Die Frage steht im Raum, ob sie womöglich Unternehmen einen billigen und unlauteren Ausweg erlauben. Anstatt in teure Anlagen und Aufrüstungen zu investieren, um die eigenen Prozesse und Produkte von fossilen Brennstoffen zu befreien, kaufen sie sich fein (und grün) raus, so die Sorge.
Emissionen freikaufen: Was kann der Markt?
So hat die jüngste Recherche des britischen «Guardian», der «Zeit» und der Nichtregierungsorganisation Source Material ergeben, dass von fast 90 Millionen Emissionsgutschriften des grössten Vermittlers auf dem Markt anscheinend «nur ein Bruchteil zu einer echten Emissionsreduzierung geführt hat». Bei mehr als 90 Prozent der Gutschriften, die durch Projekte für das Erhalten des Regenwalds generiert wurden, handele es sich wohl um Einsparungen, die nur auf dem Papier stattgefunden hätten, so die Befunde der zwei Medien und der Organisation.
Untersucht wurden Projekte von Verra, einem Unternehmen, das weltweit führend ist, die Standards und Kriterien für solche Projekte zu schaffen und diese zu zertifizieren. Das Geschäftsmodell wird folgendermassen beschrieben: Eine Organisation schätzt, dass durch ein Projekt die Abholzung von 100 Hektaren tropischen Walds verhindert wird; das wird dann in einen Betrag von eingesparten CO2-Emissionen umgerechnet, was von verschiedenen Faktoren abhängt und entsprechend unterschiedlich ausfallen kann.
Diese eingesparten Emissionen können dann von einem Unternehmen gekauft und auf die eigenen Klimaziele angerechnet werden. Das Problem dabei ist: Bei sehr vielen Projekten wurde die Abholzung – die hätte eintreten können – bei weitem überschätzt und aufgeblasen. Das bestreitet Verra allerdings. Die Kunden von Verra sind nicht nur unbekannte Firmen, sondern weltbekannte Unternehmen wie Shell, Gucci oder Disney. Die Zertifikate aus den Verra-Regenwaldprojekten gehören laut Untersuchung zu den am häufigsten genutzten Gutschriften.
Grüner Markt: Zertifikate für die Klimaneutralität
Die neuen Erkenntnisse sind umso bedeutender, weil der Markt insgesamt wächst. Laut einem neuen Bericht des Energieunternehmens Shell und der Beratungsfirma Boston Consulting Group – die Unternehmen kaufen selbst Gutschriften über den Markt ein – hat sich sein Wert seit 2020 auf etwa 2 Milliarden Dollar vervierfacht. Bis 2030 wird der Wert des freiwilligen Marktes laut Hochrechnung voraussichtlich fünfmal so hoch sein.
Der klimapolitische Knackpunkt bei der ganzen Sache ist natürlich: Die Emissionen müssen insgesamt weniger werden, damit die Klimaziele des Pariser Abkommens erreicht werden können. Wenn also für ein Projekt gezahlt wird, wo Emissionen ohnehin reduziert oder eingespart würden, helfe das dem Klima nicht, sagt Mark Trexler, einer der Pioniere des Marktes. Schliesslich müsse es bei diesen Projekten eigentlich darum gehen, zusätzlich neue Einsparungen zu schaffen, um die Emissionen eines Unternehmens wettzumachen. Emissionen, die ohnehin gesunken wären, können das nicht ausgleichen.
Trexler hat im Jahr 1988 im Rahmen seiner Arbeit bei dem amerikanischen World Resources Institute an der ersten Methodologie für Kompensationsprojekte gearbeitet. Im Vergleich zu heute sei die natürlich «ein Witz». Und dennoch: Im Gespräch verweist er auf Studien und sagt, er gehe davon aus, dass auch heute noch vielleicht nur rund 20 Prozent der Zertifikate wirklich die versprochenen Emissionsreduktionen lieferten. Das Problem, sagt Trexler, sei, dass kaum nachgefragt und geforscht werde, wie viele «schlechte» CO2-Zertifikate im Markt herumschwirren.
