Neben Hochwasser, Überschwemmungen und Sturm ist Hagel einer der Forschungsschwerpunkte des Labs. Welche Bedeutung hat Hagel für die Schweiz?
Luzius Thomi: Im europäischen Vergleich hagelt es in der Schweiz sehr häufig. Etwa 32-mal pro Jahr fallen mindestens 2 cm grosse Hagelkörner. Das liegt an der gebirgigen Topografie und der Art, wie Luftmassen auf das Land treffen. Hagel und Überschwemmungen machen bei uns grob gerechnet je 40 Prozent der Schäden durch Naturgefahren aus, Sturmschäden 15 Prozent. Felsstürze, Lawinen usw. verursachen die restlichen 5 Prozent. Hagelhäufigkeit und eine hohe Risikoexposition, etwa durch teure Infrastruktur, führen zu relativ hohen Schäden. Am 28. Juni 2021 beispielsweise verzeichnete die Mobiliar 20000 Schäden in der Höhe von 110 Millionen Franken – eine gewaltige Summe für ein einziges Hagelereignis.
«Die Schweiz sucht das grösste Hagelkorn»: Kein Titel einer TV-Show, sondern der aktuelle Wettbewerb zum zehnjährigen Bestehen des Labs. Worum geht es?
Mit dem Wettbewerb sprechen wir die breite Bevölkerung spielerisch an, aber vor ernstem Hintergrund. Die Schweiz hat eines der besten Wetterradarnetze der Welt. Wetterradare liefern detaillierte Bilder der Niederschläge und Hagelzellen, Algorithmen berechnen damit die Hagelwahrscheinlichkeit und die maximal zu erwartende Grösse der Hagelkörner. Aber wir wissen nicht genau, was dann passiert. Dafür brauchen wir zusätzliche Bodendaten wie aus dem Wettbewerb.
Die universitäre Forschung und die Mobiliar als Versicherung arbeiten hier also zusammen − was bringt das der Hagelforschung?
Zu Hagel wurde in der Schweiz in den 70er- und 80er-Jahren geforscht, dann wieder ab 2010, vor allem im Rahmen der Professur für Klimafolgenforschung im Alpenraum und seit 2013 im Lab – beide an der Uni Bern, beide von der Mobiliar finanziert. Die Methodik hat sich weiterentwickelt: 2015 wurde in der App von MeteoSchweiz die Funktion «Hagel melden» ergänzt; 300000 Meldungen sind bisher eingegangen. 2018 haben wir mit MeteoSchweiz das weltweit einzigartige Schweizer Hagelmessnetz aufgebaut. 80 vollautomatische Sensoren stehen in den Hagel-Hotspots Napfgebiet, Jura und Südtessin. Daten aus Wetterradar, Crowdsourcing und Hagelmessnetz verknüpfen wir mit den Schadendaten der Mobiliar, in erster Linie aus Fahrzeugkasko- und Gebäudeschäden. Man könnte sagen: Die Uni hat die Sicht am Himmel, wir als Versicherung haben sie am Boden. Erst die wissenschaftliche und die Praxisperspektive zusammen ergeben das Gesamtbild.
Wie unterstützt die Mobiliar die Hagelforschung konkret?
Finanziell, mit Know-how, mit Schadendaten und personell. Und anstatt dass spannende Forschungsresultate in der Schublade landen, überführen wir sie in die Praxis. Dieser Praxisbezug ist unser grösster Mehrwert. Das Lab gehört wie die Professur für Klimafolgenforschung zum Mobiliar-Gesellschaftsengagement. Erkenntnisse fliessen ein, wo ein operatives Produkt verbessert werden kann. Für präzisere Hagelprognosen und Prävention arbeitet die Uni eng mit MeteoSchweiz zusammen, in der Forschung mit anderen Hochschulen und Partnern. Im Lab entstehen auch interaktive Webseiten und Wissensartikel. Neu haben wir mit Partnern pfannenfertige Hagel-Lernmodule für Gymnasien erarbeitet. Das Thema interessiert.
Grenzt die Zusammenarbeit mit der Privatwirtschaft die Forschung ein?
