Was wäre die Schweiz ohne Kühe vor malerischer Bergkulisse? Leider sind Kühe schlecht für das Klima, vor allem wegen der Methanemissionen. Muss man also befürchten, dass die Alpenidylle auf dem Altar des Klimaschutzes geopfert wird? Nein, muss man nicht.
In der Diskussion um die verheerende Klimabilanz unseres Schlachtviehs geht es weder um die Kühe auf den Bergweiden noch um die Schafe auf den Deichen in Norddeutschland. Es geht um die Massentierhaltung – um Schnitzel und Würste, die zu Spottpreisen auf unseren Tellern landen.
Als Ersatz für Schlachtfleisch bieten sich nicht nur Pflanzen und Pilze, sondern neuerdings auch kultiviertes Fleisch aus dem Bioreaktor an. Diese Alternative aus echten Tierzellen hat viele ethische und ökologische Vorteile. Nur seine Klimabilanz war bislang umstritten. Nun belegen zwei neue Studien, dass kultiviertes Fleisch auch beim Klima punktet.
Durch den Fleischkonsum entstehen riesige Mengen an Treibhausgasen
Ein grosser Hebel zur Einsparung von Kohlendioxid, Methan und anderen Treibhausgasen ist die Ernährung. Vor allem unser Fleischkonsum schlägt da massiv zu Buche: Pro Kilogramm Rindfleisch entstehen rund 100 Kilogramm Kohlendioxid-Äquivalente, für Schweinefleisch sind es noch 12 und für Hühnchenfleisch 9.
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So kommen auch grosse Unterschiede für die jeweiligen Ernährungsweisen zustande: Eine Studie der Tulane-Universität in New Orleans errechnet pro 1000 Kilokalorien für vegane Ernährung einen Klima-Fussabdruck von 0,7 Kohlendioxid-Äquivalenten, für vegetarische einen von 1,2, für die Ernährung von Pescetariern, also Fischessern, einen von 1,7 und für Mischkost mit Fleisch einen von 2,2. Ein Verzicht auf Tierprodukte reduziert die Belastungen für das Klima demnach bis zum Faktor 3,2.
Inzwischen ist mit kultiviertem Fleisch eine neue Grösse hinzugekommen. Dabei handelt es sich um echtes Tierfleisch, nur ohne Tier. In Stahltanks vermehren sich die Zellen, die am Ende zu grösseren, zum Beispiel Steak-ähnlichen Einheiten verbacken.
Bis kultivierte Produkte in den Supermarktregalen liegen, müssen die Hersteller noch einige Hürden nehmen. Zu nennen sind hier zum Beispiel die perfekte Zusammensetzung der Nährmedien und das Hochskalieren auf Reaktoren mit einem Volumen von vielen tausend Litern. Auch muss der Preis konkurrenzfähig zum Fleisch aus der Massentierhaltung sein. Immerhin haben etliche Firmen schon den Sprung vom Labor in Pilotanlagen geschafft.
In der Schweiz darf man kultiviertes Fleisch vielleicht bald kosten
In Singapur und den USA kann man kultiviertes Fleisch bereits in einzelnen Restaurants bestellen, aber in Europa darf man es, abgesehen von den Niederlanden, nicht einmal kosten. Immerhin bemühen sich Länder wie Grossbritannien, Deutschland und die Niederlande, den Anschluss an die USA und Israel nicht zu verlieren.
Auch in der Schweiz tut sich etwas:
- Ein parlamentarischer Vorstoss der Grünen, Verkostungen zu erlauben, sei schon recht weit gediehen, sagt Ivo Rzegotta von der Organisation Good Food Institute gegenüber der NZZ.
- Die israelische Firma Aleph Farms hat Mitte vergangenen Jahres in der Schweiz die Zulassung eines kultivierten Fleischprodukts beantragt. Das war der erste Antrag in Europa überhaupt. In Israel hat die Firma für ihr Rindersteak gerade grünes Licht bekommen.
- Mit Mirai International ist auch ein Produzent in der Schweiz angesiedelt. Wie Mirais Gründer und CEO Suman Das gegenüber der NZZ einräumt, liegt seine Firma aber noch einen Schritt hinter Aleph Farms zurück.
- Cultured Hub für Food-Innovation in Kemptthal bei Zürich bietet neuen Startups, die sich in der Branche etablieren wollen, Know-how und Hilfe an. Der Hub ist ein Zusammenschluss von drei grossen Playern: dem Aromenhersteller Givaudan, dem Handelsunternehmen Migros und dem Technologiekonzern Bühler.
Kultiviertes Fleisch hat viele Vorteile
Kultiviertes Fleisch hat gegenüber Steaks und Koteletts viele Vorteile: Kein Tier wird unter unwürdigen Bedingungen gehalten und anschliessend getötet. Wasser- und Landverbrauch sind um ein Vielfaches geringer, weshalb sich beispielsweise trockene, dicht bevölkerte Länder wie Israel sehr für die neue Technologie interessieren. Auch die sogenannte Feed Conversion Ratio, also die Effizienz der Nutzung eingesetzter Nahrungsressourcen, ist ungleich besser. Und schliesslich finden sich in kultiviertem Fleisch weder Antibiotika noch Salmonellen, Schwermetalle oder Mikroplastik.
