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In der Schweiz ist der schrittweise Ausstieg aus der Kernenergie beschlossene Sache. Foto: BCG

Klima & Energie Partner Inhalt: Boston Consulting Group (BCG)

«Kernkraft braucht einen 100-Jahre-Businessplan»

Weltweit fliesst heute mehr Geld in die Forschung und Entwicklung der Kernenergie als je zuvor. François Tibi, Energieexperte und Managing Partner der Boston Consulting Group (BCG) in der Schweiz, erklärt, warum die Technologie dazu beitragen könnte, die Klimaziele zu erreichen – ohne die Versorgungssicherheit zu riskieren.

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«Kernkraft braucht einen 100-Jahre-Businessplan»

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Nach dem Reaktorunglück in Fukushima 2011 hat Deutschland beschlossen, seine Atomkraftwerke abzuschalten und auf erneuerbare Energien umzusteigen. Was halten Sie von der Energiewende?

François Tibi: Es kommt auf die Strategie an, mit der man die Energiewende umsetzen will. Wenn wir in Europa das Ziel Netto-Null bis 2050 erreichen wollen, müssen wir eine Alternative zur Kohle finden und die CO₂-Emissionen reduzieren. Dann brauchen wir einen glaubwürdigen Plan, um das Ziel zu erreichen. Wenn wir also im Idealfall einen solchen Plan hätten, bei dem wir auf lange Sicht auf Nuklearstrom verzichtet könnten, dann wäre es möglich, die Kernkraftwerke vor dem Ende ihrer technischen Lebensdauer abzuschalten. Ich halte es aber für problematisch, wenn Länder ihre Kernkraftwerke ohne glaubwürdige Planung abschalten. Denn so kommen stattdessen erhöht fossile Brennstoffe zum Einsatz. Deutschland hat die Laufzeiten für Gas und Kohle um einige Jahre verlängert, um Kernkraftwerke abzuschalten.

Ist der Umstieg auf erneuerbare Energien wirklich realistisch?

Ja, zu einem sehr grossen Anteil. Man muss aber beachten, dass in einem zu 100 Prozent erneuerbaren System besonders im Winter Energieengpässe drohen könnten. In Deutschland spricht man von einer «Dunkelflaute», wenn gleichzeitig Dunkelheit und Windstille herrschen. Bei dieser Wetterlage kann weder Solar- noch Windenergie erzeugt werden, während der Strombedarf meist hoch ist. Allgemeiner gesagt und aus globaler Sicht betrachtet, schätzt die Internationale Energieagentur (IEA), dass wir heute zum Erreichen des Ziels Netto-Null-Emissionen die Kapazitäten der Kernenergie verdreifachen müssten. Dies ist eine der Schlussfolgerungen der Klimakonferenz COP28 im letzten Jahr.

In der Schweiz stellt sich die Situation etwas anders dar.

Ja, absolut. Hier ist die wichtigste Stromquelle Wasserkraft, zu etwa 60 Prozent, und Kernkraft zu ungefähr 30 Prozent. Wir haben für einen schrittweisen Ausstieg aus der Kernenergie gestimmt. Nun stellt sich aber die Frage, inwieweit es wirklich möglich sein wird, die Wasserkraftreserven stärker zu nutzen und Windkraftanlagen in dem Masse zu bauen, wie es nötig ist. Insbesondere Windkraftprojekte stossen auf Widerstand. Ein alternatives Szenario ist, dass sich unser Land verstärkt durch Wasserkraft («Europas Batterie») auf dem europäischen Energiemarkt positioniert und seinen Bedarf an erneuerbaren Energien/Wasserstoff aus anderen Ländern importiert, was jedoch zu einer erhöhten Abhängigkeit von Europa führen würde. Dies in einer Realität, in der der gesamte Kontinent mit seinen Plänen zur Dekarbonisierung im Rückstand ist. Die Frage ist: Akzeptiert eine Gesellschaft die optische und akustische Belästigung durch Windturbinen? Oder die Entsorgung abgebrannter Brennelemente und die Lagerung von Kernbrennstoffen bei der Kernenergie? Oder eine erhöhte Abhängigkeit von den Nachbarländern? Mit dem einen oder anderen muss man leben können.

