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Bild: chriswanders / pixabay

Gesellschaft

Radioaktive Strahlung erhöht das Krebsrisiko. Aber gilt das auch für kleinste Dosen?

Befürworter der Kernenergie stellen eine zentrale Annahme des Strahlenschutzes infrage. Die von ihnen propagierte Alternative ist politisch allerdings kaum durchsetzbar.

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Radioaktive Strahlung erhöht das Krebsrisiko. Aber gilt das auch für kleinste Dosen?

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«Alle Dinge sind Gift, und nichts ist ohne Gift; allein die Dosis machts, dass ein Ding kein Gift sei.» Mit diesem Spruch drückte der Schweizer Arzt Paracelsus im 16. Jahrhundert seine Überzeugung aus, dass toxische Substanzen unbedenklich oder sogar heilsam sind, wenn sie in kleinen Mengen verabreicht werden.

Das klingt nach einer Selbstverständlichkeit, ist es aber nicht. So beruht das heutige System des Strahlenschutzes auf einer Grundannahme, die dem Paracelsus-Prinzip widerspricht. Diese sogenannte Linear-No-Threshold-Annahme (kurz LNT) besagt, dass es keine Schwelle gibt, unter der ionisierende Strahlung – darunter versteht man Röntgenstrahlung und die Strahlung von radioaktiven Atomkernen – unbedenklich ist. Vielmehr sinkt die Wahrscheinlichkeit, an Krebs zu erkranken, linear mit der Dosis. Demnach kann auch schwache ionisierende Strahlung, wie sie beispielsweise bei der Computertomografie verwendet wird, in seltenen Fällen Krebs auslösen.

Heute fusst das ganze System des Strahlenschutzes auf dieser Annahme. Die Folge davon sind strenge Strahlenschutzvorschriften und niedrige Grenzwerte für die maximal zulässige Dosis ionisierender Strahlung. So gilt für Personen, die im Beruf ionisierender Strahlung ausgesetzt sind, in europäischen Ländern ein Grenzwert von 20 Millisievert (mSv) pro Jahr. Die allgemeine Bevölkerung darf durch kerntechnische Anlagen höchstens mit 1 mSv pro Jahr zusätzlich zu der natürlichen Strahlung belastet werden.

Wie tief diese Grenzwerte sind, zeigt folgender Vergleich: Die natürliche Strahlenbelastung liegt in der Schweiz im Durchschnitt bei 4,3 mSv pro Jahr, also deutlich über dem Grenzwert für die allgemeine Bevölkerung. Der Hauptbeitrag stammt vom Radon in der Atemluft, das durch radioaktive Zerfallprozesse in Gesteinen entsteht.

Das LNT-Modell wird seit 70 Jahren kritisiert

Das LNT-Modell begann sich in den späten 1950er Jahren zu etablieren. Fast ebenso alt ist der Widerstand dagegen. Viele Forscher waren damals der Auffassung, der Körper toleriere niedrige Dosen radioaktiver Strahlung – so wie er auch UV-Strahlung toleriert, solange diese eine gewisse Schwelle nicht überschreitet.

Sie konnten jedoch nicht verhindern, dass sich in einflussreichen Organisationen wie der Internationalen Strahlenschutzkommission (ICRP) oder dem amerikanischen National Council on Radiation Protection and Measurements (NCRP) nach und nach die Ansicht durchsetzte, es gebe keine unkritische Dosis radioaktiver Strahlung.

«Die Grenzwerte sind im Sinne eines tolerablen Risikos zu verstehen», sagt Werner Rühm vom deutschen Bundesamt für Strahlenschutz, der seit 2022 Vorsitzender der ICRP ist. Das Bestreben müsse es sein, die Grenzwerte zu unterbieten, solange dies mit vernünftigem Aufwand möglich sei. Man nennt das auch das Alara-Prinzip («as low as reasonably achievable», oder übersetzt: so niedrig wie vernünftigerweise erreichbar).

Die Kritik am Linear-No-Threshold-Modell und dem Alara-Prinzip ist nie verstummt. Unter Verweis auf biologische Experimente und epidemiologische Studien fordern etliche Forscher eine Neubewertung der Situation. Sie beklagen, dass die Risiken radioaktiver Strahlung übertrieben dargestellt würden und zu einem Klima der Angst führten. Es werde viel Geld für Strahlenschutzmassnahmen ausgegeben, die nichts brächten.

«Die gefühlten Risiken der Kernenergie stehen in keinem Verhältnis zur tatsächlichen Gefahr», sagt etwa der Teilchenphysiker Hans-Peter Beck von der Universität Bern. Das zeige beispielsweise die Polemik um die Verklappung des mit Tritium verunreinigten Kühlwassers des Kernkraftwerks Fukushima Daiichi im Meer. Die Internationale Strahlenschutzkommission und ähnliche Gremien schürten mit ihrer Überregulierung Panik und verhinderten damit eine solide Risikoanalyse der realen Gefahr der Kernenergie, schreibt Beck in einem Artikel, der von der Schweizerischen Physikalischen Gesellschaft veröffentlicht wurde.

