In der Schweiz fehlen Tausende Hausärzte – wir zeigen, wo
Nur wenige junge Mediziner wollen Hausarzt werden, zu unattraktiv sind die Arbeitsbedingungen. Der Mangel dürfte die Gesundheitskosten weiter steigen lassen.
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Bild: DarkoStojanovic / Pixabay
Nur wenige junge Mediziner wollen Hausarzt werden, zu unattraktiv sind die Arbeitsbedingungen. Der Mangel dürfte die Gesundheitskosten weiter steigen lassen.
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7 Min. • • Anna Weber, «Neue Zürcher Zeitung»
«Ich kenne meine Patienten über Jahre, manchmal Jahrzehnte, kenne ihre Familien, ihre Lebensumstände, ihre Krankengeschichte», sagt Bettina Gantenbein Meier. Sie ist Hausärztin in der kleinen Gemeinde Mellingen im Aargau. Eine von viel zu wenigen medizinischen Grundversorgern in der Region.
Gantenbein teilt sich die Praxis mit einer Kollegin: Montag, Mittwoch, Freitag und jeden zweiten Samstag arbeitet sie, an den restlichen Wochentagen arbeitet ihre Kollegin Bettina Schmid. Eine zweite Hausarztpraxis im Ort führt Niklaus Wahli. Zu dritt betreuen sie die 6100 Einwohner Mellingens. Reicht das aus? Nein, sagt Gantenbein. In den letzten zehn Jahren habe sie kaum neue Patienten aufnehmen können. Für jene, die sie aufnimmt, hat sie strenge Auswahlkriterien: Wohnsitz in Mellingen, ein geeignetes Hausarztmodell bei der Krankenkasse, regelmässiger Bezug von Medikamenten über eine Online-Apotheke. Denn so könne sie den administrativen Aufwand minimieren, dem sie in der kleinen Praxis sonst nicht gewachsen wären. «Wir machen das aus reiner Not», sagt Gantenbein. «Wir können nicht alle nehmen.»
Die Situation ist typisch, denn der Aargau ist eine Hausarztwüste. Das Schweizerische Gesundheitsobservatorium (Obsan) hat für jede Gemeinde der Schweiz ermittelt, wie gut der Zugang zu hausärztlicher Versorgung ist. Der Aargau schneidet von allen Kantonen am schlechtesten ab: Die Hälfte der Gemeinden des Kantons gehört zu den 20 Prozent mit der schweizweit schlechtesten Versorgung.
Für eine gute Versorgung empfiehlt die OECD einen Hausarzt pro 1000 Einwohner, was einem Wert von 1 in unserer Karte entsprechen würde. Nur wenige Gemeinden erreichen diesen Zielwert. Dagegen gibt es Gegenden, in denen der Grossteil der Gemeinden nur halb so viele Hausärzte hat wie empfohlen. Die Unterschiede in der Verteilung der Hausärzte sind enorm.
Was beeinflusst die Entscheidung eines Hausarztes oder einer Hausärztin, sich in einer bestimmten Gegend niederzulassen? Ein Faktor sind sicherlich die Verdienstmöglichkeiten. Hausärztin Gantenbein erklärt, dass die Hausärzte im Aargau selbst keine Medikamente verkaufen dürfen. Ihnen fehlt damit eine zusätzliche Einnahmequelle im Vergleich zu Hausärzten in der restlichen Deutschschweiz. David Dürr vom Gesundheitsamt des Kantons Luzern führt unter anderem den niedrigen Taxpunktwert in Luzern als Grund für die wenigen Ärzte an. Dieser führt dazu, dass ein Arzt in Luzern für eine Behandlung nur 82 Franken bekommt, die ein Arzt in Basel-Stadt für 91 Franken abrechnen kann.
Hohe Kosten für Patienten und das Gesundheitssystem
Patienten ohne Hausarzt fahren oft auch bei kleineren Blessuren zur nächsten Notfallstation. Das wiederum überfordert die Spitäler. Das Kantonsspital Aarau schreibt auf seinem Blog von Wartezeiten von acht, neun oder sogar zehn Stunden und verweist dabei auf fehlende Hausärzte als einen Grund für das Problem. Den Patienten wird vor dem Gang zur Notfallstation eine Web-App ans Herz gelegt, die auf Grundlage der eingegebenen Symptome die Dringlichkeit einer Behandlung einschätzen soll.
