Tausende Klagen weltweit
Die Klimaseniorinnen verlangen, dass die Schweiz ihren Beitrag dazu leistet, die Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad zu begrenzen. So wurde es im Pariser Übereinkommen verankert. Sie klagen, weil sie als ältere Frauen besonders betroffen sind von den gesundheitsschädigenden Auswirkungen der Klimaerwärmung. Damit werde ihr Recht auf Gesundheit missachtet – ein Menschenrecht.
Der Entscheid des EGMR in diesem Fall könnte ähnlich wegweisend ausfallen wie jener von Den Haag. «Der Sieg in Holland war der erste grosse Schritt. Er hat uns viel Energie gegeben», sagt Raphaël Mahaim.
Der Waadtländer Anwalt hatte damals gerade erst in Umweltrecht promoviert, heute ist er Nationalrat für die Grünen. Gemeinsam mit der federführenden Zürcher Anwältin Cordelia Bähr vertritt er die Klimaseniorinnen in Strassburg. Bähr hat als eine der ersten Schweizerinnen Klimarecht studiert und arbeitete eine Zeitlang als wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Bundesamt für Umwelt.
Plötzlich sind die lange belächelten Seniorinnen mit ihrer Klage so etwas wie die letzte, beste Hoffnung vieler Klimabewegter.
In der Schweiz wollte kein Gericht auch nur schon auf die Klage eintreten. In Strassburg befasst sich nun die grosse Kammer des EGMR mit dem Fall. Gleichzeitig werden die Richter zwei weitere Urteile verkünden: In einem Fall haben Jugendliche aus Portugal 33 europäische Länder verklagt, im anderen ein früherer französischer Bürgermeister sein Land. «Ich erwarte einen Leitentscheid dazu, ob Staaten gegen Menschenrechte verstossen, wenn sie zu wenig unternehmen, um eine gefährliche Klimaerwärmung möglichst zu verhindern», sagt Bähr.
Auch Greta Thunberg kommt
Es wäre der Durchbruch einer Bewegung, die seit 2015 Fahrt aufgenommen hat, lange bevor die Klimajugend mit Demonstrationen die Öffentlichkeit aufrüttelte. Auch Rosmarie Wydler-Wälti nahm an den Demos teil. Auch sie sah, wie die Wucht der Strasse eine Wende in der Klimapolitik herbeizuführen schien – bis die Demos einschliefen. Bis sie überlagert wurden vom Ärger über die Aktionen der Klimakleber und anderer Aktivisten.
Und deshalb sind die lange belächelten Seniorinnen mit ihrer Klage nun plötzlich so etwas wie die letzte, beste Hoffnung vieler Klimabewegter. Selbst Greta Thunberg, die Ikone aller Aktivisten, will am Dienstag nach Strassburg reisen.
Der Kampf gegen den Klimawandel hat sich längst von der Strasse in die Gerichtssäle verschoben. Die Zahl der Klimaklagen nimmt laut einem Bericht des UNO-Umweltprogramms UNEP weltweit rasant zu. 2015 wurden knapp 900 Fälle erfasst, Ende 2022 waren es schon gegen 2200, davon zwei Drittel in den USA.
Die Klagen lassen sich in drei Kategorien unterteilen: Da sind erstens die Fälle, in denen Betroffene gegen Staaten klagen, die ihrer Ansicht nach zu wenig gegen den Klimawandel unternehmen. Das können Schweizer Klimaseniorinnen oder portugiesische Jugendliche sein, aber auch Inselbewohner im Pazifik, deren Land im steigenden Meer zu versinken droht.
Da sind zweitens die zunehmenden Klagen gegen Unternehmen, die klimaschädlich handeln. In der Schweiz etwa klagen Bewohner der indonesischen Insel Pulau Pari gegen den Zementhersteller Holcim, in Deutschland zieht ein peruanischer Bauer den Energiekonzern RWE vor Gericht. Beide Konzerne sollen für die Schäden durch ihren eigenen Klimagas-Ausstoss haften. Klagen gibt es auch gegen Firmen, die Greenwashing betreiben, also etwa in ihrer Werbung Klimaneutralität vorgeben.
Und da sind drittens die Fälle, in denen Klimaaktivisten selbst vor Gericht stehen. Zum Beispiel die Klimaaktivisten, die in Lausanne in einer Filiale der Credit Suisse Tennis spielten, um gegen die umweltschädliche Investitionspolitik der Bank zu protestieren – und dafür vom Bundesgericht wegen Hausfriedensbruch verurteilt wurden. Einer ihrer Anwälte ist Raphaël Mahaim. Die Aktivisten haben den Fall ebenfalls bis nach Strassburg weitergezogen.