Beck kann nicht nachvollziehen, dass Deutschland seine Kernkraftwerke vom Netz nimmt, aber weiterhin auf Kohlekraftwerke setzt. Er verweist auf eine Studie aus dem Jahr 2017. Gemäss dieser sterben pro Terawattstunde Kohlestrom etwa 25 Personen vorzeitig an Lungenleiden. Bezogen auf die gleiche Energiemenge sei die Mortalität durch die Kernenergie um einen Faktor Tausend kleiner, selbst wenn man Unfälle wie in Tschernobyl oder Fukushima berücksichtige.

Auch Strahlenmediziner kritisieren das LNT-Modell und üben Druck auf die Regulierungsbehörden aus. Sie befürchten, dass lebensrettende Röntgenuntersuchungen oder Bestrahlungen in Misskredit geraten, wenn selbst kleinste Mengen ionisierender Strahlung als potenziell krebserregend dargestellt werden.

Atombombenabwürfe haben die Lebensspanne verkürzt

Das LNT-Modell stützt sich stark auf die Langzeituntersuchung von Überlebenden der Atombombenabwürfe in Hiroshima und Nagasaki. Bei den anfänglich mehr als Hunderttausend Studienteilnehmern wird bis heute regelmässig erhoben, wie hoch ihr Risiko ist, an verschiedenen Formen von Krebs zu sterben.

Die letzte Auswertung der Daten stammt aus dem Jahr 2017. Sie liefert keinen Hinweis auf eine Dosisschwelle. Vielmehr ist der Zusammenhang zwischen dem Krebsrisiko und der Strahlendosis über einen weiten Bereich linear. Einige Forscher monieren jedoch, dass sich daraus keine Bestätigung für das Linear-No-Threshold-Modell ableiten lasse.

«Nur bei höheren Strahlendosen ist der lineare Zusammenhang statistisch gesichert», sagt etwa Clemens Walther von der Leibniz Universität Hannover, der seit 2024 den deutsch-schweizerischen Fachverband für Strahlenschutz präsidiert. Unterhalb von 100 mSv wiesen die Schätzungen des erhöhten Krebsrisikos grosse Unsicherheiten auf. Man könne daher nicht ausschliessen, dass das Risiko von kleinen Strahlendosen überschätzt werde.

Die Untersuchung der Atombombenopfer beruht zwar auf einer grossen Kohorte, sie krankt aber daran, dass die japanische Bevölkerung in sehr kurzer Zeit kleinen bis sehr hohen Strahlendosen ausgesetzt war. Das ist nur bedingt mit den Verhältnissen vergleichbar, die für den Strahlenschutz relevant sind. Hier geht es vornehmlich darum, Menschen vor schwacher Strahlung zu schützen, die über einen langen Zeitraum wirkt.

Für solche Situationen ist die sogenannte Inworks-Studie aussagekräftiger. Dabei handelt es sich um eine langjährige Untersuchung, die an mehr als 300 000 französischen, britischen und amerikanischen Arbeitern der Atomindustrie durchgeführt wurde. Laut der letzten Datenauswertung aus dem Jahr 2023 gibt es keine Anzeichen dafür, dass die Kurve bei kleinen Strahlendosen abflacht. Das Gegenteil ist der Fall. Unterhalb von 200 mSv steigt das Risiko, an einem strahlenbedingten soliden Tumor zu sterben, sogar schneller mit der Dosis an als bei höheren Dosen. Obwohl die Daten mit einer grossen Unsicherheit behaftet sind, impliziert die Inworks-Studie, dass das LNT-Modell die Mortalitätsrate bei kleinen Dosen nicht über-, sondern sogar unterschätzen könnte.

Walther gibt allerdings zu bedenken, dass die kumulierten Strahlendosen vieler Arbeiter im Bereich der natürlichen Strahlenbelastung liege. Das werfe die Frage auf, mit welcher Kontrollgruppe man vergleiche. Bei solchen Studien im Bereich kleiner Strahlendosen bestehe immer die Gefahr, dass man Faktoren übersehe, die einen ähnlich grossen Einfluss auf das Sterberisiko hätten wie die zusätzliche Strahlung, etwa das Rauchen. Deshalb seien die Aussagen mit Vorsicht zu behandeln.

Gesund trotz hoher natürlicher Strahlenbelastung

Zusammen mit der Untersuchung der Überlebenden der Atombombenabwürfe gehört die Inworks-Studie zu den robustesten Belegen für das LNT-Modell. Zu dieser Einschätzung kam im Jahr 2018 das National Council on Radiation Protection and Measurements, nachdem es 29 epidemiologische Studien begutachtet hatte. Andere Studien wecken allerdings Zweifel am LNT-Modell.

Dazu gehört eine Untersuchung an Bewohnern im indischen Bundesstaat Kerala. An manchen Küstenabschnitten mit Thorium-haltigem Sand liegt die natürliche Strahlenbelastung bei 80 mSv pro Jahr; sie ist also mehr als zwanzigmal so hoch wie in der Schweiz. Trotzdem hat man bisher keine signifikanten Hinweise auf ein erhöhtes Krebsrisiko gefunden. Ähnliche Untersuchungen gibt es in China und in Iran, wo die natürliche Strahlenbelastung an einigen Orten sogar noch höher ist als in Kerala.

