Etwa drei Viertel der deutschsprachigen Pensionierten haderten mit dem Italienischen, ist Eller van Ligtens Eindruck. Das Erlernen von Fremdsprachen erfordere in ihren Augen im reifen Alter mehr Anstrengung – oder man sei einfach des Lernens müde geworden. Also prallen Goethes und Dantes Sprache im Tessin manchmal geräuschvoll aufeinander, und ebenso die unterschiedlichen Schweizer Volksseelen.
Gerade im amtlichen Verkehr haben Sprachmuffel keine Chance, denn hier gilt nur das Italienische. Eine staatspolitisch gerechtfertigte Sache, ist sie doch die dritte offizielle Landessprache. Und von dieser sollten die Miteidgenossen aus dem Norden zumindest eine Ahnung haben, so der Tessiner Tenor.
Einen guten Anfang stellt folgendes Gebot der Autorin Eller van Ligten dar: Bestelle im Restaurant «due espressi» und nicht «zwei Espresso». Tessiner reagieren sehr entgegenkommend auf jeden Satz auf Italienisch, egal wie unbedarft er klingen mag. Erste Türen gehen auf. Zu wenige Pensionierte aus dem Norden beherzigen diese simple Regel. Und nur eine Minderzahl nimmt die Herausforderung an, aktiv in den südlichen Kulturraum einzutauchen.
Gerade darum ist die berühmte Tessiner «Deutsch-Bubble» entstanden: Man bleibt oft, manchmal zu oft, unter sich im deutschsprachigen Freundeskreis und in den deutschsprachigen Vereinen. Von diesen haben einige im Laufe der Jahre eine beachtliche Grösse erreicht und ein veritables eigenes Kulturprogramm auf die Beine gestellt, so der Deutschschweizer Club Locarno oder der Deutsche Club Tessin.
SVP will keine Parallelwelt
Es gibt sogar eine politische Bubble: Die Tessiner SVP weist eine Untersektion auf, die eigens für Deutschsprachige gedacht ist. Ein Unikum, denn in der Romandie existiert nichts Vergleichbares. Ziel und Zweck der deutschsprachigen Tessiner SVP-Gruppe ist aber nicht nur das Politisieren, das von regionalen Themen wie Grenzgänger und Arbeitsplätze geprägt wird. Das gesellige Beisammensein mit Ausflügen, Essen und Jassen nimmt sich noch einen Hauch wichtiger aus.
Doch man will hier keine grosse Parallelwelt entstehen lassen. Der Sektionsvorstand ist ausdrücklich darum bemüht, den deutschsprachigen SVP-Mitgliedern die Integration in die Tessiner Gesellschaft zu erleichtern. Und er weiss, was die Grundlage ist: lerne Italienisch. Dann erfolgt ein sehr fruchtbarer Zusammenprall der nördlichen Volksseele mit der südlichen.
Ein paar Mitglieder der deutschsprachigen Tessiner SVP-Fraktion haben sogar Einlass in den Grossen Rat oder in Gemeindeexekutiven gefunden. Letzteres ist gerne in jenen Regionen der Fall, wo sich zu wenig politisierfreudige Einheimische finden. Zum Beispiel im idyllischen Malcantone bei Lugano, aber auch in einigen Gemeinden des Locarnese.
Geriatrisches Wissen
Die vielen deutschsprachigen Rentner befeuern wesentliche Teile der Tessiner Wirtschaft: Restaurationsbetriebe, Immobiliengesellschaften, Banken, Versicherungen, Notare, Anwälte, Ärzte sowie Kliniken und andere Einrichtungen, die sich auf Patienten im dritten Lebensabschnitt konzentrieren. Mittlerweile hat das Tessin ein beachtliches Know-how in der Geriatrie erworben.
Und schliesslich zeigt der wirtschaftliche Impact der deutschsprachigen Rentner auch eine umgekehrte linguistische Wirkung. Die Tessiner Dienstleister lernen möglichst gut Deutsch. Es ist längst eine Binsenwahrheit: Deutsch zu beherrschen, erweist sich als wichtiger Karrierefaktor für Tessiner. So verstärkt sich im besten Falle, zumal wenn besagte Rentner auch etwas fremdsprachlichen Ehrgeiz entwickeln, das Gefühl des nationalen Zusammenhalts.
Allerdings verstärkt sich ein negativer Trend innerhalb der Rentnergemeinschaft: der Rückzug aus der «Sonnenstube», wie die Autorin Eller van Ligten und auch das Tessiner Statistikamt festgestellt haben. Seit fast zehn Jahren reicht die Menge der deutschsprachigen Wegziehenden mitunter so stark an die Zahl der Zuzüger aus dem Norden heran, dass fast eine neutralisierende Wirkung entsteht.
Bei den Rückkehrern handelt es sich meist um Personen im höheren Alter. Sie stehen vor einer längeren Spitalbehandlung oder dem Eintritt in ein Pflegeheim. Wenn man länger krank oder pflegebedürftig sei, wolle man sich komplett in seiner Muttersprache, dem Schweizerdeutschen, ausdrücken können: So lautet die meistgehörte Begründung für den Wegzug.
Aber auch die Enkelkinder sind ein Grund. Je älter die im Tessin lebenden Grosseltern werden, desto anstrengender erscheint die Reise zu den lieben Kleinen im Norden, um sie zu hüten. Also sucht man in deren Nähe eine Bleibe. Zudem gibt es noch ein Rückkehrmotiv: Bei Ehepaaren wollte oft nur der Mann in den Südkanton, und die Frau passte sich an. Stirbt der Gatte oder erfolgt eine Trennung, zieht die Gattin in den Norden zurück.
Diese Rückzugsbewegung hat einen gut eidgenössischen Vorteil. Nicht nur die Tessiner selber, die in den Norden ziehen, repräsentieren ihren Heimatkanton. Die zurückkehrenden Deutschschweizer Senioren werden ebenso zu Botschaftern der dritten Schweiz. Und daraus können wir spontan ein letztes Gebot von staatspolitischer Tragweite ableiten: Sprechen Sie von den guten Tessin-Erfahrungen.