Die Situation belastet nicht nur die Patienten, die stundenlang auf eine Konsultation warten müssen. Sie belastet auch das Gesundheitssystem mit hohen Kosten. Denn ein Besuch beim Hausarzt ist in der Regel deutlich günstiger als einer im Spital. «Ein Hausarzt kann viel besser und schneller einschätzen, was sein Patient braucht, als ein Arzt auf der Notfallstation, der nur die Momentaufnahme sieht», sagt die Hausärztin Gantenbein. So könnten sie und ihre Kollegen viele unnötige Untersuchungen und Behandlungen verhindern. Kritisch ist ausserdem die Situation chronisch kranker Menschen, die langfristige medizinische Betreuung benötigen. Sie können in Permanencen oder Notfallstationen nur schlecht betreut werden. Und mangelhafte Betreuung geht mit mehr Komplikationen und Spitaleinweisungen einher – die wiederum hohe Kosten verursachen.
Die Daten des Obsan zeigen grundsätzlich eine bessere Versorgung in Städten und Agglomerationen als auf dem Land. Doch das bedeutet nicht, dass in der Stadt jeder einen Hausarzt hat. In der Statistik werden auch Ärzte gezählt, die in ambulanten Zentren wie Permanencen arbeiten, die nach dem Walk-in-Prinzip funktionieren. Das ist zwar besser, als auf den Notfall zu gehen, die Vorteile eines Arztes, der eine langjährige Beziehung zum Patienten hat und mehr als die Momentaufnahme sieht, fehlen aber.
Der weitverbreitete Mangel an Hausärzten könnte eine Erklärung für einen teuren Trend liefern. Daten der Helsana-Krankenkasse zeigen, dass zwischen 2014 und 2022 die Kosten für Behandlungen bei Grundversorgern um 10 Prozent zurückgingen. Offenbar wurden Hausärzte von den Versicherten immer seltener aufgesucht. Im gleichen Zeitraum stiegen die Kosten für ambulante Behandlungen im Spital um 20 Prozent, die Kosten für Behandlungen bei Spezialisten stiegen sogar um 40 Prozent.
Berggemeinden auf Hausarztsuche
«Du hast den Doktortitel? Wir die Frakturen.» Dieser Slogan prangte Anfang des Jahres auf einem grossen Plakat am Ortseingang der Gemeinde Boltigen im Simmental. Mit der ungewöhnlichen Werbeaktion hoffte die Gemeinde, endlich einen Nachfolger für den Hausarzt Robert Härri zu finden. Härri hatte bereits neun Jahre über das Pensionsalter hinaus gearbeitet und war seit mehreren Jahren auf der Suche nach einem Nachfolger – ohne Erfolg. Ob dank dem Plakat oder durch Zufall: Boltigen fand mit Mohammed Al Saad tatsächlich einen Hausarzt, der sich im Tal niederlassen wollte. Doch die Freude hielt nicht lange an. Im November entzog das Gesundheitsamt des Kantons Bern Al Saad die Bewilligung zum Ausüben des Berufs. Laut Recherchen von SRF soll Al Saad seine Facharzturkunde gefälscht haben. So steht Boltigen plötzlich doch ohne Hausarzt da.
Die Gemeindepräsidentin von Boltigen, Anna Bieri, ist frustriert. «Wir brauchen dringend eine Grundversorgung hier in der Region», sagt sie. Auch die umliegenden Gemeinden Oberwil, Därstetten und Jaun haben keinen lokalen Hausarzt. Dem Winter blickt sie jeweils besorgt entgegen. Noch einmal so viele Touristen, wie die Gemeinde Einwohner habe, strömten zur Skisaison in den Ort, sagt Bieri. Kämen zu den Skiunfällen noch viele Konsultationen wegen kleiner Blessuren, sei der Notfall in Zweisimmen schnell überfüllt.
