Der Starkregen war demnach nicht allein daran schuld, wie dramatisch die Konsequenzen ausgefallen sind, sondern auch Fehler bei der Landnutzung durch Bauern, Winzer und Kommunen aus Jahrzehnten. Die letzte ähnliche Flut hatte 1910 stattgefunden, das Wissen darum war längst verloren.
Drei Jahre nach der Überschwemmung von 2021 zieht Büchs eine bittere Bilanz: Statt neu zu denken, hätten die Verantwortlichen im Ahrtal in vielen Fällen auf einen reinen «Wiederaufbau» gesetzt, also darauf, alles wieder so zu machen, wie es vorher war. Wäre es nach Büchs gegangen, hätte es stattdessen einen durchdachten «Neuaufbau» geben müssen, auf der Grundlage von Respekt dafür, welche Flächen sich der Fluss bei der Flut wieder zurückgeholt und damit renaturiert hat – etwa einen grossen Parkplatz, Anbauflächen für Wein, bestimmte Böschungen oder auch Teile von Siedlungen, die Büchs dauerhaft freihalten würde.
Fehlanzeige: Büchs erkennt zwar auch einige positive Entwicklungen an, aber seinem Urteil nach wurde seit der Katastrophe in vielen Bereichen wieder «gebaut, als gäbe es kein Morgen mehr». Landwirte kämpften um jeden Quadratmeter neu aufgeschütteter Anbaufläche, Naturschutzregeln würden im Dienst schnellen Bauens ausser Kraft gesetzt, mitten im Überschwemmungsbereich würden «in einer Art russischem Roulette» Baumaschinen, Schotter und Holz gelagert, die bei einem neuen Hochwasser für die Bewohner des Tals lebensgefährlich werden könnten.
Sturzregen wird häufiger
«Irgendwie scheint kaum jemand ernsthaft damit zu rechnen, dass es in absehbarer Zeit wieder zu einer Flut wie 2021 oder schlimmer kommen kann, obwohl die Klimaerwärmung die höhere Frequenz solcher Unwetter sicher voraussagt», kritisierte der Wissenschafter vor wenigen Tagen.
Auch das Schweizer Bundesamt für Umwelt warnt vor dem Risiko häufigerer Hochwasser: «Die Klimaszenarien CH2018 zeigen, dass der Klimawandel zu mehr Extremereignissen führt: Starkniederschläge, aber auch Hitze- und Trockenperioden werden in den kommenden Jahrzehnten häufiger und stärker auftreten.» Der Schutz vor Naturgefahren sei deshalb «eine Daueraufgabe mit zunehmender Bedeutung».
Der WSL-Chef Hegg erwartet zwar keine völlig neue Dimension von Gefahr, er sagt aber, dass «je nach Einzugsgebiet mit den zunehmenden Niederschlägen auch die Hochwasserfrequenzen zunehmen könnten». Darum hält er es für nötig, den Hochwasserschutz weiter zu verbessern.
Im Vergleich ist die Schweiz ein Vorbild
Aber wie? In der Schweiz hat man aus Hochwassern mehr gelernt als nun im Ahrtal. Als Schlüsselereignis gilt die gewaltige Flut im Herbst 1868, die nicht nur zu einer Vielzahl Baumassnahmen führte, sondern auch dazu, den Hochwasserschutz als Gesamtaufgabe des Bundes zu definieren. Aus Hochwassern in den Jahren 1987, 1999 und 2005 resultierten dann jeweils neue Strategien, etwa dafür, auf der Grundlage von Gefahrenkarten weniger in Hochwasserzonen zu bauen, weitere Schutzbauten wie einen 1,2 Kilometer langen Stollen zur Entlastung des Thunersees zu schaffen oder die Bevölkerung besser zu warnen.
Bereits 2011 setzte sich die Schweiz weltweit mit an die Spitze der Bewegung, Gewässern wieder mehr natürlichen Raum zu geben. Das Gewässerschutzgesetz schreibt seither vor, innerhalb von 80 Jahren ein Viertel der rund 14 000 Kilometer verbauten Bäche, Flüsse und Seen des Landes zu revitalisieren – auch im Dienst des Hochwasserschutzes. Das bedeutet zum Beispiel, wieder Überschwemmungsgebiete zuzulassen, Kanäle um Flussschleifen zu ergänzen und verrohrte Bäche wieder freizulegen.
Der WSL-Chef Christoph Hegg hält das für richtig: «Wenn wir dem Fluss wieder mehr Platz geben und mehr natürliche Dynamik ermöglichen, dann senkt das den Wasserspiegel», sagt er. «Mit einer Revitalisierung können wir sowohl bei der Sicherheit als auch der Ökologie dazugewinnen.» Auch bei den zahlreichen überdeckten Bächen könne eine Freilegung sehr hilfreich sein. «Wenn eine Röhre bei einem Hochwasser zum Beispiel mit Holz verstopft wird, kann man nicht intervenieren, bei einem offen fliessenden Bach schon», sagt Hegg.
Das Bundesamt für Umwelt bezeichnet Renaturierungen als eine «sinnvolle Ergänzung zum technischen Hochwasserschutz», eine Art «zweiten Pfeiler». Würden Auen revitalisiert, dienten sie als natürliche Überflutungsflächen. Naturnahe Fliessgewässer hielten Wasser länger in der Landschaft und könnten einen Beitrag leisten, Hochwasserspitzen zu dämpfen.