Nach dem Reaktorunglück in Fukushima 2011 hat Deutschland beschlossen, seine Atomkraftwerke abzuschalten und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Was halten Sie von der Energiewende?
François Tibi: Es kommt auf die Strategie an, mit der man die Energiewende umsetzen will. Wenn wir in Europa das Ziel Netto-Null bis 2050 erreichen wollen, müssen wir eine Alternative zur Kohle finden und die CO₂-Emissionen reduzieren. Dann brauchen wir einen glaubwürdigen Plan, um das Ziel zu erreichen. Wenn wir also im Idealfall einen solchen Plan hätten, bei dem wir auf lange Sicht auf Nuklearstrom verzichtet könnten, dann wäre es möglich, die Kernkraftwerke vor dem Ende ihrer technischen Lebensdauer abzuschalten. Ich halte es aber für problematisch, wenn Länder ihre Kernkraftwerke ohne glaubwürdige Planung abschalten. Denn so kommen stattdessen erhöht fossile Brennstoffe zum Einsatz. Deutschland hat die Laufzeiten für Gas und Kohle um einige Jahre verlängert, um Kernkraftwerke abzuschalten.
Ist der Umstieg auf erneuerbare Energien wirklich realistisch?
Ja, zu einem sehr grossen Anteil. Man muss aber beachten, dass in einem zu 100 Prozent erneuerbaren System besonders im Winter Energieengpässe drohen könnten. In Deutschland spricht man von einer «Dunkelflaute», wenn gleichzeitig Dunkelheit und Windstille herrschen. Bei dieser Wetterlage kann weder Solar- noch Windenergie erzeugt werden, während der Strombedarf meist hoch ist. Allgemeiner gesagt und aus globaler Sicht betrachtet, schätzt die Internationale Energieagentur (IEA), dass wir heute zum Erreichen des Ziels Netto-Null-Emissionen die Kapazitäten der Kernenergie verdreifachen müssten. Dies ist eine der Schlussfolgerungen der Klimakonferenz COP28 im letzten Jahr.
In der Schweiz stellt sich die Situation etwas anders dar.
Ja, absolut. Hier ist die wichtigste Stromquelle Wasserkraft, zu etwa 60 Prozent, und Kernkraft zu ungefähr 30 Prozent. Wir haben für einen schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie gestimmt. Nun stellt sich aber die Frage, inwieweit es wirklich möglich sein wird, die Wasserkraftreserven stärker zu nutzen und Windkraftanlagen in dem Masse zu bauen, wie es nötig ist. Insbesondere Windkraftprojekte stossen auf Widerstand. Ein alternatives Szenario ist, dass sich unser Land verstärkt durch Wasserkraft («Europas Batterie») auf dem europäischen Energiemarkt positioniert und seinen Bedarf an erneuerbaren Energien/Wasserstoff aus anderen Ländern importiert, was jedoch zu einer erhöhten Abhängigkeit von Europa führen würde. Dies in einer Realität, in der der gesamte Kontinent mit seinen Plänen zur Dekarbonisierung im Rückstand ist. Die Frage ist: Akzeptiert eine Gesellschaft die optische und akustische Belästigung durch Windturbinen? Oder die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und die Lagerung von Kernbrennstoffen bei der Kernenergie? Oder eine erhöhte Abhängigkeit von den Nachbarländern? Mit dem einen oder anderen muss man leben können.
Sie haben beim Kernenergiegipfel in Brüssel Podiumsdiskussionen mit Wirtschaftsführern und Staatschefs zum Thema Kernenergie geleitet. Was hat Sie am meisten überrascht?
Wir haben bei den europäischen Staatsund Regierungschefs einen Sinneswandel festgestellt, der noch vor kurzem undenkbar schien. Inzwischen sehen alle osteuropäischen Länder, Schweden, Finnland, die Niederlande, Frankreich und Grossbritannien die Kernenergie aktiv als Teil einer sicheren und nachhaltigen Energieversorgung. Einige Länder wie Polen und Tschechien sind mit ihren Planungen von neuen Atomkraftwerken bereits weit fortgeschritten. Lediglich Deutschland, die Schweiz, Italien und Spanien weichen von diesem Konsens ab. Hier spielen zweifelsohne die lokale Sicht auf die damit verbundenen Risiken und der emotionale Aspekt der Kernenergie eine bedeutende Rolle.