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Gesellschaft

Die Industrie der Zukunft: Präsident Macron lockt die Hersteller von Autobatterien nach Nordfrankreich. Aber ist die Region bereit dafür?

Macron will in Dünkirchen beweisen, dass verlassene Industrieregionen wiederbelebt werden können. Doch vor Ort zeigt sich, dass es dafür mehr braucht als Arbeitsplätze.

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Die Industrie der Zukunft: Präsident Macron lockt die Hersteller von Autobatterien nach Nordfrankreich. Aber ist die Region bereit dafür?

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Die Stadt Dünkirchen in Nordfrankreich ist durch den Zweiten Weltkrieg berühmt geworden. Im Mai 1940 evakuierten die Alliierten am Strand Hunderttausende Soldaten. Dann eroberte Hitlers Wehrmacht die Stadt.

Heute steht der Strand von Dünkirchen für die Gegensätze der französischen Nordatlantikküste. Das Meer rauscht, Möwen kreisen über den Dünen, Spaziergänger spielen mit ihren Hunden. Doch in der Ferne steigt schwarzer Rauch aus Kaminrohren. Von Fabriken, die Aluminium, Stahl oder Zement produzieren. Dünkirchen, ein Ort der Idylle und Industrie.

Nach dem Zweiten Weltkrieg war Europa im Aufschwung. Dünkirchen profitierte von der geografischen Lage, der Schiffswerft und dem Hafen. Doch ab den 1980er Jahren gingen viele Firmen ins Ausland, die Werft wurde geschlossen. Und Tausende Franzosen wurden arbeitslos.

Seither schrumpft die Bevölkerungszahl in der Region, junge Franzosen ziehen in Grossstädte wie Lille und Paris. Bahnhöfe sind verlassen, Wohnhäuser leer, Fabrikhallen stillgelegt. Den Bewohnern fehlen Perspektiven, viele sind frustriert, fühlen sich vom Staat vernachlässigt. Die Misere hat politische Folgen: Die Region war früher traditionell links, heute wählen die Bewohner zunehmend rechtspopulistische Parteien.

Die Regierung will die Region nun wieder attraktiver machen. Der Präsident Emmanuel Macron hat ein Projekt mit einem vielsagenden Namen lanciert: «Frankreich wiederbeleben». Er sucht nach Investoren und fördert die Industrie. In Dünkirchen soll die europaweit grösste Produktion von Batterien für Elektroautos entstehen. Macron verspricht 20 000 neue Arbeitsplätzein zehn Jahren. 40 000 neue Einwohner sollen in die Region ziehen.

Doch in Dünkirchen und Umgebung fragen sich die Einheimischen: Sind wir überhaupt bereit dafür?

Die traditionelle Industrie muss sauberer werden

Der Franzose Olivier Rebouillat ist Betriebsleiter bei Aluminium Dunkerque, der grössten Giesserei Europas. Die Fabrik liegt westlich von Dünkirchen und produziert Aluminiumplatten, die vor allem zu Konservendosen verarbeitet werden. Der Rohstoff wird immer wichtiger, denn das leichte Aluminium wird in Elektroautos verbaut.

Aluminium Dunkerque steht für die Industrie, die seit Jahrzehnten zu Dünkirchen gehört. Und die laut Rebouillat heute einen schlechten Ruf hat. Die Arbeit gilt als streng und die Produktion als dreckig. Die Fabrik konnte den CO2-Ausstoss seit 2012 um 17 Prozent senken. Und doch gehört sie noch immer zu den grössten CO2-Verursachern Frankreichs. In einem Jahr braucht sie so viel Strom wie die Stadt Lille mit 233 000 Einwohnern.

Die Hallen der Fabrik sind Hunderte Meter lang, kalt und grau. Die Schmelzöfen setzen industrielle Gase frei. Rebouillat trägt bei der Arbeit einen Ganzkörperanzug, Stiefel, Handschuhe, Helm, Atemmaske, Schutzbrille und Ohrstöpsel. Er schreit, damit man ihn versteht.

Rebouillat sagt, dass es für Firmen wie Aluminium Dunkerque schwieriger werde, Fachkräfte zu finden. Bald würden viele Mitarbeiter pensioniert, und junge Bewerber gebe es wenige. Die Menschen in der Region würden älter, und die Jungen hätten kein Interesse an einem Job in der Industrie.

