Reawake an der Bahnhofstrasse: Wo Frauen Chanel-Handtaschen loswerden
Besuch in der diskreten Abgabestelle eines Nobel-Secondhand-Ladens in Zürich.
Das schwarze Chanel-Täschchen aus diagonal gestepptem Leder war winzig, das war Maya vor dem Kauf schon klar.
Es bot nicht einmal Platz für ein Handy. Aber es sah super aus auf den Aufnahmen von einer Modenschau, die sie gesehen hatte. Die 31-Jährige stellte sich vor, wie sie selbst es zu besonderen Anlässen tragen würde, und dieses Bild gefiel ihr.
Konsum ist ein Glücksversprechen und Zürich das Zentrum der Verführung. Besonders an der Bahnhofstrasse.
«Man ist hier unglaublich vielen schönen Dingen ausgesetzt», sagt die Marketingmanagerin, die nicht mit vollem Namen genannt werden will. «Ich hatte die Illusion, dass ich diese Tasche öfter tragen würde.» Bewusster Konsum sei ihr wichtig, sie kaufe nur Dinge, die sie wirklich benutze. Aber dann lag das edle Stück jahrelang herum. «Wenn ich es schon nicht trage, soll sich jemand anderes daran erfreuen.»
Das winzige schwarze Chanel-Täschchen aus diagonal gestepptem Leder.
Deshalb betritt Maya an diesem Nachmittag einen Salon mit hoher Stuckaturdecke in der Zürcher City. Altes Parkett knarrt unter weissen Sneakers. Hier betreibt die Firma Reawake eine Kleiderannahme für Leute, die sich in diskretem Rahmen von Luxus trennen wollen, den sie nicht brauchen.
Es die Welt hinter dem Spiegel. Die Antithese zu jenen Warteschlangen vor den Nobelgeschäften, die immer wieder für Aufsehen sorgen. Und zu den Geschichten von Kunden, die gerade die Marke Hermès verklagen, weil man ihnen eine exklusive Birkin-Bag vorenthält.
Reawake ist ein Secondhand-Geschäft für Spitzenmode – nicht das einzige dieser Art, aber wahrscheinlich das mit der steilsten Karriere: vom Kellerlokal an die Zürcher Bahnhofstrasse, wo man früher über Kleider aus zweiter Hand die Nase gerümpft hätte.
Eine gerade erst veröffentlichte Studie der Zürcher Hochschule für angewandte Wissenschaften über nachhaltigen Konsum zeigt: Es gibt einen Trend hin zum Kauf von Secondhand-Mode. Und Frauen sind dafür einiges empfänglicher als Männer.
Ein T-Shirt von Dior, Neupreis 780 Franken – «Selbstläufer»
Bei Menschen wie Barbara Rickenbacher hat das Konzept einen Nerv getroffen. Sie betritt den Salon von Kopf bis Fuss in Weiss gekleidet, als komme sie von Ibiza. Ihre Kleider sind für sie eine optische Visitenkarte für ihre Arbeit als Innenarchitektin.
Eine Mitarbeiterin von Reawake prüft jedes der mitgebrachten Stücke von Barbara Rickenbacher, hier eines von Balenciaga.
Die 49-Jährige ist nicht wegen eines Fehlkaufs gekommen; sie wechselt jede Saison ihre Garderobe aus und kommt daher regelmässig mit ihrer gebrauchten Ware in die Annahmestelle von Reawake. Die grosse Tragtasche eines Möbelhauses, die sie anschleppt, ist gefüllt mit Kleidern von Dior und Missoni.
Eine Expertin lässt jedes einzeln durch die Finger gleiten, schätzt ab, ob es sich weiterverkaufen lässt – die Spannung ist vergleichbar mit jener bei der Pilzkontrolle. Die Frau greift sich ein unscheinbares weisses T-Shirt mit der Aufschrift «We should all be feminists.» Ist das ein «Treasure», ein Schatz, wie die guten Stücke hier genannt werden? Oder ungeniessbar?
Die Expertin nickt: «Das wird ein Selbstläufer! Das war mal all over social media.» Es ist von Dior, Neupreis 780 Franken. Wenn es eine Käuferin findet, erhält Rickenbacher einen Anteil des Ertrags; dieser reicht von 40 bis 70 Prozent.
Ein unscheinbares weisses T-Shirt mit der Aufschrift «We should all be feminists» von Dior wird im Reawake zum Schatz.
Barbara Rickenbacher will sich trotz ihrem Faible für die stets aktuellste Mode und ihrem Kleiderverbrauch als nachhaltige Konsumentin verstanden wissen. Das ist ihr wichtig.
Deshalb sieht sie es als Segen, dass sie ihre teuren Stücke hierherbringen kann, wo sie jemand anderem Freude bereiten, statt dass sie in einem vollgestopften Ankleidezimmer enden wie bei manchen Bekannten. «Ich habe zu Hause immer gleich viele Kleiderbügel», sagt sie. «Ich kaufe erst dann etwas Neues, wenn ich etwas Altes abgegeben habe.»
Hunderte von Nobel-Kleidern nach dem Kauf vergessen
Nicht alle Kundinnen, deren Kleider, Schuhe und Taschen schliesslich bei Reawake landen, sind so diszipliniert. Da sind auch solche, bei denen ganze Säcke voller Textilien schon zur Entsorgung bereitstanden – im Innern tauchten dann Seidentücher von Hermès auf oder Schuhe von Ferragamo, von denen jedes Paar 800 Franken kostet.
Etwa 500 nicht mehr gebrauchte Designerstücke kommen hier jede Woche zusammen.
