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Brienzer Felssturz

Bild: Reuters

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Haben wir den Kampf gegen den Klimawandel schon verloren? In der Schweizer Politik tobt ein Richtungsstreit

Hitze, Bergstürze, Trockenheit: Bürgerliche Politiker bezweifeln, dass sich diese Entwicklung noch stoppen lässt. Sie fordern weniger Klimaschutz, dafür mehr und bessere Anpassung an die Hitze – mit milliardenteuren Massnahmen.

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Haben wir den Kampf gegen den Klimawandel schon verloren? In der Schweizer Politik tobt ein Richtungsstreit

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Es lässt sich nicht mehr leugnen: Auch im Geburtsort von Umweltminister Albert Rösti ist der Klimawandel angekommen. Im Berner Oberländer Bergdorf Kandersteg taut der Permafrost. Das schmelzende Eis macht die Felswände instabil und nimmt ganzen Bergflanken den Halt. Besonders gefährlich ist die Lage beim Spitzen Stein: Hier sind rund 20 Millionen Kubikmeter Fels in Bewegung und drohen in einem rekordgrossen Felssturz ins Tal zu donnern.

Der ganze Hang ist heute Sperrzone, das Rutschgebiet wird aufwendig überwacht. Und für den Notfall braucht es gewaltige, millionenteure Schutzbauten.

Was sich in Kandersteg im Kleinen zeigt, gilt für das ganze Land. Die negativen Folgen der Klimaerwärmung sind auch hier immer deutlicher spürbar. Wir müssen uns auf weiter steigende Temperaturen einstellen – und uns den neuen Realitäten anpassen.

Milliardenkosten für die öffentliche Hand

Für die Schweiz heisst das konkret: Milliardeninvestitionen von den Bergen bis ins Mittelland. Viele Dörfer in den Alpen werden wie Kandersteg gegen Hochwasser und Murgänge aufrüsten müssen. Das Mittelland dagegen trocknet zunehmend aus. Hier muss sich die Landwirtschaft auf Hitzewellen und längere Trockenperioden einstellen. Im Parlament sind bereits mehrere Vorstösse deponiert, die Gelder für Bewässerungsprojekte fordern. Aber auch in den urbanen Zentren braucht es Massnahmen: Die Städte werden zu Glutöfen und müssen ihre Bevölkerung vor Hitzewellen schützen.

«Wir stellen in den letzten zehn bis zwölf Jahren weltweit eine Zunahme von Anpassungsstrategien fest», sagt Veruska Muccione. Sie forscht zum Thema an den Universitäten Genf und Zürich. Solche Massnahmen seien sehr wichtig, unterstreicht sie. Doch wir würden hinterherhinken: «Der Klimawandel schreitet schneller voran, als wir uns anpassen.»

Das Bundesamt für Umwelt lancierte das Thema diesen Frühling mit einer grossen Tagung. Die Eröffnungsrede hielt der gebürtige Kandersteger Albert Rösti. Der Umweltminister betonte, er wisse als Bergler, wie wichtig der Schutz der Bevölkerung vor Naturgefahren sei. «Wir tun gut daran, die Schutzmassnahmen mit Blick auf den Klimawandel zu verstärken», so der Bundesrat.

Rösti erzählte von seiner Kindheit in Kandersteg und nahm Bezug auf die dramatische Situation heute. Richtig emotional warb er für Schutzmassnahmen und Anpassung an den Wandel: «Es geht um unser Wohlergehen. Aber auch um das Wohlergehen unserer Kinder und Enkelkinder.» Bisweilen tönte der SVP-Bundesrat schon fast wie ein Grüner – aber eben nur fast. Während Rösti lange über Schutzmassnahmen und Anpassung an die höheren Temperaturen sprach, redete er kaum über die Reduktion von Treibhausgasen.

Der Mensch hat zwei Möglichkeiten, mit der Klimaveränderung umzugehen: Er kann versuchen, die Treibhausgasemissionen zu reduzieren und so die Klimaveränderung zu stoppen. Oder er kann sich dem wärmeren Klima anpassen und versuchen, die Schäden zu begrenzen. Diese Strategie hat politisch einen grossen Vorteil: Sie ist völlig unbestritten. Wie sich auch an der Konferenz in Bern zeigte: Für alle politischen Lager ist klar, dass der Staat die Menschen vor den negativen Auswirkungen der Klimaerwärmung schützen muss, dass die Gesellschaft lernen muss, mit der Hitze zu leben. Ist das also klimapolitisch der neue Königsweg?

Michael Graber hat für die SVP die Kampagne gegen das neue Klimaschutzgesetz geführt. Auch er leugnet den Klimawandel nicht. «Ich spüre und sehe das als Walliser. Der Klimawandel findet statt, die Gletscher schmelzen rapide ab», erzählt der Briger Rechtsanwalt.

Trotzdem ist er dem klassischen Klimaschutz gegenüber skeptisch. «Ich glaube nicht, dass wir den Klimawandel stoppen können.» Das sei eine «Überschätzung der Menschheit». Deshalb lehnt er neue Vorschriften und Gesetze zur Reduktion von Treibhausgasen ab. Gerade wenn andere Staaten gleichzeitig ihren Ausstoss erhöhen würden, seien die Schweizer Massnahmen wirkungslos. «Es scheint mir deshalb logischer, in Anpassungsmassnahmen zu investieren», so der SVP-Politiker.

