Das Shoppingcenter ist heute schon von fast poetischer Tristesse. Die meisten Läden stehen leer, manche Schaufenster sind mit Folie verklebt, bei anderen sind die Jalousien heruntergelassen. Der Coiffeur hat an diesem Tag zu, in einem Laden macht grad eine Gruppe Senioren Gymnastikübungen, vermutlich auch hier Sturzprävention. Einen anderen Laden nutzt ein Senioren-Bastelklub für seine Treffen.
Seit jüngst auch noch der Supermarkt geschlossen hat, gibt es nur noch ein Geschäft für chinesische Lebensmittel. Und nicht zu vergessen: der Blumenladen am Eingang. An einer Säule hängt skurrilerweise eine alte Wohnzimmer-Wanduhr, und mitten in der Passage stehen ein paar Stühle, als wollte es sich hier jemand gemütlich machen.
Als kurz nach Mittag völlig überraschend ein Dutzend Kinder hereinstürmt, bekommt man zunächst einen Schreck, dann wirkt es wie eine Infusion. Tatsächlich, sagt Ikuko Kamioka, die Hortleiterin, sei die Nachmittagsbetreuung ein Grund, warum junge Familien hierher gezogen seien. Viele können es nicht sein, der Hort hat zwei kleine Zimmer, aber immerhin.
Ikuko lebt seit 25 Jahren hier, sie frage sich oft, wo all die Energie hin sei, sagt sie. Japans Energie. Der Elan. Sie hat eine Vermutung, woran das alles liegen könnte, also dass die jungen Leute nicht mehr heiraten wollen, keine Kinder bekommen, dieser Niedergang. «Weil am Ende doch immer alles an den Frauen hängenbleibt», sagt Ikuko. Die grössten Konflikte, die sie im Kinderhort mitbekomme, seien immer jene zwischen jungen Müttern und deren Müttern oder Schwiegermüttern.
Die mischten sich in alles ein, wollten nicht, dass ihre Töchter nach der Geburt berufstätig blieben. «Sie sollen alles so machen, wie sie selbst es machen mussten», sagt Ikuko. Ihre Schwiegermutter wohne auch im selben Haus, doch vier Stockwerke tiefer, sagt sie und grinst. «So geht’s.»
Junko Okamoto hört schweigend zu. Sie ist Jahrgang 1941, hat drei Kinder grossgezogen, ist geschieden. Sie ist erst vor zehn Jahren herzogen, weil ihr Sohn hier wohnte. Und weil es relativ billig sei, sagt sie. Der Sohn ist inzwischen weitergezogen. Die Enkel sehe sie nicht oft. «Macht nichts», sagt Junko, «so spare ich Geld.» Ihre Miene verrät nicht, ob es ein Scherz sein sollte.
Sie holt ihren Kalender hervor, um zu zeigen, was sie diese Woche alles vorhat. Sie unterrichtet ehrenamtlich, wie man die traditionellen Puppen für den japanischen Mädchentag herstellt, und ist Mitglied in einem Fotografierklub. Es heisse immer, die Alten in Japan seien allein und einsam, sagt sie. Das stimme überhaupt nicht. Ihre gehe es so gut wie noch nie im Leben. Sie spaziere oft zum Strand, erzählt Junko, nur eine halbe Stunde von hier, um den Sonnenuntergang zu sehen.
Der Kinderhort war eine Idee des regionalen Revitalisierungsbüros, einer Bürgerinitiative in Zusammenarbeit mit der Universität Chiba. Dort amtet Mineki Hattori, emeritierter Professor für Architektur, selbst schon Anfang 80.
Die Organisation vermisst und dokumentiert mit japanischer Sorgfalt und Detailliebe den Niedergang des Wohnkomplexes, bis hin zur Frage, wie viele Schritte die Senioren zurückzulegen haben, um dies oder das zu erreichen. «Ohne unsere Grafiken und Statistiken wüssten die Politiker überhaupt nicht, was hier los ist», sagt Hattori. Der Versuch, junge Leute anzuziehen, indem Wohnungen entsprechend renoviert würden, trage kaum Früchte. Sie bevorzugen urbane Lage. Vor allem: Woher nehmen? Die jungen Leute!
Laut dem Forschungsinstitut des Wertpapierhauses Nomura in Tokio waren bereits 2013 etwa 8 Millionen Wohnungen im ganzen Land unbewohnt, bis zum Jahr 2033, so seine Prognose, dürften 30 Prozent des gesamten Wohnungsbestandes in Japan leer stehen. In Kaihin New Town, so Hattori, sei dieser Anteil bereits erreicht.
Man erkenne es an den Balkonen, auf denen die montierten Wäsche-Aufhänger geschlossen seien, sagt Junko. Je weiter oben die Wohnungen, desto mehr verwaiste Balkone sieht man. In einem Schaukasten wirbt ein Wachdienst für Lichtkontrollen: Wenn 24 Stunden lang kein Licht angeschaltet wurde, kommt jemand und schaut, ob alles in Ordnung ist.
Manche Hausverwaltungen rufen ihre älteren Mieter einmal pro Woche an, um sich zu vergewissern, dass sie noch leben. «Kodukushi», der Tod in Einsamkeit, ist nicht nur ein Massenphänomen, sondern auch eine verwaltungstechnische Herausforderung. Und ein neuer Geschäftsbereich. Jedes Leben muss nach dem Tod abgewickelt werden, vom Entrümpeln der Wohnung bis hin zu administrativen Aufgaben.