Das sind natürlich schlechte Nachrichten für die Tauglichkeit und Glaubwürdigkeit vieler Projekte, die eigentlich dem Klimaschutz dienen sollten.
Fallen die Emissionen wirklich? Einsparungen auf dem Papier schaden dem Klima
Neu sind diese Warnungen nicht. Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten kommen immer wieder Zweifel auf, ob diese Zertifikate tatsächliche Emissionsminderungen schaffen. Dabei geht es vor allem um drei Fragen: Bringen Projekte zusätzliche Emissionsminderungen? Sind die versprochenen Emissionsminderungen permanent? Werden womöglich klimaschädliche Aktivitäten einfach verlagert und in welchem Ausmass? Regelmässig werden Untersuchungen publik, welche die Frage aufwerfen, ob über die Jahre Millionen von Tonnen an vermeintlichen CO2-Einsparungen verkauft wurden, die es so eigentlich nie gegeben hat. Das wäre nicht nur schlecht für das Klima, sondern zerstörte auch das Vertrauen in den freiwilligen Emissionshandel – was irgendwann zum Kollaps des Marktes führen könnte, sagen Beobachter. Im vergangenen Jahr sei dieser beispielsweise nicht gewachsen.
Befürworter wie auch Kritiker wie Trexler sagen derweil, dass der Markt eine Rolle spielen könne, den Klimaschutz weiterzubringen. Es wird Geld in Projekte und in Regionen gelenkt, die sonst keine oder kaum Mittel erhalten würden. Auch, weil die dortigen Regierungen selbst nicht den Schutz der Wälder vorantrieben oder grüne Infrastruktur förderten – sei es aus finanziellen oder aus politischen Gründen.
Heute setze der Markt jedoch keine Anreize, um dem Spiel – in einigen Fällen auch bewusste Täuschung und Betrug – mit irreführenden Zertifikaten entgegenzuwirken, sagen Trexler und andere Beobachter. Das hat vor allem mit Geld zu tun: Je mehr Emissionen vermeintlich eingespart werden und Zertifikate entsprechend generiert werden, desto mehr verdienen alle Beteiligten – auch diejenigen, deren Aufgabe es eigentlich sein sollte, die Standards und Kriterien für die Zertifizierung von Projekten zu erstellen.
Dazu kommt, dass es keine unabhängige Instanz gibt, die das System überwacht. «Das grundsätzliche Problem besteht doch darin, dass Organisationen wie Verra, welche die Regeln für die freiwilligen Märkte aufstellen, keinen Anreiz haben, die Zahlen richtig hinzubekommen», sagt Danny Cullenward von der Organisation Carbon Plan.
Die Folge? Unternehmen könnten Behauptungen aufstellen und die Kunden überzeugen, «dass sie ohne Schuldgefühle fliegen oder klimaneutrale Produkte kaufen können, obwohl diese in keiner Weise klimaneutral sind», sagte die Forscherin Barbara Haye von der Universität Berkeley dem «Guardian».
Welche Projekte bringen Einsparungen? Vorsicht ist geboten
Die Befunde der jüngsten Recherche sind beunruhigend, überraschend sind sie nicht. Umweltaktivisten, Forscher und auch einige Marktteilnehmer warnen seit Jahren davor, dass Zertifikate durch Waldschutzprojekte risikobehaftet sind. Greenpeace veröffentlichte im Mai 2021 eine ähnliche Untersuchung. Einige Organisationen, wie etwa das deutsche gemeinnützige Unternehmen Atmosfair, das CO2-Kompensationen für Flüge und Unternehmen anbietet, nutzen daher solche Projekte auch nicht. Das drückt sich auch am Markt aus. Laut einer Analyse von Bloomberg New Energy Finance, die am Dienstag veröffentlicht wurde, ging das Angebot von Gutschriften mittels vermiedener Entwaldung von 2021 bis 2022 um ein Drittel zurück.
