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Wiedervernässungsgebiet im Emsland, Niedersachsen. Bild: Erhard Nerger/Imago

Klima & Energie

Das neue EU-Gesetz zur Renaturierung soll der Umwelt nützen – und dem Klima

Um das Gesetz wurde lange gerungen. Auch weil geschädigte Biotope das Treibhausgas CO2 freisetzen, ist ihre Wiederherstellung so erwünscht.

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Das neue EU-Gesetz zur Renaturierung soll der Umwelt nützen – und dem Klima

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Mitte Juni hat die Renaturierung von Wäldern, Wiesen, Mooren und anderen Biotopen in Europa einen grossen Schub erhalten: Ökosysteme sollen nicht mehr nur geschützt, sondern aktiv wiederhergestellt werden. Die Umweltministerinnen und Umweltminister der EU haben es nach einem monatelangen politischen Thriller doch noch geschafft, ein weltweit bisher einmaliges Gesetz dazu zu verabschieden. Dieses Gesetz nützt nicht nur der Biodiversität, sondern auch dem Klima.

Möglich machte das Renaturierungsgesetz der EU die zuständige österreichische Ministerin Leonore Gewessler. Durch ihre Stimme kam die nötige Mehrheit zustande. Sie riskierte dafür sogar ein Auseinanderbrechen der konservativ-grünen Wiener Regierungskoalition.

Renaturierung wird damit zum neuen Paradigma in der Umweltpolitik. Man hat erkannt, dass Schutzgebiete allein nicht ausreichen, um die Artenvielfalt und wichtige ökologische Prozesse wie etwa die Entstehung von Trinkwasser zu erhalten.

Laut einer Analyse der Europäischen Umweltagentur sind 80 Prozent der Lebensräume in Europa erheblich geschädigt, die wenigsten befinden sich in einem guten ökologischen Zustand. Um daran etwas zu ändern, müssen Schäden aus früheren Jahrzehnten auf grösseren Flächen wieder ausgebügelt werden – durch aktive Eingriffe in die Landschaft. Dies geschieht teilweise sogar mit Baggern, etwa um Entwässerungsgräben wieder zuzuschütten, in Bächen und Flüssen Wehre zu beseitigen oder Quellen von Einfassungen aus Beton zu befreien.

Der Klimaschutz spielt bei den Plänen für die Renaturierung eine zentrale Rolle. Denn geschädigte Ökosysteme setzen in grossem Stil Kohlendioxid frei. Neu geschaffene Biotope können umgekehrt grosse Mengen Kohlenstoff binden. Drei Beispiele zeigen, wie das im Detail aussehen kann.

Drei Projekte, ein Ziel: die Wiederbelebung der Natur

Zwischen zwei grossen Äckern nördlich der Ortschaft Grambow wächst in Mecklenburg-Vorpommern seit vergangenem Herbst eine neue Hecke. Bei der Anpflanzung legte der Umwelt- und Agrarminister des Bundeslands selbst Hand an, steckte junge Stieleichen, Weissdorn- und Haselnusssträucher in den Boden.

Insgesamt 500 Meter lang soll die neue Hecke werden. Bezahlt wird sie von Spendern, die ein sogenanntes «ökologisches Wertpapier» namens «Heckenscheck» erworben haben. 6500 Kilometer teilweise uralter Hecken sind allein in Mecklenburg-Vorpommern zu DDR-Zeiten zerstört worden, um grössere Agrarflächen zu schaffen. Nun soll das Leben zurückkommen.

Im italienischen Po-Delta sind es die Frauen einer Genossenschaft von Muschelzüchterinnen, die es in die Hand nehmen, verlorengegangene Natur zu ersetzen. Sie pflanzen in der Lagune von Caleri neue Seegraswiesen an. Die Triebe dafür bekommen sie aus einem bereits erfolgreichen Projekt in der Nähe von Venedig. Seegraswiesen bedeckten einst weite Teile der Lagunen an der Adria. Verschwunden sind sie vor allem durch chemische Verschmutzung des Wassers aus dem Po.

