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Kernkraftwerk Leibstadt

Bild: Getty Images

Neue ETH-Studie: Ein Festhalten an der Kernkraft macht die Stromversorgung günstiger und sicherer

Lässt die Schweiz die bestehenden Kernkraftwerke länger laufen oder baut ein neues, wird die Stromlücke im Winter entscheidend verringert. Einen massiven Ausbau der erneuerbaren Energien braucht es allerdings auch dann.

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Die erneuerbaren Energien müssen rasch und stark ausgebaut werden. Darüber herrscht in der Schweizer Politik Einigkeit. Die Grundlage dafür soll das Gesetz über die «Sichere Stromversorgung mit erneuerbaren Energien» liefern, das sich im Parlament auf der Zielgeraden befindet.

Noch bevor das so wichtige Geschäft in trockenen Tüchern ist, kommt eine Studie der ETH Zürich nun zu einem ernüchternden Befund. Die Forschungsarbeit, die der NZZ exklusiv vorliegt, prognostiziert, dass die im Gesetz verankerten Ausbauziele mit der gegenwärtigen Politik deutlich verfehlt werden. So gehen die Wissenschafter davon aus, dass die Sonnen- und die Windkraft im Jahr 2035 gut 30 Prozent weniger liefern werden als von der Politik veranschlagt. Und auch für das Jahr 2050 wird das Ausbauziel knapp verfehlt.

Gleichzeitig nehmen die saisonalen Schwankungen stark zu: Während im Sommer grosse Überschüsse erzielt werden, klafft im Winter eine enorme Lücke von bis zu 10 Terawattstunden (TWh). Zum Vergleich: In den vergangenen Jahren waren es im Schnitt etwa 4 TWh. Ob eine so grosse Menge an Strom aus den Nachbarländern importiert werden kann, ist unsicher, weil der Strom in der kalten Jahreszeit künftig auch in den umliegenden Ländern knapp werden könnte.

Das Energy Science Center der ETH hat nun in seinem Forschungsprojekt, das der Wirtschaftsverband Economiesuisse in Auftrag gegeben hat, die Rolle der Kernkraft unter die Lupe genommen. Der Wirtschaftsdachverband will damit zur Versachlichung der Debatte über die Energiepolitik beitragen, die hierzulande nach wie vor von viel Ideologie und impliziten Denkverboten geprägt ist.

Die Studie geht der Frage nach, wie sich ein längerer Betrieb der bestehenden Kernkraftwerke auf die Importabhängigkeit im Winter, die Kosten und die Strompreise auswirkt – und welchen Einfluss ein neues Kernkraftwerk auf das Stromsystem der Schweiz haben würde. Um diese Fragen zu beantworten, haben die Wissenschafter der ETH drei Szenarien durchgerechnet:

  • Das erste geht davon aus, dass die vier bestehenden Kernkraftwerke 60 Jahre betrieben werden (Szenario 60).
  • Im zweiten Szenario laufen Beznau I und II 65 Jahre, Leibstadt und Gösgen je 80 Jahre (Szenario 65/80).
  • Im dritten Modell schliesslich wird zusätzlich zu den 60 Jahren Laufzeit für die bestehenden im Jahr 2040 ein neues Kernkraftwerk mit einer Leistung von 1,6 Gigawatt ans Netz genommen (Szenario 60+).

Verglichen wurden die drei Modelle mit dem «Weiter wie bisher»-Szenario, das den Status quo abbildet. Es geht davon aus, dass die beiden Reaktoren in Beznau 2029 und 2032 nach 60 Jahren stillgelegt werden, Leibstadt und Gösgen nach 50 Jahren Betriebsdauer in den Jahren 2029 und 2034.

Längere Laufzeiten, mehr Versorgungssicherheit

Das Ergebnis der Modellrechnungen ist eindeutig: Je länger die bestehenden vier Reaktoren laufen, desto günstiger, stabiler und sicherer wird die Stromversorgung. So mildert bereits eine Verlängerung des Betriebs von Gösgen und Leibstadt um 10 Jahre den Anstieg der Nettoimporte im Winter in den nächsten zwanzig Jahren stark ab. Werden die beiden Kernkraftwerke gar 80 Jahre betrieben, und Beznau I und II 65 Jahre, kann die Stromlücke weitgehend geschlossen werden.

Auch liessen sich damit die Kosten zur Deckung des Strombedarfs stark senken: Bei einer Laufzeit von 60 Jahren resultieren kumuliert von 2023 bis 2050 Einsparungen von 3 Milliarden Franken, im Szenario 65/80 sind es gar 11 Milliarden Franken. Die ETH-Forscher gingen dabei von der eher vorsichtigen Annahme aus, dass die durchschnittlichen Kosten für die Verlängerung des Betriebs eines Reaktors um 10 Jahre eine Milliarde Franken betragen.

Zugleich würde sich ein längerer Betrieb der Atommeiler in günstigeren Strompreisen niederschlagen. Weil damit der Einsatz von teuren Reservekraftwerken verringert werden kann, resultieren für die Konsumenten um 10 bis 25 Prozent günstigere Strompreise.

Nicht eingerechnet wurden in der Studie die Kosten für den Netzausbau. Da sich Kernkraftwerke deutlich besser in die existierende Infrastruktur einfügen und der Bedarf an Speichertechnologien weitgehend entfällt, dürften die Netzkosten jedoch geringer sein als bei einem vergleichbaren Ausbau der Sonnen- und Windenergie.

Der starke Ausbau der Photovoltaik führt gemäss ETH-Modell dazu, dass die Auslastung der Kernkraftwerke nach und nach sinkt. «Während die Schweizer Atommeiler heute in der Regel rund um die Uhr in Betrieb sind, könnten sie in Zukunft wohl nur noch in Zeiten mit geringer erneuerbarer Erzeugung kostendeckend betrieben werden», sagt Christian Schaffner, der Direktor des Energy Science Center der ETH.