«Insider wissen, dass es grosse Risiken bei den Zertifikaten aus dem Schutz von Wäldern gibt», sagte etwa Dietrich Brockhagen, der Gründer von Atmosfair, in einem Interview mit der «Zeit». «Wenn der Wald in 40 oder 50 Jahren wieder abbrennt oder einen Schädlingsbefall bekommt, wird das CO2 wieder freigesetzt.» Das Gleiche gilt natürlich auch, wenn der Wald irgendwann abgeholzt wird.
Damit stellt sich die Frage, was aus der Recherche folgen sollte. Beteiligte warnen davor, die jüngsten Ergebnisse als Vorwand zu nehmen, den Markt ganz zu untergraben. Das ist natürlich nicht uneigennützig, aber wohl auch nicht ganz falsch. Die Recherche befasste sich nur mit Projekten zum Schutz des Regenwalds. Es gebe daneben andere Projekte, etwa Projekte zu erneuerbarer Energie, die weniger angreifbar seien und einen Beitrag leisteten, so das Argument. Gleichzeitig werde daran gearbeitet, qualitativ hochwertige und teurere Projekte zu schaffen, etwa durch die technische CO2-Entnahme.
Dennoch: Der Markt muss weiterentwickelt werden, um das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit von Gutschriften aufrechtzuerhalten. Das sagen auch Marktteilnehmer selbst. Unternehmen sind um ihren Ruf besorgt und wollen den Vorwurf des Greenwashing vermeiden. Die Preise für die Zertifikate könnten infolge dessen steigen, so die Aussicht – auch wenn sich dann die Frage stellt, ob Unternehmen willens sein werden, sehr viel mehr Geld für Zertifikate zu zahlen.
Momentan wird im Rahmen der teils privatwirtschaftlichen Initiative VCMI an neuen Standards gearbeitet, auch wenn die unabhängige Kontrolle weiter ausbleibt. Mark Kenber, der geschäftsführende Direktor, sagt im Gespräch, dass es in einer idealen Welt keinen Bedarf an freiwilligen Zertifikatemärkten gebe. Die Politik hätte die politischen Rahmenbedingungen schon längst schaffen müssen – man denke an CO2 -Bepreisung oder Auflagen –, um Unternehmen dazu zu bewegen, aus den fossilen Brennstoffen auszusteigen. «Da wir jedoch noch lange nicht da sind, wo wir sein sollten, müssen wir jedes uns zur Verfügung stehende Instrument nutzen, um die Klimakrise zu bewältigen – einschliesslich glaubwürdiger Zertifikate.» Auch er geht davon aus, dass der Markt weiter wachsen werde. Das mache es im Gegenzug immer wichtiger, dass Unternehmen eigene Emissionsreduktionen priorisierten, bevor sie Gutschriften kauften.
Der Druck auf Unternehmen wird sicherlich steigen. Schon jetzt drängen einige Umweltaktivisten dazu, das Konzept der klimaneutralen Unternehmen neu zu überdenken. Sie fordern, solche Selbstbezeichnungen gar nicht erst zuzulassen, um Greenwashing und die mögliche Täuschung von Konsumenten zu vermeiden. Das sieht Trexler ähnlich. Die Idee, dass Unternehmen CO2-neutral sein müssten, treibe die steigende Nachfrage nach Gutschriften seit dem Jahr 2015 an. Der Kauf von Zertifikaten könne nicht die Politik ersetzen. «Das ist einfach verrückt. Dazu wurden die Zertifikate nicht geschaffen.»
Update: Dieser Artikel wurde mit der jüngsten Stellungnahme von Verra vom 31. Januar erweitert.
Kalina Oroschakoff, «Neue Zürcher Zeitung» (30.01.2023)
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