Vom Drittweltland ist es in die erste Welt aufgestiegen. In den sechzig Jahren seiner Existenz als unabhängiges Land hat Singapur das Ziel des Gründervaters Lee Kuan Yew erreicht. Der südostasiatische Stadtstaat gilt als eines der wettbewerbsfähigsten Länder überhaupt, als Logistikdrehscheibe mit einem starken Finanzplatz, gut ausgebildeten Arbeitskräften und einer agilen, strategisch vorausschauenden Regierung, die den diplomatischen Spagat zwischen den USA und China meisterhaft beherrscht.
Weil es an einer der am stärksten befahrenen Wasserstrassen der Welt gelegen ist, profitierte das englischsprachige, handelsorientierte Singapur von der von den USA angeführten Weltordnung der Globalisierung. Nun hat der Wind gedreht. Der zunehmende Protektionismus und die Rivalität zwischen Peking und Washington werden für den Stadtstaat zur besonderen Bewährungsprobe. Für das Land mit seiner chinesischstämmigen Diaspora wäre eine militärische Auseinandersetzung der beiden Grossmächte um Taiwan existenzgefährdend.
Herausforderungen im In- und Ausland
Obendrein steht Singapur auch vor einer Reihe von Problemen im Inland: Seine Bevölkerung überaltert, und die Lebenshaltungskosten steigen. Die Marktkapitalisierung der Börse ist nach 2018 um fast ein Drittel geschrumpft, da es wenig Neuzugänge gab. Dies lässt darauf schliessen, dass der Standort weniger attraktiv geworden ist.
An einer Feier des sechzigjährigen Bestehens seines Landes machte Premierminister Lawrence Wong im August kein Hehl aus den Herausforderungen.
«Wir brauchen ein neues Modell für unsere Wirtschaft – um Singapurs Zukunft in einer veränderten Welt zu sichern», erklärte der 52-Jährige dem Publikum.
Singapur braucht ein neues Erfolgsrezept, doch es gibt wenig konkrete Vorschläge, wie ein solches aussehen könnte, ausser dass man die Handelsbeziehungen mit anderen Ländern intensivieren will und Wong durch den forcierten Einsatz künstlicher Intelligenz die Wettbewerbsfähigkeit der Wirtschaft unterstützen möchte.
Freier Handel und Finanzplatz sind wichtig
Die Insel mit ihren rund sechs Millionen Einwohnern hatte bislang zwei wirtschaftliche Standbeine: Zum einen hat der Stadtstaat einen der grössten Containerhäfen der Welt und profitiert von seiner Lage an der Strasse von Malakka, einer der wichtigsten Handelsachsen und ein Nadelöhr für den Erdöltransport aus Nahost nach China und Japan.
Zum anderen gibt es die Finanzbranche mit drei heimischen, grenzüberschreitend tätigen Banken, zahlreichen Zweigstellen ausländischer Institute und zwei riesigen Staatsfonds. Für Devisen ist Singapur vor Hongkong der umsatzstärkste Handelsplatz in Asien. Zudem ist das Land in der Vermögensverwaltung und im Rohstoffhandel ein bedeutender überregionaler Akteur.
Laut einem Bericht der Boston Consulting Group verzeichnete das Land im Geschäft mit den Superreichen 2024 einen prozentual grösseren Zuwachs an Neugeldern als alle konkurrierenden Finanzzentren inklusive der Schweiz – dank Zuflüssen aus China, Indien und anderen südostasiatischen Ländern.
China ist auch beim Güterhandel der wichtigste Partner, und namhafte chinesische Unternehmen wie Tencent, Alibaba oder Bytedance haben in Singapur grosse Niederlassungen. Etwa drei Viertel von Singapurs Einwohnern sind ursprünglich chinesischer Abstammung. Mit ihrer Rechtssicherheit und mit dem hohen Lebensstandard bietet die Insel wohlhabenden Chinesen einen attraktiven Standort.
Mit Washington kooperiert Singapur eng bei Verteidigungsfragen. Die amerikanische Marine hat im Norden der Insel eine Präsenz, und das singapurische Militär ist mit amerikanischen Waffen ausgerüstet. Darüber hinaus sind die Kapitalmärkte der Wall Street für die Finanzbranche lebenswichtig. Temasek, einer der beiden Staatsfonds mit einem Portfolio im Wert von 434 Milliarden Dollar, verdoppelte seit Trumps erster Amtszeit den amerikanischen Anteil seiner Anlagen auf fast ein Viertel. Bei den Direktinvestitionen in Singapur rangieren die Amerikaner auf Platz eins.