Auch eine Abschaltung der Kernkraftwerke über mehrere Monate könnte sich gemäss dem ETH-Forscher als geeignet erweisen, insbesondere im Sommer, wenn die Exportmöglichkeiten begrenzt sind. Fraglich ist indes, ob die bestehenden Kernkraftwerke unter diesen Voraussetzungen noch rentabel betrieben werden können – oder eine zusätzliche Förderung nötig würde. Auch sind die bestehenden Reaktoren nur bedingt in der Lage, ihre Leistung kurzfristig zu reduzieren. Im Gegensatz dazu können neue Kernkraftwerke innerhalb von wenigen Stunden herunter- und wieder hochgefahren werden.

Zweiten «Mühleberg-Moment» verhindern

Für Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder unterstreichen die Studienresultate, dass die bestehenden Kernkraftwerke weitergeführt werden müssen, solange sie sicher sind. Er sagt: «Wir müssen es besser machen als unser Nachbarland Deutschland, das die verbliebenen Kernkraftwerke trotz Energiekrise und Klimazielen vom Netz genommen hat.» Auch dürfe es auf keinen Fall einen weiteren «Mühleberg-Moment» mehr geben. Das Berner Kernkraftwerk wurde Ende 2019 aus betriebswirtschaftlichen Gründen abgeschaltet.

Christian Schaffner von der ETH warnt derweil vor Fehlschlüssen. Die Studie dürfe nicht zum Anlass genommen werden, den Ausbau der erneuerbaren Energien wieder auf die lange Bank zu schieben. «Mit der Verlängerung der Laufzeit unserer Kernkraftwerke alleine lösen wir unsere Versorgungsprobleme nicht», sagt der Energieexperte. Wolle die Schweiz bis 2050 das Netto-Null-Ziel erreichen, müsse sie sämtliche fossilen Energien ersetzen und den Ausbau der Erneuerbaren weiter rasch vorantreiben.

Auch zum Bau eines neuen Kernkraftwerks äussert sich die Studie in der Tendenz positiv. So gehen die ETH-Forscher davon aus, dass im Szenario 60+ insgesamt Systemkosten von 12 Milliarden Franken eingespart und die Importabhängigkeit im Winter entscheidend verringert werden könnte.

Ob sich der Bau eines neuen Kernkraftwerks bis 2050 auch aus volkswirtschaftlicher Sicht lohnt, lässt sich aus der Studie nicht herauslesen. So veranschlagen die ETH-Forscher die Kosten für den Bau eines neuen Kernkraftwerks mit einer Leistung von 1,6 Gigawatt auf 8,5 bis 21,1 Milliarden Franken. Bei tiefer Annahme resultieren Einsparungen von 4 Milliarden Franken, bei hohen Baukosten jedoch fährt die Schweiz finanziell besser, wenn sie sich auf den Ausbau der Erneuerbaren konzentriert. Ein grosser Treiber sind dabei die Finanzierungskosten, die etwa die Hälfte der Investitionssumme ausmachen.

Da der Zeithorizont der Studie nur bis 2050 reicht, können die Vor- und Nachteile allerdings nicht vollständig dargestellt werden. «Ob ein Kernkraftwerk darüber hinaus wirtschaftlich betrieben werden kann, ist mit zu vielen Unsicherheiten behaftet», sagt Schaffner. Das Gleiche gelte für die Kosten für die Planung und den Bau des Kraftwerks.

Dessen ungeachtet kommt Economiesuisse-Präsident Christoph Mäder zum Schluss, dass neue Kernkraftwerke nun konkret geplant werden sollten. Die Studie zeige den Wert bestehender und das Potenzial neuer Kernreaktoren auf. «Das Abstimmungsergebnis im Wallis diese Woche hat nochmals bestätigt, was sich schon seit einiger Zeit immer klarer abgezeichnet hatte: Ohne Kernkraft laufen wir auf eine Wand zu – bei der Versorgungssicherheit, bei unserem Wirtschaftsstandort und bei den Klimazielen.»

Ohne alpine Solaranlagen und Kernkraftwerke geht es nicht

Die Abhängigkeit von Importen könnte auch ohne ein längeres Festhalten an der Kernkraft reduziert werden. Dafür nötig wäre allerdings ein rascher Ausbau von alpinen Solaranlagen und Windparks; Erstere produzieren bis zu 55 Prozent ihres Stroms im Winter, Letztere gar 60 Prozent. «Je früher der Ausstieg aus der Kernenergie erfolgt, desto schneller müssen die Kapazitäten für die erneuerbaren Energien ausgebaut werden», sagt Schaffner.

oraussetzung dafür ist laut dem ETH-Forscher, dass insbesondere alpine Freiflächenanlagen auch längerfristig stark gefördert werden. Gesichert ist dies nicht: Gemäss dem Solarexpress-Gesetz läuft die Subventionierung der alpinen Photovoltaik mit bis zu 60 Prozent der Investitionskosten Ende 2025 aus. Die ETH-Studie geht davon aus, dass ohne diese finanzielle Unterstützung kaum mehr alpine Solaranlagen installiert werden.

Letztlich macht die Studie damit klar, dass es nicht geht, gleichzeitig gegen Freiflächenanlagen in den Bergen zu sein und einen möglichst frühen Ausstieg der Kernkraft zu fordern. Soll sich die Photovoltaik auf die Dächer und Infrastruktur beschränken, muss die Schweiz länger an den Kernkraftwerken festhalten – oder sogar ein neues in Angriff nehmen.

David Vonplon, «Neue Zürcher Zeitung» (12.09.2023)

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