Nur in einem Punkt ist die Lage etwas komplizierter: Seit Mosa Meat im Jahr 2013 mit seinen legendären 300 000 Dollar teuren Burgerhacktätschli den Startschuss für kultiviertes Fleisch gab, streitet die Nahrungsmittelbranche darüber, ob das Fleisch aus dem Bioreaktor auch bei der Klimabilanz punktet. Während vor einigen Jahren Hochrechnungen geradezu überschwänglich zugunsten von kultiviertem Fleisch ausfielen, kamen spätere Arbeiten sogar zu gegenteiligen Schlüssen.
Nun stellen zwei neue Studien der unabhängigen Forschungsorganisation CE Delft die Diskussion auf eine solide Basis. Beide kalkulieren, anders als viele Modellrechnungen, mit Daten aus echten Pilotproduktionen.
Schwein und Huhn schaden dem Klima viel weniger als Rind
Die grössere der beiden Studien veröffentlichte CE Delft im vergangenen Jahr. Darin verglichen die Forscher die voraussichtliche Umweltbelastung durch kultiviertes Fleisch im Jahr 2030 mit der von Rind, Schwein und Huhn. Ein Parameter war der Klimafussabdruck.
Für den Vergleich spielten sie verschiedene Szenarien mit konventionellen oder nachhaltigen Energiequellen durch. Der Grund dafür: Anders als in der Tiermast entsteht bei der Herstellung von kultiviertem Fleisch die grösste Klimabelastung durch Strom. Besonders die Regulierung der Temperatur in den Reaktoren benötigt viel Energie.
Ergebnis: In jeder Konstellation schneidet kultiviertes Fleisch besser ab als Rindfleisch. Bei Schwein und Hühnchen muss man genauer hinschauen. In Zahlen: Kultiviertes Fleisch ist mit 2,8 Kilogramm Kohlendioxid-Äquivalenten pro Kilogramm Fleisch nur einen Zwölftel so klimaschädlich wie Rindfleisch, halb so schädlich wie Schweinefleisch und etwa gleich schädlich wie Hühnchenfleisch.
Das gilt aber nur, wenn Sonne und Wind den Strom für die Produktion vor Ort sowie für die Kulturmedien und andere vorgeschaltete Schritte besorgen. Käme dagegen ein konventioneller Energiemix zum Einsatz, wäre der Klimafussabdruck vermutlich sogar etwas höher als jener des Schweins und erst recht als jener des Huhns. Erkenntnis am Rande: Die grossen Stahlreaktoren zu bauen, ist zwar energieaufwendig, aber bei einer Laufzeit von zwanzig Jahren fällt ihre Umweltbelastung kaum ins Gewicht.
Die verbliebenen Fragezeichen zur Klimabelastung beseitigt nun die erst kürzlich erschienene zweite Studie von CE Delft. Für diese Untersuchung verglichen die Forscher den Klimafussabdruck der konventionellen Hühnerzucht mit Daten der israelischen Firma Super Meat, die Hühnerfleisch im Reaktor herstellt. Für den Vergleich wurden nachhaltige Zuchtbedingungen angenommen, das heisst mit Strom aus erneuerbaren Quellen und Soja aus Anbau ohne Rodung.
Am Ende der Berechnungen war der Klimafussabdruck von kultiviertem Fleisch unter vergleichbar nachhaltigen Bedingungen lediglich halb so gross. Und selbst wenn nur für das kultivierte Fleisch ein Standardenergiemix angesetzt wurde, war der Klimafussabdruck immer noch um 27 Prozent geringer als bei nachhaltig erzeugtem Hühnerfleisch vom Schlachthof.
Effizienzsprünge sind möglich
Was wie ein Rechenfehler aussieht, liegt an einem Effizienzsprung: Während das bislang übliche Verfahren der Zellvermehrung nach dem Prinzip «säen, ernten, reinigen» funktioniert, verwendet Super Meat einen Reaktor, aus dem die Mitarbeiter kontinuierlich Zellen entnehmen. Zudem wird das Nährmedium rezykliert, und dank einer passiven Kühlung wird die Energie für das Temperaturmanagement drastisch verringert.
Ein besonderer Service der Firma: Bei Super Meat in Tel Aviv können Interessierte in einer gläsernen Pilotanlage, genannt The Chicken, Burger, Spiesse und andere Leckereien aus kultiviertem Fleisch verspeisen und dabei zusehen, wie das Fleisch hinter einer Glasscheibe produziert wird.
Dagegen machen in Frankreich und Italien und neuerdings auch in Österreich Lobbygruppen gegen das «künstliche» Essen mobil und finden Gehör bei den jeweiligen Regierungen. «Im EU-Agrarministerrat bauen einige Landwirtschaftsminister gerade eine Front auf», sagt Ivo Rzegotta. Es geht ja auch um viel: Laut einer neuen Studie fliessen 82 Prozent der EU-Agrarsubventionen in den Bereich Tierhaltung – allen klimafreundlichen Bekenntnissen zum Trotz.
Attraktive Alternativen lassen Menschen umsteigen
Aber wäre es nicht sinnvoller, gleich ganz auf vegane Produkte zu setzen, statt sich auf das Abenteuer des kultivierten Fleisches einzulassen? Für Umwelt und Klima sind rein pflanzliche Fleischersatzprodukte die perfekte Alternative zum Schlachtfleisch. Geschmacklich und haptisch sind sie vom saftigen Rindersteak aber noch ein gutes Stück entfernt. Überzeugten Alleskonsumierern könnte hier das kultivierte Fleisch eine goldene Brücke bauen. Denn je ähnlicher die Alternativen den Schlachtprodukten sind, desto leichter wird der Umstieg fallen.