Die wachsende Szene der Klimaanwälte
Die Flut der Klagen hat auch damit zu tun, dass sich Umweltaktivisten, Umweltschutzverbände und Umweltjuristen in der ganzen Welt vernetzen. In der Schweiz hat Mahaim mit Kolleginnen und Kollegen die «Avocates pour le Climat» gegründet. Mittlerweile vertritt die Gruppe bereits 70 Personen in 15 laufenden Gerichtsverfahren.
Erst kürzlich hat das Kollektiv eine Klage von Bauern und Winzern gegen den Bund eingereicht, die ähnlich argumentieren wie die Klimaseniorinnen: Der Staat unternehme zu wenig gegen die Klimaerwärmung, darunter leide die landwirtschaftliche Produktion. «Wir wollen damit aufzeigen, dass es viele verschiedene Opfer des Klimawandels gibt», sagt Mahaim.
Die Schweizer Klimaanwälte sind Teil einer globalen Bewegung. So haben etwa Juristinnen und Juristen des deutschen Max-Planck-Instituts einen Aufruf an Kollegen weltweit gestartet, ihr Fachwissen und ihren Einfluss zu nutzen, um eine Klimakatastrophe abzuwenden. An der Columbia University in New York entstand sogar eigens eine Abteilung für Klimajustiz. Man wolle «juristische Methoden zur Bekämpfung des Klimawandels entwickeln und verbreiten», heisst es auf der Website, und «die nächste Generation von Anwälten ausbilden, die auf diesem Gebiet führend sein werden.»
Finanziert und unterstützt werden die Klimafälle von Umweltschutzorganisationen oder neuen Vereinen, die sich der Klimajustiz verschrieben haben. Eine der grössten ist Client Earth mit Niederlassungen in London, Brüssel oder Los Angeles. «Wir nutzen die Macht des Gesetzes, um das System zu verändern», schreibt die Organisation. Nebst eigenen Fällen bringt sie sich auch bei Dritten ein. Auch bei der Klage der Klimaseniorinnen in Strassburg hat Client Earth eine Eingabe gemacht.
Ein Leiturteil aus Strassburg würde der Klimapolitik neuen Schub verleihen – gerade in der Schweiz, wo die grünen Kräfte bei den letzten nationalen Wahlen verloren haben.
Das zeigt vor allem eines: Am kommenden Dienstag geht es um viel mehr als um die Gesundheit der Schweizer Seniorinnen oder um die Schweizer Klimapolitik. «Wenn dieser Fall erfolgreich ist, wäre das ein absoluter Wendepunkt für Klimaprozesse auf dem gesamten Kontinent», sagt Vesselina Newman von Client Earth. Sollte sich das Gericht auf die Seite der Schweizer Klägerinnen stellen, «werden sich wahrscheinlich Richterinnen und Richter in ganz Europa bei der Prüfung der ihnen vorliegenden Klimaprozesse auf dieses Präzedenzurteil berufen.»
Sie würden damit wohl auch die Klimapolitik in vielen Ländern prägen, ihr einen neuen Schub verleihen – gerade in der Schweiz, wo die grünen Kräfte bei den letzten nationalen Wahlen verloren haben.
Dieser Widerspruch beschäftigt bürgerliche Politiker schon jetzt. «Die Richter haben sich an die Menschenrechtskonvention zu halten und dürfen vertretbare nationale Entscheide nicht nach Lust und Laune übersteuern», sagt der FDP-Ständerat und Anwalt Andrea Caroni.
Einen Schritt weiter geht der Berner SVP-Nationalrat Manfred Bühler, ebenfalls ein Jurist: «Die Politik verliert ihren Sinn, wenn die Justiz eingreift», sagt er. Damit werde die Gewaltentrennung aufgehoben. Sollte der EGMR die Schweiz verurteilen, müsse die Schweiz das «höchstens als politische Empfehlung» verstehen – und die Menschenrechtskonvention allenfalls sogar kündigen.
Für Raphaël Mahaim ist der Rechtsweg dagegen eines der wirksamsten Mittel, um die Politik zum Handeln zu bewegen. «Es ist richtig und wichtig, dass die Justiz eingreift, wenn in unserem Rechtsstaat etwas falsch läuft», sagt er. Das sei in der Schweizer Verfassungsgeschichte schon einige Male vorgekommen. Etwa, als der Kanton Appenzell Innerrhoden das Frauenstimmrecht nicht einführen wollte und vom Bundesgericht dazu gezwungen werden musste.
Dass es nun wieder Frauen sind, die über den Gesetzesweg die Politik bewegen wollen: Vielleicht ist es Zufall, vielleicht hat es eine Logik. «Gerade ältere Frauen wurden zu lange nicht ernst genommen», sagt Rosmarie Wydler-Wälti. «Wir müssen uns vieles doppelt so hart erkämpfen.»
Sie bereitet sich jetzt, kurz vor der grossen Entscheidung in Strassburg, auf alles vor – Niederlage, Teilsieg, Triumph. Und wenn es klappt, fliessen auch bei ihr die Tränen. Ziemlich sicher.