Inzwischen sind die Bedingungen besser, das Seegras hat wieder eine Chance. Doch um anzuwachsen, braucht es menschliche Nachhilfe. «Es tut wirklich gut, diesen Heilungsprozess anzustossen», sagt eine der Muschelzüchterinnen über das von der Universität von Ferrara koordinierte Vorhaben namens «Life Transfer».

Westlich von Ingolstadt in Bayern haben Naturschutzmanager in einem der früher grössten Moorgebiete Mitteleuropas ein Stück Land wieder unter Wasser setzen lassen. Landwirte bauen in der weitgehend trockengelegten Region auf dem fast schwarzen Moorboden vor allem Kartoffeln, Mais und etwas Getreide an. Das «Team Donaumoos» probiert etwas Neues aus. Sauergräser und Schilf sollen auf dem wiedervernässten Moor wachsen und für neue Produkte zum Einsatz kommen – Verpackungsmaterial, Beimischungen für Beton oder sogar Bodenmatten für Autos.

Biotope bieten natürlichen Klimaschutz

Moore sind geradezu das klassische Beispiel für den Klimanutzen von Biotopen: Trocknet ihr Boden aus, zerfällt der Torf und landet als Treibhausgas in der Luft. Weltweit gehen vier bis fünf Prozent der Emissionen darauf zurück. Das entspricht dem Beitrag der Luftfahrt zu den weltweiten Emissionen. Das Potenzial für den sogenannten «natürlichen Klimaschutz» ist aber noch viel grösser.

Bild: NZZ

Das Hochmoor Les-Ponts-de-Martel im Kanton Neuenburg wird renaturiert. Bild: NZZ

Neu angepflanzte Hecken speichern erhebliche Mengen Kohlenstoff, das haben Wissenschafterinnen und Wissenschafter des Thünen-Instituts herausgefunden, einer deutschen Agrarforschungsbehörde mit Sitz in Braunschweig. Die Projektkoordinatorin Sophie Drexler vom Thünen-Fachinstitut für Agrarklimaschutz hat mit ihrem Team im Projekt «CarboHedge» zwischen 2019 und 2023 an 23 Standorten in ganz Deutschland gemessen, wie viel Kohlenstoff normaler Ackerboden und normales Grünland speichern und was Hecken zusätzlich leisten können.

«Wird eine Hecke auf Ackerland neu gepflanzt, werden im Durchschnitt rund 380 bis 400 Tonnen Kohlendioxid pro Hektare gebunden», sagt Drexler. Würde man die 90 000 Kilometer Hecken, die seit den 1950er Jahren in Deutschland zerstört wurden, wieder anpflanzen, könnte man über zwanzig Jahre hinweg die heutigen jährlichen Emissionen von 150 000 bis 200 000 Menschen in Deutschland oder von zwei Zementwerken ausgleichen. «Hecken können nicht unser Klima retten», sagt Drexler, «aber sie können einen wichtigen Beitrag leisten.»

Auch Seegraswiesen wie im Po-Delta sind hervorragende Kohlenstoffspeicher. Gemäss einer Analyse von 2012 enthalten sie weltweit zwischen 4 und 20 Milliarden Tonnen Kohlenstoff, was – hypothetisch komplett freigesetzt – 14 bis 72 Milliarden Tonnen CO2 entspräche. Zum Vergleich: Die Menschheit verursachte 2023 durch fossile Brennstoffe rund 38 Milliarden Tonnen CO2-Emissionen.

Renaturierung kann auch dabei helfen, die Folgen der bereits unvermeidlichen Erwärmung abzumildern: So fangen Hecken in der Landschaft wie Kämme Feuchtigkeit auf und speichern sie im Boden ein. Das hilft in Hitze- und Dürrezeiten dann auch den angrenzenden Äckern. Feuchte Moorböden saugen Wasser auf wie ein Schwamm – wird es heiss, sorgen sie als natürliche Klimaanlagen für eine Abkühlung, die auch nahen Städten nutzen kann.

