrer Bevölkerung gegenüber hat, wie weit diese Pflicht geht und wo die Unterlassung beginnt. Sicher wird das Urteil Signalwirkung haben auf Gerichte und Klagen auf der ganzen Welt.

Am ersten Abend in Luxemburg laufen die Klimaseniorinnen in der lokalen Tagesschau, am zweiten sind sie auf dem Titel der Tageszeitung «Le Quotidien». Gibt man sie in der Schweizer Mediendatenbank ein, erscheinen seit der Vereinsgründung 495 Beiträge. Kann man da von einem PR-Erfolg sprechen?

«Es ist zu früh zu beurteilen, ob das jetzt ein Meilenstein der Kampagnenführung ist oder Geldverschwendung», sagt Andreas Freimüller, der als Greenpeace-Aktivist AKW-Türme hochkletterte und heute CEO der Kampagnenorganisation Campax und der Agentur Kampagnenforum ist. Als zentral erachtet er, die Geschichte «Omas ziehen vor Gericht» immer wieder zu erzählen, was durch den rechtlichen Kampf gegeben ist, der wiederkehrend neue Kapitel liefert.

«Diese Dramatik gibt der Kampagne Energie wie ein kleines AKW», sagt Freimüller, für den die «Oma-Erzählung ohnehin viel mehr wert ist als der Hafenkäse, den am Ende die Richter entscheiden». Im Falle eines Urteils wäre der Vollzug unklar und würde ewig dauern. Wichtiger sei, über die Erzählung Themen wie Klima, Hitze und Gesundheit zu setzen, sagt Freimüller. Und natürlich, neue Leute zu gewinnen. Zu bedenken gibt er jedoch, wie teuer der juristische Weg ist. So teuer, dass er ihn nicht einschlüge.

Die Rechtskosten allein belaufen sich laut Georg Klingler momentan auf bis zu 700 000 Franken. Dazu kommen Aufbau- und Kampagnenbudgets von rund 500 000 Franken, total um die 1,2 Millionen, exklusiv die internen Ressourcen von Greenpeace. An dem Fall arbeiten hierzulande nicht bloss Klingler als Projektkoordinator und Vereinssekretär, sondern auch eine Sekretärin und eine Medienverantwortliche, im Ausland zählen unter anderem Rechtsexperten des Climate Justice Cluster dazu, die Justizfälle von Greenpeace international koordinieren und Strategien austauschen.

Tendenzielle Verschleierung

Je länger man mit den Klimaseniorinnen unterwegs ist, desto unüberschaubarer wird das System dahinter. In Luxemburg sind zwei Mitarbeiterinnen des lokalen Ablegers verantwortlich. Sie holen die Seniorinnen vom Bahnhof ab und führen sie herum, organisieren von der Pressekonferenz bis zum Nachtessen alle Termine und bereiten Fragen für die Diskussionen vor, die sie mitleiten und zu Pressematerial weiterverarbeiten.

Zwischendurch fallen neue Namen, Val zum Beispiel, Val aus Athen. Was hat sie mit den Präsentationen zu tun, die Mahrer und Wydler-Wälti in Luxemburg halten? Die beiden wissen es selbst nicht so genau. Val ist «Community and Networking Strategist» der globalen Klimagerechtigkeitskampagne und organisiert die Europatour. Zu der brechen nächstens zwei andere Vorstandsfrauen auf, nach Spanien, auf das Greenpeace-Schiff «Rainbow Warrior».

Irritierend wäre das alles nicht, würden die Klimaseniorinnen nicht als viel unabhängigere Gruppe auftreten. Auf der Landing-Page ihrer Website zum Beispiel steht höchstens in der Unterzeile: «Die Klimaklage ist ein Projekt der KlimaSeniorinnen. Wir werden unterstützt von Greenpeace Schweiz und weiteren Organisationen.» Unterstützt ist ein weiter Begriff, wenn man bedenkt, was für eine zentrale Rolle Greenpeace als Schöpfer, Koordinator und Ermöglicher spielt. Müsste man die Kommunikation mit einer Farbe beschreiben, wäre sie Grau.