Sie haben beim Kernenergiegipfel in Brüssel Podiumsdiskussionen mit Wirtschaftsführern und Staatschefs zum Thema Kernenergie geleitet. Was hat Sie am meisten überrascht?

Wir haben bei den europäischen Staatsund Regierungschefs einen Sinneswandel festgestellt, der noch vor kurzem undenkbar schien. Inzwischen sehen alle osteuropäischen Länder, Schweden, Finnland, die Niederlande, Frankreich und Grossbritannien die Kernenergie aktiv als Teil einer sicheren und nachhaltigen Energieversorgung. Einige Länder wie Polen und Tschechien sind mit ihren Planungen von neuen Atomkraftwerken bereits weit fortgeschritten. Lediglich Deutschland, die Schweiz, Italien und Spanien weichen von diesem Konsens ab. Hier spielen zweifelsohne die lokale Sicht auf die damit verbundenen Risiken und der emotionale Aspekt der Kernenergie eine bedeutende Rolle.

«Die Frage ist: Akzeptiert eine Gesellschaft die Belästigung durch Windturbinen oder die Lagerung von Kernbrennstoffen?»

Haben Sie auf der Konferenz auch negative Überraschungen erlebt?

Alle sprachen über ihre Pläne und grossen Ambitionen, präsentierten aber oft keine klaren Lösungen zu den Finanzierungskosten. Die Kernenergie ist heute zwar die billigste Energiequelle im europäischen Energiemix, weil alle Anlagen abgeschrieben sind. Sie ist aber vor allem in der Bauphase sehr teuer. Kernkraftwerke brauchen einen Businessplan für 100 Jahre. Allein von der Entscheidung über die Genehmigung bis zum Baubeginn verstreichen oft 15 Jahre. Danach läuft die Anlage 50 bis 80 Jahre. Zudem sollten die zukünftigen Strompreise planbar sein. Es gilt also, eine Finanzierungslösung zu erarbeiten, die vom freien Energiemarkt, der sich in den letzten rund 20 Jahren in Europa etabliert hat, abweichen kann und die das Risiko der Zinsvolatilität während der Bauzeit einbezieht. Ausserdem kommt man kaum umhin, einen Teil der Infrastruktur staatlich zu finanzieren. Gelingt es nicht, das Finanzierungsproblem zu lösen, verschieben sich die Baupläne immer weiter nach hinten.

Was sind die Vorteile der neuesten Reaktorgeneration?

Die Weiterentwicklung konzentriert sich vor allem auf die Sicherheit. Im Mittelpunkt stehen Konzepte für kleinere, modular aufgebaute Reaktoren – sogenannte SMR (Small Modular Reactors). Sie sind einfacher zu bauen und, wie die Hochleistungsreaktoren (EPR, AP1000), widerstandsfähiger gegen äussere Angriffe durch Raketen, Bomben und Terrorismus. Ausserdem sind sie oft mit verbesserten passiven Sicherheitssystemen ausgestattet, die bei einem Vorfall ohne Energiezufuhr funktionieren. Auf längere Sicht (nach 2050) werden Reaktoren des Typs AMR (Advanced Modular Reactors), eine Sonderform der SMR, auch alternative Brennstoffe nutzen können, zum Beispiel abgebrannte Brennelemente aus älteren Reaktoren. Auch die Kernfusionmacht grosse Fortschritte. Interessant ist, dass heute mehr Geld in die Forschung und Entwicklung der Kernenergie fliesst als je zuvor. Ein Grossteil stammt von Hightech-Unternehmen respektive Milliardären wie Bill Gates, denn zuverlässiger und CO₂- freier Strom ist für Tech- und KI-Akteure zentral.

China errichtet ein Atomkraftwerk nach dem andern. Kommen die Zukunftstechnologien von dort?