Was das EU-Gesetz ändert

Das neue EU-Gesetz sieht nun vor, die Renaturierung nicht mehr nur hier und da in Einzelprojekten, sondern in der Fläche zu realisieren. Auf einem Fünftel der geschädigten Ökosysteme soll schon bis 2030 die planvolle Regeneration beginnen, bis 2050 auf ihrer gesamten Fläche. Ebenfalls bis 2030 sollen EU-weit drei Milliarden Bäume gepflanzt werden – nicht als Plantagen, sondern mit dem Ziel neuer, naturnaher Wälder. Auf 25 000 Kilometern Länge sollen Flüsse wieder frei fliessen. Zudem soll es umfassende Massnahmen dafür geben, Bestäuberinsekten zu schützen und in Städten für mehr kühlendes Grün zu sorgen.

Der Widerstand gegen das Renaturierungsgesetz war gross. Verbände von Landwirten malten eine neue Ökobürokratie und Eingriffe in ihre Wirtschaftsweise an die Wand. Die konservative Europäische Volkspartei streute zeitweise sogar die falsche Behauptung, bei der Wiedervernässung sollten ganze Dörfer geflutet werden. Der rechtspopulistische ungarische Ministerpräsident Viktor Orban nutzte die europäischen Bauernproteste Anfang des Jahres, um die Verabschiedung des Gesetzes zeitweise zu stoppen.

Als Reaktion darauf entschärften die EU-Institutionen das Gesetz an wichtigen Stellen. Massnahmen sollen nun bis 2030 hauptsächlich doch in bestehenden Schutzgebieten stattfinden. Kein Landwirt kann dazu gezwungen werden, sein Land zur Wiedervernässung freizugeben. Zudem darf die EU-Kommission das ganze Gesetz für jeweils ein Jahr auf Eis legen, sollte die Nahrungsmittelversorgung des Kontinents durch unvorhergesehene Umstände in Gefahr geraten.

Der Umweltjurist Wolfgang Köck vom Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung in Leipzig betont, dass die Renaturierung nicht eine Rückkehr zur Wildnis bedeute, sondern mit nachhaltiger Land- und Forstwirtschaft einhergehen könne. Das Gesetz bietet deshalb eine Chance, die eingespielte Frontstellung zwischen Naturschutz und Landwirtschaft aufzubrechen.

Zum einen erleben Landwirte unmittelbar, wie gefährlich der Klimawandel für ihre Böden und ihre Ernten wird. Das lässt Hecken und Feuchtgebiete in einem neuen Licht dastehen. Zum anderen soll die Renaturierung explizit neue Einkommensquellen für Landwirte schaffen – etwa Zahlungen für die Kohlenstoffspeicherung in Moorböden oder durch neuartige Produkte.

Wissenschafter haben das Renaturierungsgesetz geradezu euphorisch begrüsst. «Trotz einigen Abschwächungen im Laufe der zweijährigen Verhandlungen hat dieses Gesetz das Zeug zum echten Game-Changer», sagte Katrin Böhning-Gaese, die Leiterin des Forschungszentrums für Klima und Biodiversität am Senckenberg-Naturkundemuseum in Frankfurt am Main. Die Biologin sieht Klima- und Naturschutz als eng verbunden an: «Der Klimawandel entscheidet darüber, wie wir leben, der Artenschwund entscheidet darüber, ob wir leben.»

Christian Schwäger, «Neue Zürcher Zeitung» (18.07.2024)

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Dieser Artikel behandelt folgende SDGs

Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.

6 - Sauberes Wasser und Sanitäreinrichtungen
13 - Massnahmen zum Klimaschutz
15 - Leben an Land

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