Wenn nicht einmal mehr die Finninnen Kinder bekommen wollen, wer dann?
Finnland gilt als Vorreiter der modernen Familienpolitik, doch die Geburtenrate gehört zu den tiefsten in Europa.
In Finnland leben die glücklichsten Menschen der Welt. Dort kümmert sich der Staat ab der Geburt um seine Bürger. Das Land kennt eine bezahlte Elternzeit von 360 Tagen, und jedem Kind steht ab der Geburt ein staatlich subventionierter Betreuungsplatz zu. Wer sich lieber selbst um seinen Nachwuchs kümmert, erhält dafür eine staatliche Entschädigung, bis das Kind dreijährig ist. Darüber hinaus gibt es Kinderzulagen.
Doch Finnland hat ein Problem: Das Volk will sich einfach nicht vermehren – auch wenn die Rahmenbedingungen dafür zumindest auf dem Papier besser sind als in den meisten anderen Ländern Europas. Im vergangenen Jahr hat die Geburtenrate mit 1,26 einen neuen Tiefpunkt erreicht. Die Politik steht vor einem Rätsel: Wie kann das sein? Und noch wichtiger: Was kann man dagegen noch tun?
Ein Erfolgsmodell, das keines mehr ist
Mit diesen Fragen beschäftigt sich Venla Berg, Forschungsleiterin bei der finnischen Familien-Föderation Väestöliitto. Um die heutige Situation und die Familienpolitik zu verstehen, müsse man einen Blick zurück werfen, sagt sie.
Die finnische Gesellschaft erlebte in den 1960er und 1970er Jahren einen Wandel, als Frauen vermehrt ausserhalb des Hauses zu arbeiten begannen. Damals fehlten im Land weitgehend familienpolitische Massnahmen, um Beruf und Familie zu vereinbaren. Die Geburtenrate brach ein, weil sich viele Frauen für eine Karriere und gegen die Familie entschieden oder erst später und weniger Kinder bekamen.
Der Geburtenrückgang konnte erst in den 1980er Jahren gestoppt werden, als Finnland eine bezahlte Elternzeit von 34 Wochen und subventionierte Betreuungsplätze einführte. Zur gleichen Zeit begann die Regierung damit, Eltern, die länger als die offizielle Elternzeit daheimbleiben wollten, zu entschädigen. In den 1990er Jahren kam es zu einer starken Rezession, aber die Geburtenrate blieb unverändert hoch. Berg führt das auf die geänderte Familienpolitik zurück. «Ein hoher Frauenanteil unter den Beschäftigten und eine hohe Geburtenrate: Das wurde zur nordischen Erfolgsgeschichte.»
Um 2010 herum begann die Geburtenrate aber rapide zu sinken. Dieselbe Entwicklung kann überall in Europa beobachtet werden, doch in Finnland ist der Rückgang besonders heftig. 2023 wurde mit 1,26 der tiefste Wert seit Messbeginn im Jahr 1776 verzeichnet. In keinem anderen nordischen Land werden so wenig Babys geboren. Was ist passiert in dem Land, das lange für seine fortschrittliche Familienpolitik bewundert wurde?
Ein Volk der Individualistinnen
Über diese Frage rätselt auch die Forschung. Die Geburtenrate folge meist etwas verzögert der wirtschaftlichen Entwicklung, sagt Berg und verweist auf die Finanzkrise von 2008. «Die Menschen reagieren auf ihre finanziellen Aussichten. Wenn diese gut sind, dann entscheiden sie sich für mehr Kinder.» Nur: Anders als die Konjunktur hat sich die Geburtenrate seit 2010 nicht erholt – im Gegenteil.
Erwiesen ist, dass sich das Beziehungsverhalten der Finninnen und Finnen stark verändert hat. «Paare, die in den 1990er Jahren oder später geboren wurden, ziehen heute später zusammen, als dies bei älteren Generationen der Fall war», sagt Berg. Während die meisten Konkubinate früher in eine Ehe und zu einer Schwangerschaft führten, ende das Zusammenleben heute häufiger mit einer Trennung.
«Junge Erwachsene träumen nicht mehr automatisch von einer Familie.» Heute sagen 15 Prozent der Finninnen und Finnen, dass sie keine Kinder haben möchten. In den nuller Jahren lag dieser Anteil noch bei 5 Prozent. Und viele, die sich zwei oder mehr Kinder wünschten, bekämen nur eines oder gar keines, weil sie mit der Familienplanung zu spät begännen, sagt Berg.
Was zu diesem Kulturwandel geführt hat, ist Gegenstand der Forschung. Berg hat jedoch eine These, und die ist beunruhigend. «Wir gehen davon aus, dass die Smartphones und die sozialen Netzwerke eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung spielen.» Die Plattformen raubten viel Zeit – Zeit, die etwa dafür genutzt werden könnte, um Sex zu haben.
