Im Laufe dieses Jahres war in Banken, in der Vermögensverwaltung und in der Unternehmenslandschaft weltweit ein Trend zu beobachten: Man rückte deutlich von der Linie ab, Nachhaltigkeitsthemen zu priorisieren. Wesentliche Einflussfaktoren hierfür sind anhaltende regulatorische Unsicherheiten sowie ein politischer Kurswechsel bezüglich Klimaneutralität und internationale Klimaabkommen – insbesondere in den USA.
Von diesem offensichtlichen Gegenwind scheint die Schweiz bislang nicht beeindruckt zu sein. Sie verfolgte weiterhin ihren Ansatz auf dem Weg zu einer nachhaltigen Wirtschaft: Seit 2022, als die Vorgaben zur nichtfinanziellen Berichterstattung im Obligationenrecht in Kraft traten, hat sie auch die regulatorische Rahmenbedingungen für eine nachhaltige Finanzwirtschaft still und stetig ausgebaut. Eine Analyse der Schweizer Nachhaltigkeitsagentur Inrate zeigt, dass Schweizer Unternehmen im ESG-Gesamtleistungsranking (ESG steht für Environment, Social und Governance) den achten Platz unter 28 OECD-Staaten einnehmen – damit gehören sie mit einer Durchschnittsbewertung (Note B) eindeutig zur Spitzengruppe. Besonders deutlich ist diese konstante Performance in den Sektoren Energie, Kommunikation und Rohstoffe – genau jenen Branchen, die andernorts unter strenger ESG-Beobachtung stehen.
Geschäftsrisiken im Fokus
Am 1. Januar 2025 trat in der Schweiz das Klima- und Innovationsgesetz in Kraft. Es schreibt Netto-Null-Emissionen bis 2050 als gesetzliche Verpflichtung für alle Unternehmen im Land fest. Zudem stellt das Gesetz Fördermittel in Höhe von 1,2 Milliarden Franken bereit, wobei bis zu 50 Prozent der Kapital- und Betriebskosten für innovative Dekarbonisierungsprojekte übernommen werden können. «Die Schweiz setzt auf Wesentlichkeit statt auf symbolische Gesten», erklärt Saurabh Srivastava, Managing Director von Inrate. «Die ESG-Rahmenwerke hierzulande fokussieren sich auf reale Geschäftsrisiken, insbesondere auf klimabezogene finanzielle Risiken. Sowohl Vermögensinhaber als auch -verwalter erkennen den Wert dieser Analysen weiterhin an.»
Zwei relativ neue Rahmenwerke unterstreichen die fortwährende Bedeutung von Nachhaltigkeit im Schweizer Investitionsprozess. Der Swiss Stewardship Code, im Oktober 2023 von der Asset Management Association Switzerland (AMAS) und Swiss Sustainable Finance (SSF) eingeführt, ist ein Regelwerk, das auf Freiwilligkeit beruht und das Konzept der «doppelten Wesentlichkeit» vorsieht: Unternehmen müssen nicht nur offenlegen, wie Umwelt- und Sozialfaktoren ihre finanzielle Lage beeinflussen, sondern auch, wie ihre Geschäftstätigkeit die Umwelt und die Gesellschaft beeinflusst. Obwohl die doppelte Wesentlichkeit kein exklusiv schweizerisches Konzept ist, gilt sie als fortschrittlich. Als zentrales Element auch der EU-Gesetzgebung zur Nachhaltigkeitsberichterstattung stellt sie einen umfassenderen Ansatz dar als die ausschliessliche Betrachtung finanzieller Risiken.
Die neun Prinzipien des Stewardship Codes reichen von Governance-Strukturen, die Nachhaltigkeit auf Vorstandsebene verankern, bis hin zu Abstimmungsmechanismen, die auf langfristige Wertschöpfung abzielen. Damit positioniert sich die Schweiz vor vielen europäischen Ländern, die noch mit den regulatorischen Herausforderungen nachhaltiger Finanzwirtschaft ringen.
Signifikante Verbesserungen
«Der Code geht weit über reine Compliance hinaus, da er den aktiven Dialog mit Portfoliounternehmen, Eskalationsstrategien und eine transparente Berichterstattung betont», so Saurabh Srivastava. «Er hat die Produktentwicklung bei grossen Datenanbietern beeinflusst, Engagement-Strategien institutioneller Investoren geprägt und dient als Vorlage für andere Länder, die Alternativen zu überregulierenden Ansätzen suchen.» Dieser aktive Dialog trägt nachweislich zur Leistungsverbesserung bei, wie der Engagement Report 2024 von Inrate zeigt. «Wir konnten feststellen, dass eine aktive Einbindung tatsächlich Wirkung zeigt», berichtet der Nachhaltigkeitsexperte. «Bei 95 der von uns analysierten Unternehmen, bei denen das der Fall ist, konnten wir signifikante Verbesserungen bei 75 Leistungsindikatoren sowie eine stärkere Übereinstimmung bei den Zielen ihres Engagements feststellen.»
Ein weiteres Rahmenwerk, das die nachhaltige Ausrichtung der Schweiz unterstreicht, ist das Finma-Rundschreiben 2026/1 zu naturbezogenen finanziellen Risiken, das Ende 2024 veröffentlicht wurde. Es enthält verbindliche Vorgaben für Banken und Versicherungen, Risiken proaktiv zu managen – mit klaren Governance-Strukturen und einer Bewertung der finanziellen Wesentlichkeit von Risikoexpositionen. Diese Risiken müssen in bestehende Risikokategorien wie Kredit-, Markt- oder operationelle Risiken integriert werden, statt separat behandelt zu werden. Die Umsetzung erfolgt gestaffelt: Grosse Institute müssen bis Januar 2026, kleinere bis 2027 und alle bis spätestens 2028 vollständige Naturrisikoabdeckungen vorweisen. «Dieser Zeitplan trägt der Tatsache Rechnung, dass Banken und Versicherer noch nicht über die nötige Dateninfrastruktur, über Analysekapazitäten und Expertise im Risikomanagement verfügen, um Naturrisiken umfassend zu bewerten», erklärt Saurabh Srivastava. «Zwar verfügen alle Institute über Programme zur Reduktion von Treibhausgasemissionen, und 90 Prozent haben kurzfristige Reduktionsziele, doch bei Themen wie Biodiversitätsrisiken sind die Offenlegungen bislang noch sehr begrenzt.»
Trotz der Fortschritte durch diese beiden Rahmenwerke wäre es jedoch irreführend, die ESG-Landschaft in der Schweiz als durchwegs positiv darzustellen. Es bestehen weiterhin regulatorische Unsicherheiten sowie eine komplexe Mischung aus freiwilligen und verpflichtenden Kodizes – einige mit Fokus auf doppelte Wesentlichkeit, andere ausschliesslich auf finanzielle Materialität. Zudem gibt es Unterschiede zwischen den Ansätzen der Schweiz und der EU: Während die Schweizer Vorgaben stärker auf Aktivitäten der Unternehmen setzen, welche die Auswirkungen auf das Klima berücksichtigen, liegt der Schwerpunkt der EU auf risikobasierter Berichterstattung.