Auch der Blumenladen von Yoshigaki Takashi in Kunitachi, einer Vorstadt von Tokio, bietet neuerdings «Syukatsu» an, Lebensende-Planung, einen Service, der weit über die Ausrichtung der Beerdigung hinausgeht. Von Erbangelegenheiten bis hin zur Versöhnung mit Angehörigen versucht Takashi, die Wünsche seiner Kunden zu erfüllen, die zum Teil Jahre vor ihrem Tod mit der Planung beginnen. «Die meisten haben niemanden mehr, oder die Kinder leben weit weg, und sie wollen alles geregelt haben», sagt Takashi. Neben der Angst vor Gebrechlichkeit und Abhängigkeit im Alter ist «Kodukushi» der Albtraum von Millionen.
Die Annahme, Verwestlichung und Globalisierung hätten die Alten ihrer Geborgenheit in der japanischen Grossfamilie beraubt, treffe nicht zu, schreibt der Anthropologe Jason Danely. Ebenso wenig wie die Annahme, Werte und Traditionen Japans sicherten den Alten einen Ehrenplatz in Familie und Gesellschaft. Berichte über Misshandlung, Vernachlässigung und auch Tötung durch Angehörige, verbunden mit Pflege, datieren weit zurück in frühere Zeiten, wie in anderen Gesellschaften auch.
1989 erliess die Regierung einen «goldenen Plan», der jedem das Anrecht auf «Pflege durch die Gesellschaft» versprach, unabhängig von der Familiensituation. Das Versprechen konnte nicht gehalten werden. Insgesamt werden in Japan mehr als zwei Drittel der Altenpflege von Familienmitgliedern geleistet – von Ehepartnern, Kindern oder Schwiegertöchtern.
In zwei von drei Fällen sind es Frauen, die pflegen. Und in mehr als der Hälfte der Haushalte sind beide – Pflegender und Kranker – über 65. «Rou-Rou Kaigo», Alten-Alten-Pflege. Da verwundert es nicht, dass auch der erweiterte Suizid ein häufiges Phänomen ist.
«Beeil-dich-und-stirb-Versicherung»
Kaneo und Kyoko Ishikawa wohnen seit fünfzig Jahren im fünften Stock eines Wohnblocks in Shinjuku im Zentrum von Tokio. Kaneo hatte ein kleines Abrissunternehmen, bis er plötzlich zwei Autounfälle binnen kurzer Zeit verursachte, nachdem er ein Leben lang unfallfrei gefahren war. Er hatte Mühe zu schreiben, die Balance zu halten, beim Lesen zu fokussieren. Mit 70 wurde bei ihm PSP diagnostiziert, eine degenerative Erkrankung des Gehirns, ähnlich wie Parkinson. Das war vor sieben Jahren.
Mittlerweile kann er nicht mehr gehen, nicht mehr sprechen, kaum noch schlucken. Er hat Pflegestufe 5, die höchste. Doch nur an drei Tagen pro Woche besucht er die Tagespflege, mehr kann das Paar sich nicht leisten.
2008 wurde ein neues System eingeführt, das die Hochaltrigen aus der nationalen Krankenversicherung ausgegliedert und neu aufgestellt hat. Der Versicherungsschutz der Menschen über 75 wird seitdem separat finanziert und liegt in lokaler Zuständigkeit. In Städten wie Tokio zahlt man höhere Raten als in ländlichen Gebieten. Immer mehr Leistungen werden gestrichen. Ein Politiker nannte die Versicherung die «Beeil-dich-und-stirb-Versicherung».
Zweimal im Monat kommt der Arzt zu Kaneo, einmal in der Woche eine Pflegehelferin, um beim Baden zu helfen. Den Rest der Zeit pflegt Kyoko ihren Mann rund um die Uhr, hebt ihn vom Bett in den Rollstuhl, hilft ihm auf die Toilette, kocht ihm Brei, füttert ihn. Sie selbst ist 74 Jahre alt. Bevor er erkrankt ist, hat sie zehn Jahre ihre Schwiegermutter betreut, die an Alzheimer litt.
«Nein», sagt Kyoko, «ich hadere nicht.» Ihr Mann habe alles für die Familie getan, den Kindern beste Schulen ermöglicht, hart gearbeitet, bis er krank geworden sei. Sie werde ihn bis zum Schluss zu Hause pflegen. Auf einen Platz im Pflegeheim hätten sie ohnehin kaum eine Chance, die Wartelisten seien lang. «Ich hoffe nur, dass meine Kraft reicht.»
So weit das Auge reicht: schwarze Haarschöpfe
Nur wenige Busstationen sind es von hier ins Zentrum von Shinjuku, einem der belebtesten Bezirke Tokios. Wer in Shinjuku Station aus der Bahn steigt, wird zum Molekül, Teil eines reissenden Stroms. Knapp vier Millionen Menschen bewegen sich hier täglich auf rätselhaft geschmeidige Weise, formieren sich zu Warteschlangen vor Rolltreppen und Ticketmaschinen, lösen sie wieder auf, drosseln oder beschleunigen das Tempo an den Zu- und Abflüssen, warten an exakt vorgegebenen Markierungen. So weit das Auge reicht: schwarze Haarschöpfe. Nur vereinzelt sieht man Ergraute in der Menge.
Nichts scheint hier abwegiger als Überalterung und Entvölkerung. Doch auf zwei dieser jungen Menschen im erwerbsfähigen Alter kommt rechnerisch schon heute mehr als ein über 65-Jähriger, die es zu finanzieren gilt. – Denkt man darüber nach, wenn man blutjung ist? Fragen wir doch zwei aus dem Strom der Vorbeieilenden.
Rikako Okubo zum Beispiel, eine 21-jährige Studentin der Ökonomie, sagt: «Natürlich. Das Thema ist überall. Und es macht einem Angst.» Sie glaube nicht, dass sie jemals Rente bekommen werde. Sie wolle unbedingt so viel Geld verdienen, dass sie nie auf den Staat angewiesen sei. Am liebsten würde sie ins Ausland gehen.