Da ist auch die reiche Unternehmerin, für die ihre Haushälterin ein Lager gemietet hatte. Mit der Zeit sammelten sich dort Hunderte Kleider von Spitzendesignern an. Wenn die Frau aus St. Tropez zurückkam, gab sie den Angestellten ihre Einkäufe zum Wegräumen, und wenn sie ein paar Wochen später aus Monaco kam, hatte sie schon vergessen, was sie im Lager hatte.
Die meisten Kundinnen sind aber Frauen, die nicht im Überfluss leben, sondern sich von teuren Stücken trennen, um zu Geld zu kommen. Gerade im letzten Jahr fiel auf, dass plötzlich sehr viele Kleider abgegeben wurden, während der Konsum merklich zurückging.
Rea Bill, die Gründerin von Reawake, stammt selbst aus einfachen Verhältnissen. Sie war ursprünglich Heilpädagogin und hat nur zufällig entdeckt, was für ein Reservoir an ungenutzter Luxusmode hierzulande brachliegt. Und dass sich dies mit dem Bedürfnis nach einem bewussteren Konsum verbinden lässt.
Sie war ursprünglich Heilpädagogin: die Firmengründerin Rea Bill im Showroom, wo sie einige Highlights ausstellt.
Als sie einst Geld für eine Reise nach Thailand brauchte, versteigerte sie per Internet ein paar Kleider aus ihrem Nebenjob als Model. Ihr fiel auf, dass für bekannte Marken erstaunlich hohe Preise bezahlt wurden. Daraus entstand eine Geschäftsidee.
Bill hatte keine Geldgeber im Rücken, nur ein paar Kontakte in die Modebranche – und einen Keller. Als sie dort den ersten Verkauf organisierte, standen die Leute Schlange. Das sprach sich in Zürich herum.
Sie konnte eine Boutique nahe dem Schaffhauserplatz übernehmen und bastelte sich selbst einen Online-Shop. Aber so richtig schien sie der Sache noch nicht zu trauen: Sie nannte ihren Laden augenzwinkernd «Markentussi». Die einen fanden es lustig, andere weniger.
Der Durchbruch kam 2017 mit dem neuen Namen Reawake, der weniger nach peinlichem Modefimmel klingt und mehr nach Nachhaltigkeit. Es folgten ein Bericht im Schweizer Fernsehen, Läden in Basel, Bern und Genf, Partnerschaften mit Jelmoli und dem ehrwürdigen Modehaus Bongénie Grieder. Und vor kurzem nun ein Standort im ehemaligen Big-Geschäft an der Bahnhofstrasse.
Gleichzeitig stiessen neue Leute dazu, die den Betrieb professionalisierten. Bis zu 500 Designerstücke kommen in der zentralen Annahmestelle im Durchschnitt pro Woche an. Hier werden sie erfasst, auf Echtheit überprüft, geflickt und gereinigt, für den Online-Shop fotografiert und dann auf die Geschäfte verteilt.
Chanel-Kostüme von 1964 – inklusive eines vom Ehemann damals verfassten Briefes an die Boutique.
Obwohl Bill Freude an hochwertiger Mode hat, ist sie selbst immun gegen die Versuchung der vielen schönen Dinge, von denen sie umgeben ist. Das sagt sie, als sie durch den Showroom in der Kleiderannahme führt. Eine Schatzkammer voller «Treasures», in der es aussieht wie im Modemuseum.
Filigrane Highheels, deren Sohlen noch nie Asphalt berührt haben, sind wie leckere Häppchen auf einer Etagere angerichtet. Zuoberst thront eine Kelly-Bag von Hermès, die auch aus zweiter Hand noch fast 14 000 Franken kostet. An einer Stange hängt ein aquarellfarbenes Deux-Pièce von Chanel aus den sechziger Jahren – inklusive eines vom Ehemann damals verfassten Briefes an die Boutique, man solle seiner Frau bitte einen schönen Tag bereiten und bei Bedarf Geld bei ihm nachfordern.
Secondhand, aber nicht billig: Eine Kelly-Bag von Hermès für fast 14 000 Franken.
Der heimliche Treibstoff, der das System von Reawake am Laufen hält, ist Dopamin. Dieser Botenstoff, der im Gehirn das Belohnungszentrum aktiviert, wird ausgeschüttet, wenn man sich etwas Schönes kauft. Neurobiologen beschreiben Shopping daher als Ersatzbefriedigung für andere ungestillte Bedürfnisse. Weil der Effekt nicht lange anhält, kauft man bald wieder etwas Neues – und hat am Ende mehr, als man braucht.
Die beiden Kundinnen in der Kleiderannahme von Reawake sind überzeugt, gegen dieses Muster gefeit zu sein. «Das Marketing ist zwar heute psychologisch raffiniert und treibt uns dazu, dass wir Dinge unbedingt haben wollen», sagt Barbara Rickenbacher, «aber ich wehre mich dagegen.»
Auch Maya weiss als Marketingexpertin genau, dass Käufe nicht immer rational sind. Sie versuche sich nur wenig Neues zuzulegen, dafür langlebige Ware. «Nach einer aufreibenden Woche gönne ich mir lieber etwas Gutes zu essen – das ist nicht ganz so teuer wie eine Handtasche.»
Die Marketingmanagerin Maya bringt ihre kleine Chanel-Tasche ins Secondhand-Geschäft Reawake, um sie weiterzuverkaufen.
Beide haben nach dem Besuch bei Reawake nicht nur ein gutes Gefühl, sondern auch wieder etwas mehr Platz im Schrank. Platz, der wahrscheinlich nicht lange ungenutzt bleiben wird.
Marius Huber (Text), Annick Ramp (Bilder), «Neue Zürcher Zeitung» (29.04.24)
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Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.
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