Und doch ergebe es Sinn, dass die Regierung in die Industrie in Dünkirchen investiere, sagt Rebouillat. Die Region habe vieles von dem, was eine erfolgreiche Industrieregion brauche. Dünkirchen hat den drittgrössten Hafen Frankreichs. Dessen Kapazität soll bald verdoppelt werden. Und wenige Kilometer westlich des Hafens steht eines der grössten Atomkraftwerke des Landes. Es wird in den kommenden Jahren saniert und um zusätzliche Reaktoren erweitert.

In Dünkirchen produzieren noch immer einige der grössten Industriefirmen Frankreichs. Der Stahlkonzern ArcelorMittal, der Energiekonzern Total Energies, der Chemieproduzent BASF. 24 Prozent der Arbeitsplätze in der Region befinden sich im Industriesektor. Das sind doppelt so viele wie in anderen Regionen Frankreichs.

Der Betriebsleiter Olivier Rebouillat sagt, die Industrie gehöre zur Identität der Stadt und ihrer Bewohner. In Dünkirchen hätten die Leute den «esprit», den es brauche, um die ambitionierten Pläne der Regierung umzusetzen.

Drei Firmen haben in den vergangenen zwei Jahren in der Region Batteriefabriken eröffnet. Total Energies etwa oder der Autohersteller Renault. Bis 2026 kommen drei Firmen dazu: das taiwanische Unternehmen Pro Logium, das französisch-chinesische Unternehmen XTC/Orano und das französische Startup Verkor. Zusammen investieren sie mehr als 8 Milliarden Euro.

Doch die Zusagen der Firmen haben einen Preis. Die Regierung soll ihnen insgesamt 1,5 Milliarden Euro an Subventionen bezahlt haben, damit sie sich in Frankreich niederlassen. Für die Gemeinden entstehen zudem hohe Kosten wegen der neuen Infrastruktur: neue Strassen, Wasserleitungen, ein elf Kilometer langes Stromnetz.

Zusammenarbeit zwischen Universität und Industrie

Die neuen Autobatteriefabriken stehen für die kohlenstoffarme Wirtschaft der Zukunft. Sie sind ein Kontrast zur schmutzigen Schwerindustrie. Olivier Rebouillat befürchtet, dass die neuen Fabriken den Wettbewerb um Fachkräfte verschärfen werden. Und vor allem, dass sie ihn gewinnen werden. Denn Tech-Firmen seien bei den Jungen beliebt.

Dabei wandeln sich auch traditionelle Firmen wie Aluminium Dunkerque. Präsident Macron hat verfügt, dass die Industrie bis 2050 CO2-neutral produzieren muss. Die Fabriken müssen bis dann mit erneuerbaren Energien statt fossilen Brennstoffen produzieren. Die Firmen würden neue Technologien einführen, sagt Rebouillat. Das schafft neue Jobs, bei denen es feine Technik statt Muskelkraft braucht.

Rebouillat hofft, dass die Aussicht auf eine saubere und moderne Produktion die Jungen wieder in die Industrie lockt. Doch auch wenn das gelingen sollte, müssen sie zuerst zu Fachkräften ausgebildet werden.

Also hat die Universität der Region in Dünkirchen ein Ausbildungszentrum gegründet: das Entwicklungszentrum für die Kompetenz in der kohlenstoffarmen Industrie von morgen. Der Projektleiter Arnaud Cuisset hofft, dass das Zentrum in fünf Jahren 12 500 Fachkräfte und 10 500 Lehrlinge aus- und weiterbildet. Die Programme beinhalten alle Bereiche der Industrie – vom Elektriker, der lernt, Solaranlagen zu installieren, bis zum Experten für künstliche Intelligenz. Es gibt eintägige Weiterbildungskurse, aber auch Vollzeit-Studiengänge.

Die Teilnehmenden besuchen zudem Kurse an neu eingerichteten Instituten direkt in den Gebäuden der Unternehmen wie Total Energies, ArcelorMittal oder des künftigen Batterieherstellers Verkor.

Das neue Ausbildungsmodell ist erst im Januar gestartet. Cuisset ist damit beschäftigt, an Schulen die Industrieberufe zu bewerben. Er sagt: «Die Jungen haben das Bild ihrer Grosseltern im Kopf, wie sie tagein, tagaus in der harten und dreckigen Industrie arbeiten.» Nun will ihnen Cuisset die Industrie der Zukunft zeigen. Er und sein Team fahren in die Schulen und haben Virtual-Reality-Brillen dabei, mit denen die Schüler Industrieberufe kennenlernen.