Es drohen Verteilkämpfe

Weltweit gibt es politische Versuche, mehr Geld in die Anpassung zu stecken und vermehrt auf reine Schadensbegrenzung zu setzen. Die Grüne Aline Trede hält das für eine gefährliche Debatte. «Wir müssen uns anpassen und schützen, weil wir den Klimaschutz verschlafen haben und heute schon Schäden und Gefahren auftreten», sagt Fraktionschefin der Grünen. Das sei selbstverständlich.

Aber es sei eine Mär, dass die Schweiz nichts bewegen könne. «Jede Tonne eingespartes CO₂ hilft dem Klima.» Trede kritisiert, dass die SVP bewusst versuche, Anpassung und Klimaschutz gegeneinander auszuspielen: «Wir müssen unbedingt beides tun. Aber die Priorität muss klar bei der Vermeidung von Klimagasen liegen.» Alles andere sei reine Symptombekämpfung. Trede befürchtet, dass schon bald ein «grosser Verteilkampf» um Klimagelder einsetzt. Gerade weil sich Anpassungsprojekte den Bürgerinnen und Bürgern leichter verkaufen lassen.

Das zeigte sich auch diesen Sommer. Das neue Klimaschutzgesetz, das die Bevölkerung diesen Juni angenommen hat, war heiss umstritten. Kein Thema war aber, dass das Gesetz erstmals eine Rechtsgrundlage für Anpassungsmassnahmen von Bund und Kantonen schafft. Artikel 8 «Anpassung an und Schutz vor dem Klimawandel» ging im Abstimmungskampf völlig unter. Dass es Adaptionsprojekte politisch leicht haben, hat oft auch sehr banale Gründe: Der Nutzen einer neuen Schutzmauer ist sehr einfach erkennbar – der Steuerzahler bekommt etwas für sein Geld. Für solche Projekte lobbyieren Politikerinnen und Politiker gern und holen noch so gern Bundesgelder in die eigene Region.

Die Reduktion von Treibhausgasen ist ungleich mühsamer und politisch viel schwerer zu vermitteln. Es drohen Verbote und Vorschriften. Der Absturz des CO₂-Gesetzes 2021 zeigte eindrücklich, wie schwer es solche Vorlagen vor der Bevölkerung haben. Der Berner FDP-Nationalrat Christian Wasserfallen gehörte ebenfalls zu den Kritikern des Gesetzes. Er sagt, die Schweiz verursache nur einen verschwindend kleinen Teil des weltweiten CO₂-Ausstosses. Deshalb müssten Massnahmen zur Emissionsminderung nicht nur ökologisch, sondern immer auch wirtschaftlich und sozialverträglich sein. «Man muss das aussprechen und zu den Bürgerinnen und Bürgern ehrlich sein», sagt Wasserfallen. «Sogar wenn wir unsere Emissionen auf null drosseln, wird die Erwärmung weitergehen.»

Die Forscherin Veruska Muccione verfolgt die Debatte mit dem Blick der Wissenschafterin. Für sie ist klar, dass wir unbedingt beides tun müssen. «Wir müssen die Treibhausgasemissionen sehr viel schneller und stärker reduzieren und uns besser an die steigenden Temperaturen anpassen.» Sie warnt davor, einseitig auf Adaption zu setzen. «Die Wirksamkeit vieler Anpassungsmassnahmen sinkt mit zunehmender Erwärmung.»

Als Beispiel nennt sie die Städte, die nun gegen die Hitzewellen die Grünflächen vergrössern und mehr Bäume pflanzen. «Das sind sehr sinnvolle und nützliche Massnahmen», sagt Muccione. Doch man dürfe sich keine Illusionen machen: Je heisser das Klima werde, desto weniger würden solche Massnahmen bringen. Und irgendwann würden sie an Grenzen stossen: Wenn es zu heiss wird, kommen die Pflanzen an ihre natürlichen Limiten. «Je länger wir warten, desto teurer und schwieriger wird es, die negativen Folgen zu begrenzen.»

Albert Rösti kann als Umweltminister beeinflussen, welchen Kurs die Schweiz in den nächsten Jahren einschlagen wird. Dass nur Anpassungen kaum ausreichen werden, müsste er auch bei seiner eigenen Familie erkennen. Sein Bruder Hans ist Landwirt in Kandersteg und hat sich diesen Sommer von der «SRF Rundschau» auf die Alp Üschenen begleiten lassen. Auch dort war die zunehmende Trockenheit zu spüren. Die Älpler haben deshalb für zwei Millionen Franken eine neue Wasserversorgung mit einem riesigen Reservoir gebaut.

«Das hat uns letztes Jahr vermutlich gerettet», erzählte Hans Rösti. Doch je länger er in die Kamera sprach, desto warnender wurde sein Ton. Wenn die Gletscher dereinst tatsächlich ganz verschwinden würden, dann werde es richtig schwierig, erzählte der Älpler. Dann werde das Wasser nicht nur in den Bergen fehlen, sondern auch weiter unten im Tal. Seinem Bruder, dem Umweltminister und Bundesrat Rösti, müssten diese Sätze zu denken geben. Eine Alp mit Wasser zu versorgen, ist das eine – das ganze Mittelland vor der Dürre zu bewahren, eine unfassbar schwierigere Aufgabe.

Georg Humbel, «NZZ» (16.07.2023)

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