«Wo der Fussweg zu steigen anfängt, beginnt bald das Weidenland mit dem kurzen Gras und den kräftigen Bergkräutern dem Kommenden entgegenzuduften», heisst es am Anfang des Romans «Heidi» von Johanna Spyri aus dem Jahr 1880. Er handelt – natürlich – von Heidi, dem Alp-Öhi, Geissenpeter und Clara.
Die heimlichen Protagonisten der Geschichte sind diese alten Wiesen in den Bergen, die den Menschen «entgegenduften», anstatt nach Gülle zu stinken. Diese Wiesen, in die Heidi jauchzend vor Freude sprang, weil da «alle die blauen und gelben Blümchen» ihre Kelche aufmachten, auf denen «ganze Trüppchen feiner, roter Himmelsschlüsselchen» beieinanderstanden, wo es «ganz blau von den schönen Enzianen» schimmerte und überall «die zartblätterigen, goldenen Cistusröschen in der Sonne» lachten und nickten.
Doch die Wahrheit ist: Wir wissen wenig über diese Wiesen vor der Zeit der grossen Agrarrevolution im 20. Jahrhundert. Welche Pflanzen wuchsen damals auf diesen Weiden? Welche sind noch übrig?
Beinahe wären die Aufzeichnungen im Altpapier gelandet
Deshalb war ein jetzt ausgewerteter Fund in den Archiven von Agroscope, der landwirtschaftlichen Forschungseinrichtung der Schweiz, so bemerkenswert: Listen von auf Hunderten Weiden gefundenen Pflanzen aus den Jahren 1884 bis 1931. Entdeckt wurden sie 2003 bei der Vorbereitung von Renovierungsarbeiten. «Glücklicherweise erkannte ein Kollege dort, dass man sie tunlichst nicht ins Altpapier werfen sollte wie in vielen anderen Fällen, sondern dass das ein Schatz für die Forschung ist», sagt Jürgen Dengler, Professor für Vegetationsökologie an der Zürcher Hochschule für Angewandte Wissenschaften (ZHAW) in Wädenswil.
Zwei Jahre lang versuchte nun ein Team von Biologen, alle Wiesen wiederzufinden, deren Pflanzen damals bestimmt und aufgelistet worden waren. Das Ziel war, sie mit ihrem heutigen Zustand zu vergleichen. An 277 Orten in der ganzen Schweiz platzierten sie einen 30 mal 30 Zentimeter grossen roten Rahmen ins Gras und zählten alle darin enthaltenen Pflanzenarten – so, wie es bereits vor hundert Jahren gemacht worden war.
Durch den erneuten Besuch hoffen die Forscher, einen Einblick in das Grasland vor der Agrarrevolution der 1950er bis 1980er Jahre zu erhalten, als die Landwirtschaft durch den massiven Einsatz von Düngemitteln und Landmaschinen auf Effizienz getrimmt wurde.
«Der Verlust an Biodiversität seither ist massiv», sagt Dengler, der das Projekt leitet. Die Auswertung der Daten ist jetzt im Fachmagazin «Global Change Biology» erschienen: Schweizweit ist die durchschnittliche Anzahl der Pflanzenarten auf landwirtschaftlichem Grasland um 26 Prozent zurückgegangen. Im Mittelland, wo die intensivste Landwirtschaft betrieben wird, beträgt der Rückgang fast 40 Prozent. Flächen in den Alpen auf 2000 Metern Höhe verloren nur 11 Prozent. Auch wenn Spyri bei den «Heidi»-Wiesen romantisch übertrieben hat: Sie waren artenreicher.
Das systematische Zählen begann erst, als viele Arten schon verschwunden waren
Die Veränderung biologischer Vielfalt ist notorisch schwer zu quantifizieren. In der Schweiz gibt es erst seit 2001 ein engmaschiges Biodiversitätsmonitoring mit 500 Flächen im ganzen Land, auf denen die Vielfalt bestimmter Tier- und Pflanzengruppen registriert wird. Sie zeigt mittlerweile einen leichten Trend nach oben. Vereinzelte Messungen gehen in die sechziger und siebziger Jahren zurück. Doch erfolgte in dieser Zeit auch die Agrarrevolution. Man begann also erst Arten zu zählen, als die grossen Verluste durch Effizienzsteigerungen bereits eingetreten waren.
Will man weiter zurück und etwas über die Natur des 19. Jahrhunderts erfahren, sind die Quellen beschränkt. Vereinzelt gibt es Pflanzensammlungen, sogenannte Herbarien, die etwa Apotheker angefertigt hatten. Sie geben zumindest Anhaltspunkte, welche Arten man in einem Kanton finden konnte.
Eine andere Möglichkeit sind Rekonstruktionen alter Landschaften mithilfe von Karten, auf denen Moore, Auen oder Wälder eingezeichnet sind. Anhand der Abstände zu Siedlungen und der Neigung von Hängen versuchen Biologen zu berechnen, wo zum Beispiel ungedüngte und artenreiche Trockenwiesen gewesen sein könnten. Doch solche Methoden sind immer spekulativ.
Die alten Listen sind ein einmaliger Datensatz
Die handschriftlichen Listen aus den Agroscope-Archiven wurden hingegen angelegt, um die Produktivität verschiedener Wiesentypen zu untersuchen und zu steigern.