Es sind aber nicht nur epidemiologische Studien, die Zweifel am LNT-Modell wecken. Kritik kommt auch von Biologen, die auf Zellebene untersuchen, wie der Körper mit kleinen Dosen ionisierender Strahlung zurechtkommt.

Unbestritten ist, dass auch schwache Strahlung die DNA schädigt. Aber folgt daraus zwingend, dass das Krebsrisiko linear mit der Dosis zunimmt? Zellbiologen bestreiten das. Sie verweisen darauf, dass unsere Zellen im Laufe der Evolution zahlreiche Mechanismen entwickelt haben, um DNA-Schäden zu reparieren. Nicht jede mutierte Zelle entwickle sich zwangsläufig zu einer Krebszelle. Manche Forscher gehen sogar noch einen Schritt weiter und behaupten, niedrige Dosen ionisierender Strahlung hätten eine positive Wirkung. Sie kurbelten das Immunsystem an und hemmten die Krebsbildung.

Nach Ansicht der Kritiker belegen die Zellexperimente, dass ionisierende Strahlung unterhalb einer gewissen Schwelle unbedenklich ist. Oft wird eine Jahresdosis von 100 Millisievert genannt. Diese Schwelle lässt sich statistisch allerdings ebenso wenig erhärten wie ein linearer Zusammenhang bei kleinen Dosen.

«Die Internationale Strahlenschutzkommission nimmt die biologischen Erkenntnisse durchaus ernst», sagt deren Vorsitzender Werner Rühm. So habe die ICRP beschlossen, ihre Empfehlungen aus dem Jahr 2007 in den kommenden Jahren zu überprüfen. «Der Strahlenschutz muss sich jedoch am Menschen orientieren.» Tumore würden oft erst Jahre oder Jahrzehnte nach der Bestrahlung auftreten. Die Kluft zwischen dem, was man auf Zellebene untersuchen könne, und der Krebsentstehung beim Menschen sei einfach zu gross, so Rühm. Deshalb seien die Zellexperimente nicht besonders hilfreich. «Für den Strahlenschutz bleibt das LNT-Modell die beste Annahme. Mit ihm befindet man sich auf der sicheren Seite.»

Rühm beklagt, das LNT-Modell werde oft falsch verstanden. Es sei kein Modell der biologischen Mechanismen, das durch Zellexperimente wissenschaftlich begründet oder falsifiziert werden könne. Es sei ein nützliches Arbeitsinstrument für den Strahlenschutz. «Die Gesellschaft erwartet zu Recht Empfehlungen.»

Warnung vor einem Missbrauch des LNT-Modells

Das sieht Clemens Walther von der Leibniz Universität Hannover auch so. Walther sieht allerdings auch das Missbrauchspotenzial dieses Instruments. «Man darf das LNT-Modell nicht benutzen, um die Zahl der Toten durch sehr kleine Strahlendosen zu berechnen.» Solche Berechnungen seien wegen der grossen Unsicherheiten sinnlos. Sie würden manchmal von Kernkraftgegnern dazu verwendet, Angst und Schrecken zu verbreiten.

Walther bezweifelt, dass sich das LNT-Modell heute noch durchsetzen würde. Gleichzeitig hält er es aber kaum für möglich, den Status quo zu ändern. In einer atomkritischen Gesellschaft sei das politisch nicht durchsetzbar. Die Menschen würden es kaum akzeptieren, wenn Strahlendosen für unbedenklich erklärt würden, die weit über den heutigen Grenzwerten lägen.

Walther empfiehlt, das LNT-Modell mit Augenmass anzuwenden. Bei der Regulierung von ionisierender Strahlung müsse man Vernunft walten lassen. «Man soll aufhören, dort zu optimieren, wo es nichts mehr zu optimieren gibt.»

Zusätzlich erschwert wird die Diskussion dadurch, dass das LNT-Modell nicht nur von der Atomindustrie und von Strahlenmedizinern kritisiert wird, sondern auch von der Gegenseite. So monieren atomkritische Kreise, das Modell unterschätze die Risiken von schwacher ionisierender Strahlung, und fordern schärfere Grenzwerte.

Die Strahlenexpertin Linda Walsh von der Universität Zürich, die Mitglied der Eidgenössischen Strahlenschutzkommission ist, wirft beiden Seiten Voreingenommenheit vor. Beide Interessengruppen neigten dazu, nur jene Studien herauszupicken, die ihre jeweilige Meinung unterstützten.

Walsh hält sich lieber an die von ihr mitverfasste Stellungnahme des NCRP aus dem Jahr 2018. Dort heisst es: «Keine alternative Dosis-Wirkungs-Beziehung erscheint für die Zwecke des Strahlenschutzes pragmatischer oder umsichtiger als das LNT-Modell.» Beck widerspricht. «Das LNT-Modell ist nicht pragmatisch, sondern einfach nur bequem. Es ist an der Zeit, eine gesellschaftliche Diskussion anzustossen.»

Christian Speicher, «Neue Zürcher Zeitung» (24.03.2024)

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