Auf Instagram eröffne sich eine Welt, die oftmals verlockender wirke als die Aussicht, eine Familie zu gründen. «Für viele ist es eine Entscheidung zwischen einem chaotischen, anstrengenden und langweiligen Familienleben und Cocktails im Infinity-Pool.» Und dann seien da noch Dating-Apps wie Tinder, die ein unendliches Angebot an potenziellen Partnerinnen und Partnern suggerierten. «Laut Untersuchungen ist der beste Indikator für eine Trennung die Wahrscheinlichkeit, mit der eine Person glaubt, einen neuen Partner zu finden», sagt Berg.
Finanzkrisen, soziale Netzwerke und Dating-Apps sind universelle Phänomene, die sich auch in anderen Ländern negativ auf die Fertilität auswirken. Doch in Finnland kommt noch etwas hinzu, was die Entwicklung verstärkt haben könnte: «Es gibt keine sozialen Normen, die Druck erzeugen», so Berg.
In der säkularisierten finnischen Gesellschaft spielt die Kirche, die ein traditionelles Familienbild vermittelt, keine Rolle. Kinder gelten auch nicht als Statussymbol, und sie dienen nicht der Altersvorsorge – der Staat kümmert sich bis zum Tod. «Kinder zu bekommen oder eben nicht, ist damit eine rein individuelle Entscheidung geworden.»
Wissen verbreiten, Unterstützung bieten
Die Kinderlosigkeit stellt Finnland in den nächsten Jahren vor ernsthafte Probleme. In der alternden Gesellschaft wächst der Bedarf an Gesundheits- und Pflegepersonal. Auch in anderen Branchen droht ein Mangel an Arbeitskräften. Der Staat, auf den die individualisierte Gesellschaft so stark vertraut, benötigt Steuerzahler. Und die Streitkräfte benötigen neue Rekruten und später Reservisten. Was also tun, um die Fertilität zu steigern?
Ein grosses Problem sei fehlendes Wissen, sagt Venla Berg. Frauen sind zwischen 20 und 24 am fruchtbarsten, ab 30 nimmt die Fruchtbarkeit rapide ab, und mit 40 ist es oft nicht mehr möglich, Kinder zu bekommen. Laut Berg sind sich viele der biologischen Tatsachen nicht bewusst. «Sie glauben, die Familienplanung bis 40 hinauszögern zu können.» Um mit einer Wahrscheinlichkeit von 75 Prozent zwei Kinder zu bekommen, müsse man jedoch spätestens mit 34 anfangen.
Es sei auch wichtig, neue, nichttraditionelle Familienmodelle anzuerkennen und zu fördern. «Man muss heute nicht in einer heterosexuellen Partnerschaft leben, um eine Familie zu gründen.» Lesbische Paare und alleinstehende Frauen haben in Finnland Anspruch auf subventionierte Reproduktionsmedizin. Auch Freunde, die keine romantische Beziehung hätten, könnten gemeinsam Eltern werden, sagt Berg. Ebenso wie schwule und lesbische Paare, die sich die Elternschaft teilen könnten. «Familienleben bedeutet nicht zwangsläufig ein Einfamilienhaus in der Agglomeration mit zwei Kindern und einem Hund.»
Juristisch kann ein Kind jedoch auch in Finnland nur zwei Eltern haben. Unterstützung für diese Kernfamilie sei wichtig. Ein Kind grosszuziehen, sei anspruchsvoll und intensiv, was viele junge Erwachsene abschrecke. «In den nordischen Ländern wird das heute als die alleinige Aufgabe der Eltern angesehen, dabei ist dieses Erziehungsmodell historisch gesehen eigentlich sehr untypisch.» Früher sei die Verantwortung für ein Kind von einer grösseren Gemeinschaft getragen worden.
Trotz Wissen und Unterstützung bleibt jedoch ein Problem: Wenn die Fruchtbarkeit der Frau ihren Höhepunkt erreicht, fühlen sich viele noch nicht bereit für Kinder. Manche studieren, andere wollen die Welt bereisen. Mit Anfang zwanzig will sich kaum jemand schon auf eine Partnerschaft festlegen. «Gerade Frauen mit einer höheren Ausbildung fragen sich, wo sie das Kinderkriegen zeitlich unterbringen sollen.»
Berg sieht die Arbeitgeber in der Pflicht: «Sie müssten signalisieren: ‹Kinder sind willkommen, und ihr habt Zeit für sie. Arbeiten könnt ihr auch später noch.› Und nicht: ‹Lasst euch eure Eizellen einfrieren und bekommt Kinder, wenn wir euch nicht mehr brauchen.›» Doch der Staat und die Wirtschaft können noch so viel tun, am Ende bleibt die Kinderfrage eine individuelle Entscheidung.
Linda Koponen, «Neue Zürcher Zeitung» (03.04.2024)
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Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.
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