Egal, woher Gelder fliessen: Die Forschungsfreiheit muss gewährleistet sein. Die Wahl der Forschungsfragen und der Methoden liegt bei der Uni. Forschungsresultate sind öffentlich zugänglich, weder vorgefiltert noch beeinflusst. Diese Grundsätze sind für uns unantastbar.
Wie genau kann man Hagel vorhersagen?
Am einfachsten ist es, wenn eine Front von West nach Ost übers Land zieht. Viel schwieriger ist eine flache Druckverteilung, bei der Gewitter wie Pilze irgendwo in den Himmel schiessen. Die Modelle von MeteoSchweiz sind in den letzten Jahren deutlich exakter geworden, vor allem die sehr kurzfristigen Prognosen von etwa zwei Stunden, das Nowcasting. Dabei werden Gewitterzellen mit Potenzial für grossen Hagel erkennbar. Ob es tatsächlich hagelt, weiss man nicht. Bei Prognosen für die nächsten zwei bis drei Tage werden Grosswetterlagen analysiert, ob sie die richtigen Zutaten für Hagel mitbringen. Unklar bleibt, wann es wo genau hagelt. Bis in ein paar Jahren wird es vermutlich möglich sein, zum Beispiel für eine Stadt vorauszusagen: In drei bis vier Stunden ist mit grösseren Hagelkörnern zu rechnen. Das reicht als Vorlaufzeit, um ein Auto unterzustellen oder die Balkonmöbel zu schützen. An solche Prognosen tasten wir uns heran.
«Bis in ein paar Jahren wird es vermutlich möglich sein, zum Beispiel für eine Stadt vorauszusagen: In drei bis vier Stunden ist mit grösseren Hagelkörnern zu rechnen.»
Was sind die grössten Herausforderungen bei der Hagelforschung?
Die Kleinräumigkeit, in der Hagel auftritt, erschwert Messung und Vorhersage. Hagel muss genau dort fallen, wo ein Messgerät steht. Bei der Vorhersage kann man zwar ein Gebiet bezeichnen, das vermutlich von Hagel getroffen wird. Aber etwa in welchem Quartier, ist praktisch unmöglich und wird es wohl auch bleiben. Auch haben wir nur einige Minuten, um Hagel zu beobachten. Bei den Schadendaten wissen wir bei fahrenden Autos oft nicht, wo genau der Schadenort war. Das sind die methodischen Probleme, mit denen wir kämpfen.
Verändert sich die Hagelwahrscheinlichkeit mit dem Klimawandel?
Wir sehen Faktoren, die einander entgegenwirken: Einerseits ist durch höhere Temperaturen mehr Energie und mehr Wasserdampf in der Atmosphäre vorhanden; das spricht für heftigere Gewitter. Andererseits spielt bei der Hagelbildung die Nullgradgrenze eine grosse Rolle. Sie steigt mit wärmeren Temperaturen, was das Schmelzen der Hagelkörner beschleunigt. Was ist dominanter, die kräftigeren Gewitter oder die höhere Nullgradgrenze? Für die Schweiz und das angrenzende Ausland besagen auch defensive Prognosen, dass wir mit mehr grossem Hagel rechnen müssen. Der französische Versicherer Covéa geht davon aus, dass hagelbringende Gewitter in Frankreich um 40 Prozent zunehmen. In der Hagelforschung gibt es viele offene Fragen – diese ist eine davon.
Zur Person
Luzius Thomi (46) hat an der Universität Lausanne Geografie und Geologie studiert. Im Rahmen seiner Doktorarbeit untersuchte er den sozio-politischen Umgang der Bernerinnen und Berner mit Hochwasserrisiken. 2010 bis 2013 arbeitete er im Tiefbauamt Kanton Freiburg, Sektion Gewässer als Projektleiter und Leiter Studien und Planung. 2013 ging er zur Mobiliar Versicherung, wo er seit 2017 die Abteilung «Geoanalyse und Naturrisiken» leitet. Ebenfalls seit 2017 ist er Co-Leiter des «Mobiliar Labs für Naturrisiken» an der Universität Bern, gemeinsam mit Prof. Olivia Romppainen, Klimafolgenforscherin, und Prof. Andreas Zischg, der zur Modellierung von Mensch-Umwelt-Systemen forscht.