Seit mehr als 60 Millionen Jahren lauert im Gras ein Erfolgsrezept der Evolution: Giftzähne, scharf wie Dolche, verbunden mit einem Biss, der schneller zuschnappt als ein Wimpernschlag. Schlangen haben ihr tödliches Werkzeug über einen so langen Zeitraum kaum verändert, weil es schlicht perfekt funktioniert. Ein Fehler, ein falscher Schritt der Beute, und Rückzug ist keine Option mehr.
Jetzt zeigt eine neue Studie, wie raffiniert diese Waffen tatsächlich eingesetzt werden. Forscher haben in einer dreidimensionalen Analyse erstmals verglichen, wie Vertreter der drei grossen Familien giftiger Schlangen zustossen. Die Ergebnisse – veröffentlicht im Fachblatt «Journal of Experimental Biology» – zeichnen ein ausgesprochen vielseitiges Bild des Giftbisses.
Der Mitautor Alistair Evans von der School of Biological Sciences der Monash University in Melbourne bringt es in einem Artikel im Online-Magazin «The Conversation» auf den Punkt: Diese uralten Reptilien seien «mit chemischen Waffen ausgestattet» – und ihr evolutionärer Triumph beruhe vor allem darauf, die Beute zu überraschen, lange bevor diese überhaupt realisiere, in Gefahr zu sein.
1000 Bilder pro Sekunde
Frühere Analysen des Beissverhaltens von Schlangen hatten stets mit technischen Hürden zu kämpfen. Aufnahmen mit nur einer Kamera und schwacher Auflösung liessen nur grobe Bewegungsmuster erkennen. Gemäss Evans waren die bisherigen visuellen Aufzeichnungen oft eingeschränkt, weil man nur eine seitliche Ansicht erhielt, während sich Schlangen in alle Richtungen bewegen können.
Für die neue Untersuchung wurden 36 Arten aus allen drei Hauptstammlinien giftiger Schlangen – Vipern, Elapiden und Nattern – untersucht, unter ihnen Westliche Diamant-Klapperschlangen, Stumpfnasen-Vipern, Todesottern und Mangrovennattern. Alle Tiere lebten in einer Pariser Forschungseinrichtung mit dem passenden Namen «Venomworld». Dort setzten die Wissenschafter jede Schlange einzeln in eine Plexiglasarena mit Kartonboden. Als Beuteersatz diente ein erhitzter Gelkörper, der Nagetiere imitieren sollte.
Zwei Hochgeschwindigkeitskameras fingen den Angriff gleichzeitig aus verschiedenen Perspektiven ein. Mit 1000 Bildern pro Sekunde wurde der Bewegungsablauf in feinster Auflösung festgehalten. Aus diesen Sequenzen entstand für jede untersuchte Schlangenart eine dreidimensionale Rekonstruktion der Attacke. Insgesamt analysierten die Fachleute 108 erfolgreiche Angriffe und bestimmten, wie schnell sich die Schlange nach vorn katapultierte, wie abrupt sie ihren Kopf beschleunigte, in welchem Winkel sich ihre Giftzähne öffneten und wie schnell sich der Kiefer schloss.
Die Ergebnisse zeigen ein erstaunlich diverses Bild der Evolution des Zubeissens. Vipern erwiesen sich als die schnellsten Angreifer. Sie schiessen mit Geschwindigkeiten von mehr als 4,5 Metern pro Sekunde vor und rammen ihre langen, schwenkbaren Giftzähne in den Körper der Beute. Dabei justieren sie die Position ihrer Zähne nach, bis diese optimal sitzen – erst dann schliessen sie die Kiefer und injizieren ihr Gift. Laut Evans erreichen 84 Prozent der beobachteten Vipern ihre Beute in weniger als 90 Millisekunden – dies sei schneller als die Reaktionszeit vieler kleiner Säugetiere.
Elapiden wie Kobras oder Taipans agieren dagegen strategisch variabler. Sie schleichen sich heran, beissen dann mehrfach zu und setzen durch Anspannung ihrer Kiefermuskulatur Gift frei. Frühere Forschung habe zudem gezeigt, dass es klare Unterschiede zwischen Angriffen zum Beutefang und solchen zur Verteidigung gebe, sagt Evans. Diese Vielfalt an Angriffstechniken sei gerade in dieser Familie gross ausgeprägt.
Die dritte untersuchte Gruppe, die Nattern, geht beim Angriff mit einer Art chirurgischem Schnitt vor. Da ihre Giftzähne weiter hinten sitzen, schnappen sie aus grösserer Entfernung zu und schieben den Beutekörper seitlich zwischen die Kiefer, wodurch das Gift maximal eindringt.
Kontinent der Giftmischer
Die Studie verdeutlicht, wie eng Giftzahnform, Kiefermechanik und bevorzugte Beute miteinander verknüpft sind. Evans betont, dass man nun zeigen könne, wie Schlangen ihre tödlichen Waffen «im Handumdrehen einsetzen – und warum sie so lange auf der Erde überleben konnten».
Die Forschung hat besondere Relevanz in Australien, dem Kontinent der Giftschlangen. Zehn der giftigsten Arten weltweit leben hier. Zugleich existieren über 380 Schlangenarten in dem Land, der Grossteil völlig harmlos. Zum Vergleich: Weltweit gibt es rund 4000 Schlangenarten, von denen 600 giftig sind.
In Australien werden 1500 bis 3000 Menschen jährlich gebissen, doch viele Zwischenfälle enden als sogenannte «dry bites» – trockene Bisse ohne Injektion von Gift. 200 bis 500 Personen erhalten ein Gegengift, pro Jahr werden ein oder zwei Todesfälle verzeichnet. Besonders erwähnenswert: Die häufigste Ursache fataler Bisse ist nicht der Inland-Taipan, obwohl er am giftigsten ist, sondern die anpassungsfähige Braunschlange. Diese kommt selbst in Gärten oder stadtnahen Parks vor.
Wie gefährlich die Arbeit mit Giftschlangen sein kann, zeigt die Erfahrung des renommierten australischen Giftforschers Bryan Grieg Fry. Bei seinen Forschungen zu Seeschlangen wurde er von einer sogenannten «horned sea snake» am Finger erwischt, als sich das Tier mit einem fast akrobatischen Trick aus einem Eimer hochkatapultierte.
Das im Krankenhaus vorrätige Gegengift rettete Fry zwar das Leben, doch das Gift hatte seine Muskeln angegriffen, weshalb er monatelang unter extremen Schmerzen litt. Selbst einfache Dinge wie das Treppensteigen fielen dem Wissenschafter schwer. «Es war der schlimmste Biss, den ich je hatte, und es dauerte neun Monate, bis sich die Muskelschädigungen wieder regeneriert hatten», erzählt Fry.
Aufgrund solcher Erfahrungen sorgt der Schlangenforscher bei seinen Expeditionen in entlegene Gegenden akribisch dafür, dass lokale Krankenstationen stets das notwendige Gegengift vorrätig haben.