China hat noch keinen reellen Technologievorsprung, aber viel Erfahrung im Bau von Kernkraftwerken, derzeit sind 24 neue Kernkraftwerke im Bau. Ursprünglich hat China die Technologie aus den USA, Frankreich und Deutschland übernommen. So, wie Frankreich sich zur Zeit seines umfangreichen Atomprogramms in den 1970er- und 1980er- Jahren auf amerikanische Konstruktionen stützte. Auch Russland kann auf eine lange Geschichte der Nuklearforschung zurückblicken. Im Zug des Ukrainekriegs und im Kontext der aktuellen geopolitischen Situation dürften wir in Europa eher auf Anbieter aus OECDLändern – einschliesslich Südkorea und Japan – setzen. So bereichernd der Design- und Innovationswettbewerb ist: Irgendwann muss man sich im Kernkraftwerksbau für ein Modell entscheiden und diese Lösung kopieren und multiplizieren. Nur so lässt sich die Technologie wirtschaftlich betreiben.

Quelle: Statista

Statista

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Wie lange lassen sich die Schweizer Kernkraftwerke noch sicher betreiben?

Diese Frage muss die Eidgenössische Kommission für nukleare Sicherheit beantworten. Eines wissen wir aber: Weltweit wurde die Betriebsdauer der meisten Kernkraftwerke bis auf 50 bis 60 Jahre verlängert. Einige Anlagen in den USA haben sogar eine Verlängerung auf 80 Jahre beantragt. Die Möglichkeiten hängen von der Technologie, der Wartung und von Kosten-Nutzen-Erwägungen ab. In der Regel knüpfen die Behörden eine Verlängerungsentscheidung an eine Reihe von Bedingungen.

Sehen Sie Lösungen für das Atommüllproblem?

Dazu gibt es drei Strategien. Die USA sammeln alle Abfälle in einem Zwischenlager und hoffen, dass irgendwann eine Lösung gefunden wird. Die nordischen Länder, allen voran Finnland, lagern die radioaktiven Abfälle in einem stabilen Endlager. Sie können damit anscheinend leben. Der japanische respektive französische Ansatz basiert auf dem Recycling-Gedanken. Ein Teil des Brennstoffs soll recycelt, aufbereitet und wiederverwendet werden. Am Ende dieses doppelten Kreislaufs bliebe ein Restabfall übrig, der weniger gefährlich ist und sich etwas einfacher endlagern lässt.

Design ohne Titel - 2024-06-19T164527.476.png François Tibi, Managing Partner der Boston Consulting Group in der Schweiz, ausserdem Leiter der Energiesparte. Er verfügt über langjährige internationale Erfahrung in dieser Sparte: Seit seinem Eintritt in das Unternehmen vor fast 25 Jahren hat Tibi mit Kunden in Europa, Afrika, Asien und Nord- und Südamerika entlang der ganzen Wertschöpfungskette im Energiebereich gearbeitet.

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Die vier Schweizer Kernkraftwerke Beznau-1, Beznau-2, Gösgen und Leibstadt liefern rund ein Drittel des hierzulande produzierten Stroms: jährlich insgesamt rund 22 Milliarden Kilowattstunden. Dies entspricht weit mehr als dem Verbrauch sämtlicher Haushalte. Im Winter kann der Anteil der Kernkraftwerke bis auf die Hälfte der heimischen Stromproduktion steigen. Einen höheren Anteil an Kernenergie im Strommix als die Schweiz weisen in Europa im langjährigen Vergleich nur Frankreich (rund zwei Drittel), Belgien, die Slowakei, Slowenien, Schweden und Ungarn auf. Nach dem Reaktorunfall von Fukushima beschloss der Bundesrat 2011, schrittweise aus der Kernenergie auszusteigen. Seither ist der Bau neuer Kernkraftwerke verboten. Die vier bestehenden Anlagen dürfen in Betrieb bleiben. Die Nuklearforschung kann weitergehen, sie wird mit der Schweizer «Energiestrategie 2050» nicht eingeschränkt.

Deklaration: Dieser Inhalt wurde vom Sustainable Switzerland Editorial Team im Auftrag von BCG erstellt.

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