«Operiert so ein multinationaler Konzern, ist die Kritik grösser», sagt Ulrike Röttger, Professorin für Public-Relations-Forschung an der Universität Münster: «Die Akteurskonstellationen sind nicht klar ersichtlich.» Sprich, wer macht was und aus welchen Interessen. Auf den ersten Pressemitteilungen zum Beispiel wird Greenpeace mit keinem Wort erwähnt. Wer das Sekretariat der Klimaseniorinnen kontaktiert, landet bei Greenpeace Schweiz. Es ist ein Grenzgang zwischen so viel wie nötig offenlegen, so wenig wie möglich. «In Kauf genommen wird, dass andere Assoziationen geweckt werden», sagt Röttger. «Und das ist tendenziell problematisch.»

Georg Klingler erklärt es so: Die Klimaseniorinnen würde kein Gericht ernst nehmen, wären sie als Verein nicht rechtlich und damit zumindest formell unabhängig. «Wir haben unsere Beteiligung aber auch deshalb nicht an die grosse Glocke gehängt, weil es ihr Fall ist, nicht unserer», sagt er. «Ja sie nutzen unsere Ressourcen, aber sie klagen, nicht wir.» Und ohne Zustimmung des Vorstands, betont er, könne Greenpeace nichts machen. Bewusst seien keine eigenen Leute installiert worden, um Mehrheiten zu sichern. Was umgekehrt auch ein Opfer bedeutet: Kontrolle abgeben.

Gegenseitige Abhängigkeit

Rosmarie Wydler-Wälti hat gern die Kontrolle. Sie beschwert sich zum Beispiel persönlich beim Restaurantchef, der zur sogenannten Querfinanzierung gleich hohe Preise für einen Eblyteller und ein Entrecôte verlangt. Und sie gibt zu: «Manchmal ist es schwierig, als Klimaseniorin selbstbestimmt zu bleiben.» In der Kommunikation zum Beispiel. So fällt auf, dass die Strategie seit dem EGMR eine andere ist. Auf den Pressemitteilungen steht das Greenpeace-Logo nun direkt neben dem der Klimaseniorinnen. Auch die Texte entsprechen nicht immer den Vorstellungen von allen. Während die einen jegliche Kritik für undankbar halten, überlassen die anderen sowieso lieber alles den Profis.

Nicht aber Wydler-Wälti, die sich Sorgen um das Image macht. Die Klimaseniorinnen sollen nicht als instrumentalisiert wahrgenommen werden. «Ohne unser Engagement wäre der Fall nie so weit gekommen», sagt sie. «Es ist eine gegenseitige Abhängigkeit, Greenpeace braucht uns als Klägerinnen und Botschafterinnen, wir ihr Netzwerk und ihre Finanzen.»

Geld ist ein gutes Stichwort. Die Kassiererin Rita Schirmer will partout keine Zahlen liefern. Weil diese offenlegen, dass die Seniorinnen nur einen Bruchteil der Kampagne zahlen? Welcher Kleinverein könnte auch einen Fall von dieser Grösse stemmen? Geschweige denn eine internationale Millionenkampagne? 2021 haben die Klimaseniorinnen Spenden von rund 65 423 Franken eingenommen und gleichzeitig 55 000 Minus gemacht. Wenn sie nicht bezahlen können, begleicht Greenpeace die Rechnung. So lautet der Deal, und er ist fair. Die Arbeit, die die Frauen gratis leisten, käme auch teuer. Sie schreiben Bücher und Fachbeiträge, halten Vorträge und organisieren Wanderungen. Ihre Aktivitätenliste ist endlos und die Pension ein Stress. Wydler-Wälti hat sechs Kilogramm abgenommen. Und auch Mahrer gibt zu, Ferien nötig zu haben.

Die Klimaklage ist am EGMR, Phase 2 der Kampagne hat begonnen: adaptieren, multiplizieren, internationalisieren. Hierzulande halfen die Erfahrungen mit den Klimaseniorinnen Greenpeace, die Gletscherinitiative aufzubauen. Jetzt sollen andere betroffene Länder sensibilisiert und Leute mobilisiert werden. Und damit wären wir wieder am Anfang der Geschichte, in Luxemburg, wo mit Jeanne Chomé quasi eine neue Ausgabe von Mahrer oder Wydler-Wälti in den ­Startlöchern steht. Sie wurde vom lokalen Greenpeace-Chef persönlich rekrutiert, um die Älteren in diesem Saal zu gewinnen – als Klimaseniorinnen und Klimasenioren. Chomé macht das sehr überzeugend: 14 Personen tragen sich auf der Liste ein.

Carole Koch, «NZZ Magazin» (16.07.2022)

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Dieser Artikel behandelt folgende SDGs

Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.

13 - Massnahmen zum Klimaschutz

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