Die Geschichte von Boltigens Hausarztsuche mag ungewöhnlich sein, das Problem ist es nicht. Die Daten des Obsan zeigen, dass viele Berggemeinden das Problem teilen. Doch es gibt Ausnahmen. So ist die Versorgung in grossen Teilen des Kantons Graubünden angemessen. Doch auch hier könnte die Lage kippen. Rudolf Leuthold, Leiter des Gesundheitsamts Graubünden, berichtet von Schwierigkeiten, Nachfolger für aussteigende Ärzte zu finden. Denn wer eine Landarztpraxis führt, wird regelmässig auch am Wochenende und in der Nacht gerufen. «Für die Work-Life-Balance ist das schwierig», sagt Leuthold. Er prognostiziert, dass immer mehr Ärzte in grösseren Gemeinschaftspraxen in den Zentren arbeiten werden und die Patienten längere Anfahrtswege in Kauf nehmen müssen. «Die Hausarztpraxis wird aus dem Dorf verschwinden, so wie auch der Dorfladen, die Poststation und die Apotheke verschwunden sind», sagt Leuthold.
Dass sich mehr Hausärzte dafür entscheiden, in einer Gruppenpraxis in der Stadt zu arbeiten, dürfte auch am grossen bürokratischen Aufwand liegen, der für die Eröffnung oder Übernahme einer eigenen Praxis anfällt. Eine Anstellung in einem grösseren städtischen Ärztezentrum ist da deutlich einfacher. Auch die administrative Arbeit kann in grösseren Gemeinschaftspraxen auf mehr Schultern verteilt werden. Und insbesondere für junge Ärztinnen mit Kindern dürften die besseren Möglichkeiten der Kinderbetreuung in den Städten verlockend sein.
Der Ärztemangel wird sich verschärfen
Lege man den Richtwert der OECD zugrunde, fehlten im Moment etwa 4000 Hausärzte in der Schweiz, sagt der Präsident des Hausärzteverbandes Philippe Luchsinger. Und es ist absehbar, dass sich das Problem in den nächsten Jahren noch verschärfen wird. Jeder sechste der praktizierenden Hausärzte ist bereits über dem Pensionsalter, ein weiteres Drittel ist über 55 Jahre alt. Viele werden in den nächsten Jahren aus dem Berufsleben ausscheiden – und zu wenige Junge kommen nach, um sie zu ersetzen.
Für die kommenden Jahre zeichnet Luchsinger deshalb ein pessimistisches Bild: «Kurzfristig werden wir die Grundproblematik nicht verändern können, die Versorgung wird zwangsläufig schlechter werden.» Langfristig helfe nur die Ausbildung von deutlich mehr Haus- und Kinderärzten. Um das zu erreichen, hat der Bund schon 2016 eine Ausbildungsoffensive gestartet. Das Programm war erfolgreich, 2021 begannen 1730 junge Menschen in der Schweiz ein Medizinstudium – 50 Prozent mehr als noch 2016. Doch bis die neue Generation an Medizinstudenten ihre Ausbildung beendet hat, vergehen noch Jahre.
Auch in Mellingen ist bereits absehbar, dass die Hausärzte in den kommenden Jahren noch knapper werden. Bettina Gantenbein ist mit 62 Jahren die Jüngste der drei Mellinger Hausärzte. Der Kollege Wahli ist bereits 65 Jahre alt und reduziert seine Arbeitspensum. Und Gantenbeins Praxiskollegin Schmid geht demnächst in Pension. Die Suche nach einer Nachfolge war schwierig. Schliesslich hat sich doch eine Lösung gefunden: Der Hausarzt aus dem benachbarten Stetten schliesst seine Praxis dort und ersetzt Schmid in Mellingen. Er ist 67 Jahre alt. Jungen Nachwuchs finden? Beinahe unmöglich, meint Gantenbein.
Eigentlich sei Hausarzt ein Traumberuf, sagt Gantenbein. Doch immer mehr Bürokratie und immer weniger Zeit für die Patienten würden die Arbeit unattraktiver machen. «Ich bin nicht sicher, ob ich einem jungen Menschen den Beruf noch empfehlen würde», sagt sie.
Anna Weber, «Neue Zürcher Zeitung» (22.02.2024)
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