«Es ist ein einmaliger Datensatz, weil er sehr weit zurück reicht und sehr einheitlich ein grosses Gebiet abdeckt», sagt Ariel Bergamini von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft, der selbst nicht am Projekt beteiligt war: «Die Analysen bestätigen teilweise, was man schon wusste, decken aber auch neue Aspekte auf. Zum Beispiel kann jetzt sehr viel detaillierter der Rückgang der Artenvielfalt über die Zeit und auf den verschiedenen Höhenstufen aufgezeigt werden.»
Erhoben wurden die alten Daten von den Botanikern Friedrich Stebler und Carl Schröter, zwei in ihrem Fach bedeutenden Forscher. Schröters Buch «Das Pflanzenleben der Alpen» mit seinen detaillierten, oft auch infografischen Beschreibungen der Alpenflora wurde international als Meisterwerk gepriesen.
Auf der Fürstenalp oberhalb von Trimmis im Rheintal schufen sie 1881 – also zu der Zeit, als auf gleicher Höhe nur ein paar Dörfer weiter Johanna Spyri ihre «Heidi»-Romane spielen liess – die «eidgenössische Samen-Controlstation» zur Erforschung und Verbesserung alpiner Futterpflanzen. Dass biologische Vielfalt und landwirtschaftlicher Ertrag in Konkurrenz stehen können, deuteten sie in ihren Berichten bereits damals an: Auf Wiesen mit «animalischer Düngung» fehlten zahlreiche Arten.
An mehreren hundert Orten, über die ganze Schweiz verteilt – wenn auch stets mit einer gewissen Nähe zu den damals neu gebauten Eisenbahnlinien –, nahmen Stebler und Schröter ihre Proben.
Was dabei überrascht: Fast alle diese Weiden sind auch heute noch Weiden. Nur rund zwanzig Flächen wurden aus der neuen Studie ausgeschlossen: «Wir haben unsere Analysen auf das beschränkt, was damals und heute landwirtschaftlich genutztes Grünland war, und Flächen weggelassen, die inzwischen zum Beispiel zu einem Golfplatz umgebaut wurden», sagt Stefan Widmer, ZHAW-Doktorand und Leiter der Feldforschung.
In der Schweiz werden auch hohe Lagen noch bewirtschaftet
Um den Effekt der Landwirtschaft auf die Artenvielfalt zu untersuchen, ist die Schweiz ideal, weil hier zwei Realitäten nebeneinander existieren. Einerseits ist das Land dicht bebaut und wird landwirtschaftlich intensiv genutzt. Die Flurbereinigung wurde hier besonders konsequent umgesetzt.
Andererseits ist die Landwirtschaft dank Subventionen trotzdem auch im Alpenraum in hohen Lagen allgegenwärtig, wo sie in anderen europäischen Ländern nicht überlebt hat. Der Einsatz von Maschinen und von Düngung ist in diesen höheren Lagen jedoch deutlich stärker eingeschränkt. So könnten ihre Auswirkungen auf die Artenvielfalt untersucht und von anderen Faktoren wie etwa dem Klimawandel abgegrenzt werden, argumentieren die Forscher von der ZHAW.
Die Artenvielfalt hängt von der Bewirtschaftung ab
«Unsere Zahlen zeigen, dass die Landwirtschaft nach wie vor der Haupttreiber für den Diversitätsverlust ist, derzeit noch weit mehr als etwa der Klimawandel», erklärt Widmer. Die Art und Weise, wie Landwirte ihre Felder mähen, beweiden und düngen, beeinflusst, welche Pflanzen überleben. Mehr Stickstoffdünger, häufigeres Mähen und die Verdrängung einheimischer Arten durch hochproduktive Pflanzen reduzieren die Pflanzenvielfalt.
Das zeigt auch eine tiefere Datenanalyse: Auf einer Liste aller entdeckten Arten finden sich nur 6 Gewinner und 117 Verlierer – darunter auch die Himmelsschlüsselchen und Enziane, die bei Heidi Freudensprünge auslösten.
Schutzgebiete und Biodiversitätsförderflächen zeigen Wirkung
Und doch ist die Sache komplizierter, als dass man sie nur als Geschichte eines Zerfalls erzählen könnte. Dort, wo die Biologen die alten Arten auf ihren 30 mal 30 Zentimeter grossen Plots nicht finden konnten, erweiterten sie ihren Suchradius um 500 Meter – und landeten oft in Schutzgebieten oder auf neu eingerichteten Biodiversitätsförderflächen, für die Landwirte zusätzliches Geld für spätes Mähen oder die Präsenz gewisser Arten erhalten. Und das scheint zu wirken: In diesen Gebieten fanden sie fast alle Arten wieder, wenn auch eben nur noch auf vereinzelten Inseln, nicht mehr im weiten Feld.
«Es war aber auch faszinierend zu sehen, wie stark die Unterschiede zwischen Wiesen selbst auf gleicher Höhe sein können», sagt Widmer über seine Erfahrungen im Feld: «Vieles hängt auch davon ab, wie Landwirte ihre Felder unterschiedlich bewirtschaften – von sehr intensiver Nutzung bis hin zu solchen, die sich für Ökologie interessieren, die die Arten kennen und versuchen, die Biodiversität zu erhalten.»