Noch ist offen, ob die Fachkräfte rechtzeitig ausgebildet sein werden. Und ob es überhaupt genügend Bewerber gibt. Wenn sich die Jungen nicht überzeugen lassen, müssen die Unternehmen die Arbeiter im Ausland rekrutieren.

Doch dem Professor Cuisset und dem Betriebsleiter Rebouillat geht es um mehr als die Fachkräfte. Dünkirchen soll wieder ein Ort werden, an den die Franzosen gerne hinziehen. Dafür braucht es mehr als Arbeitsplätze und Ausbildungen. Es braucht Strassen, Wohnungen, Spielplätze, Kitas, Ärztinnen, Lehrer.

Zuwanderung setzt Politik unter Druck

40 000 zusätzliche Einwohner sollen in den nächsten zehn Jahren in die Region ziehen. Das wäre ein Fünftel der heutigen Bevölkerung. Lokalpolitiker wie Bertrand Ringot sind dafür zuständig, dass die Infrastruktur für die neuen Einwohner rechtzeitig bereit sein wird. Ringot ist seit 22 Jahren Bürgermeister von Gravelines, einem Dorf westlich von Dünkirchen.

Gravelines ist mit 12 000 Einwohnern eine kleinere Ortschaft in der Region. Doch in Gravelines steht das Kernkraftwerk, das den Grossteil des Strombedarfs der Industrie und der Bewohner deckt. Das Kernkraftwerk brauche zusätzliche Reaktoren, um die Nachfrage nach Strom in Zukunft zu decken, sagt Ringot. Auch ein Windpark im Meer und Solaranlagen sind geplant.

Der Bürgermeister Ringot unterstützt, wie fast alle seine Amtskollegen in der Region, die Industriepläne der Regierung. Die Gemeinden profitieren schon jetzt von zusätzlichen Steuereinnahmen. Doch sie sind mit dem Bau der neuen Infrastruktur in Verzug. Gravelines braucht in den nächsten fünf bis zehn Jahren 1500 neue Wohnungen. Doch wenn es im jetzigen Tempo weitergehe, sagt Ringot, seien es in fünf Jahren nur 400.

Dass es im Wohnungsbau nur langsam vorangeht, hat auch mit der Geschichte zu tun. Die Gemeinden wollen bei der «Reindustrialisierung des Nordens» Fehler vermeiden, die in der Nachkriegszeit gemacht wurden. Damals kam ein Grossteil der Arbeiter aus dem Ausland – für sie wurden ganze Quartiere gebaut. Als die Arbeiter ihre Jobs verloren, zogen sie weg oder verarmten. Es war der Beginn der sogenannten Ghettoisierung der Vorstädte.

Ein Gesetz verbietet es zudem, zusätzliche Landwirtschaftsflächen umzuzonen. Ringot baut verdichtet und lässt verlassene Häuser oder Fabriken abreissen. Jede Parzelle zählt. Aus Einfamilienhäusern werden Wohnblöcke. Ringot sagt: «Ein Haus mit Garten wird es hier nicht mehr geben.»

Die zusätzlichen Arbeitsplätze sind laut Ringot zwar wichtig. Doch wenn die drei geplanten Fabriken fertig gebaut seien, brauche es eine Pause. In der Region fehlten jetzt schon Lehrkräfte und Ärzte. Ringot sagt, dass ältere Bürgerinnen und Bürger ihm sagten, sie würden für die Pension den Ort verlassen. Sie sorgten sich, dass bald zu viele Menschen in Gravelines wohnten.

Ringot hat Verständnis für die Leute. Er will Naherholungsgebiete anlegen und seine Stadt lebenswerter machen. Und er will den Tourismus fördern. Badestrand und Industrie: Für Ringot geht das gut zusammen. «Als in den 1980er Jahren das Kernkraftwerk gebaut wurde, gab es auch Bedenken wegen der Touristen. Heute steht neben dem Kraftwerk ein Campingplatz.» Dieser sei vor allem bei Niederländern und Deutschen beliebt. Und wenn die Industrie bald sauber sei, sagt Ringot, gebe es auch keine schwarzen Rauchwolken mehr am Horizont.

Corina Gall, «Neue Zürcher Zeitung» (25.03.2024)

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