Da Singapur mehr aus den USA importiert, als es exportiert, ist der von Präsident Donald Trump verhängte, länderspezifische Strafzoll von 10 Prozent vergleichsweise milde ausgefallen. Trotzdem warnte Wong, dass das Ende des regelbasierten Güterhandels für Kleinstaaten wie Singapur ein schlechtes Omen sei.
Auf Englisch in Peking
Bislang lautet die Devise der Regierung, gute Beziehungen sowohl mit China als auch mit den USA zu unterhalten. Symbolhaft für Singapurs Manövrieren zwischen den beiden Grossmächten war Premierminister Wongs Staatsbesuch in Peking im Juni. Obwohl sein Vater aus dem chinesischen Hainan stammt und Mandarin eine der vier Amtssprachen seines Landes ist, sprach der Harvard-Absolvent Wong den chinesischen Präsidenten Xi Jinping öffentlich auf Englisch an.
Um weiterhin vom freien Handel profitieren zu können, setzt der Stadtstaat auf die im September lancierte Future of Investment and Trade Partnership (FIT). Das Projekt, an dem sich auch die Schweiz beteiligt, wurde als Reaktion auf die amerikanische Zollpolitik ins Leben gerufen und soll den regelbasierten Handel mit kleineren Ländern wie Neuseeland oder den Vereinigten Arabischen Emiraten fördern.
Wongs Anliegen, durch KI die Wettbewerbsfähigkeit zu fördern, passt gut zu Singapurs langjähriger Offenheit gegenüber dem digitalen Wandel. Damit und darüber hinaus will die Regierung bürokratische Hürden abbauen und so auch Börsengänge wieder beleben.
«Singapur ist sich der Herausforderungen sehr wohl bewusst», so ist David Skilling, Direktor des niederländischen Beratungsunternehmens Landfall Strategy Group, überzeugt. Er war zuvor im Stadtstaat bei McKinsey tätig. «Singapur hat Weitblick, kann die Chancen ergreifen und sich strategisch positionieren.»
Probleme, die dem Standort schaden könnten
Doch es gibt auch innen- und aussenpolitische Probleme, die nicht so einfach zu beheben sind und die dem Standort nachhaltig schaden könnten.
Bislang hat Singapur im Wettrennen um die klügsten Köpfe und deren Gelder von der Wirtschaftsflaute in China und den politischen Unruhen in Hongkong profitiert. Nach einem Einwanderungsschub aus dem Reich der Mitte gleich nach der Covid-19-Pandemie deutet sich allerdings eine Abflachung des Zustroms oder gar eine Trendumkehr an.
Nach einer Reihe von Skandalen – unter anderem ein Fall von Geldwäscherei, bei dem mehr als 2 Milliarden US-Dollar von einer chinesischen Bande durch den Finanzplatz Singapur geschleust wurden – haben die Behörden ihre Aufsicht über die Finanzinstitute nochmals verstärkt. Besonders im Fokus stehen Hedge-Funds und sogenannte Family Offices – Vermögensverwaltungsgesellschaften für Familien.
Unter Singapurern sind sowohl die Lebenshaltungskosten als auch die Einwanderung zu politischen Brennpunkten geworden. Als Reaktion darauf hat die Regierung die Kriterien für Einwanderer – sogar für hochqualifizierte Arbeitnehmer – mit einem Punktesystem verschärft. Auch das könnte das Wirtschaftswachstum dämpfen, und spätestens wenn Unternehmen deswegen Jobs in andere Länder verlegen, würde es auch der Attraktivität des Standortes schaden.
Am gefährlichsten für Singapur aber wäre eine Zuspitzung des Konflikts zwischen China und den USA.
«Sollte es zu einem Konflikt um Taiwan kommen, würde ganz Asien hineingezogen werden», erklärte Premierminister Wong dem «Wall Street Journal» im September. Die USA drängen schon jetzt ihre Verbündeten in der Region, Position für den Fall zu beziehen. Für Singapur wäre dies ein schier unmögliches Dilemma.