Echter Käse, aber ohne Tier: Ist die Zeit der Milchkühe vorbei?
Ein Schweizer stellt in Berlin richtigen Käse her – im Labor. Es ist eine 100-Millionen-Euro-Wette auf die Frage, wie wir uns in Zukunft ernähren.
Ohne Milch hergestellter Käse an einer Präsentation. Bild: PD
Ein Schweizer stellt in Berlin richtigen Käse her – im Labor. Es ist eine 100-Millionen-Euro-Wette auf die Frage, wie wir uns in Zukunft ernähren.
8 Min. • • Janique Weder, Berlin, «Neue Zürcher Zeitung»
Milchkühe sind ein Problem. Sie verbrauchen Unmengen von Land und stossen Methan aus, ein Gas, das schädlicher für das Klima ist als CO2. Für die Umwelt wäre es darum am besten, man könnte auf die Kühe als Nutztiere verzichten. Sie einfach abschaffen.
Daran arbeitet Raffael Wohlgensinger, 30 Jahre alt, aus Zürich. Er produziert echten Käse, aber ohne Tier. Und das nicht auf einer Alp in der Schweiz, sondern in seinem Startup in Berlin. Bei Formo werden Milchproteine im Labor gezüchtet und zu Käse verarbeitet. Das Resultat ist ein Produkt, das vegan ist und trotzdem gleich schmecken soll wie das tierische Original.
Raffael Wohlgensinger. Bild: PD
Fünf Jahre lang tüftelte das Unternehmen an verschiedenen Käsesorten herum. Seit dieser Woche gibt es die ersten Produkte von Formo in Deutschland zu kaufen. Es ist das erste Mal, dass ein im Labor gezüchteter Käse auf den europäischen Markt kommt.
Formo hat kühne Ziele. «Wir wollen der grösste Käseproduzent der Welt werden», sagt der Gründer Raffael Wohlgensinger.
Die Ansage ist ein Angriff auf die traditionelle Käseindustrie: Ihr globaler Markt wird auf knapp 160 Milliarden Franken geschätzt. Demgegenüber stehen weltweit knapp neunzig Startups, die Käse oder Milch aus dem Labor herstellen.
Hersteller spielen Gott
Die Startups sind Teil eines vielverheissenden Trends in der Nahrungsmittelbranche. Nicht nur Laborkäse, auch In-vitro-Fleisch und Eier aus Zellkultur sollen helfen, die Schäden an der Umwelt zu reduzieren. Denn die ökologische Bilanz der herkömmlichen Landwirtschaft ist schlecht: In der Schweiz ist sie laut dem Bundesamt für Umwelt für 15 Prozent der nationalen Treibhausgasemissionen verantwortlich, weltweit wird ihr Anteil auf mehr als 25 Prozent geschätzt. Startups wie Formo werben damit, einen Bruchteil dieser Emissionen auszustossen.
Die Hersteller spielen dafür gewissermassen Gott: Sie experimentieren mit genetischen Bausteinen und Enzymen, um die Natur im Labor nachzubauen. Den Konsumentinnen und Konsumenten versprechen sie dafür eine günstigere, gesündere und klimafreundlichere Zukunft.
Investoren hat die Story längst überzeugt. Im Jahr 2021 flossen laut dem Good Food Institute 5 Milliarden Dollar in den Bereich der sogenannten alternativen Proteine. Dazu gehören pflanzenbasierte Lebensmittel (1,9 Milliarden), fermentierte Produkte (1,7 Milliarden) und kultiviertes Fleisch (1,4 Milliarden).
Auch Raffael Wohlgensingers Startup Formo ist auf Geldgeber angewiesen. Anfang September konnte es sich in einer zweiten Finanzierungsrunde 55 Millionen Euro sichern. Zu den Investoren gehören die deutsche Handelsgruppe Rewe und Risikokapitalgeber aus der ganzen Welt.
Doch nicht alle teilen die Zukunftseuphorie der Biotechnologen und ihrer Investoren. Bauern sehen in den Startups eine Gefahr für ihr Geschäft. Ökologen misstrauen den Nachhaltigkeitsversprechen der Unternehmer. Und die Behörden bremsen mit regulatorischen Hürden.
Und dann sind da noch die Konsumentinnen und Konsumenten: Werden sie wirklich massenhaft Käse, Eier, Fisch und Fleisch essen, das im Labor gezüchtet wurde? Oder ist das Ganze doch eher Science-Fiction, eine Spielerei für die Veganerecke im Supermarkt?
Was, wenn es funktioniert?
Formo hat sich am ehemaligen Osthafen in Berlin einquartiert, in einem alten Klinkersteinbau mit Blick auf die Spree. Das Büro sieht aus, wie man es von einem Startup erwartet: Ein paar Leute spielen Pingpong, neben einem Schreibtisch steht ein aufblasbares Planschbecken. Eine junge Frau im Laborkittel und mit Haarnetz jauchzt ihrem Kollegen zu. «It’s launch week, you know», sagt sie. Die Woche der Markteinführung. Darauf hätten sie bei Formo lange gewartet.
Der Gründer Raffael Wohlgensinger wuchs im Zürcher Weinland auf und studierte an der Universität St. Gallen internationales Management. Nach Berlin sei er gegangen, weil man hier gross denke, sagt er. «In der Schweiz fragen sie dich: Was ist, wenn es nicht funktioniert? In Berlin fragen sie: Was, wenn doch?»
Wohlgensinger gründete Formo, weil er als Veganer nicht auf Käse verzichten wollte, die pflanzlichen Alternativen ihm aber auch nicht schmeckten. Das war 2019. Ein Jahr später stiess Roman Plewka, 32 Jahre alt, dazu. Seither leiten sie das Unternehmen gemeinsam.
Roman Plewka. Bild: PD
Die ersten Jahre forschte Formo an Grundlagen, ohne viel öffentliche Aufmerksamkeit zu erhalten. Dann kam die erste Finanzierungsrunde vor drei Jahren, und Formo sammelte 42 Millionen Euro. Nie zuvor hatte ein europäisches Food-Startup so viel Geld erhalten. Das Interesse stieg schlagartig.
Es war auch die Zeit, in der pflanzliche Fleisch- und Milchalternativen einen Boom erlebten. In den USA hatte Beyond Meat, ein Hersteller von veganen Fleischersatzprodukten, einen beeindruckenden Aufstieg hinter sich und verkaufte seine Produkte bei Walmart und McDonald’s. In Schweden wiederum brachte das Unternehmen Oatly einen Haferdrink auf den Markt, der seither in vegane Cappuccinos gekippt wird, und in der Schweiz entwickelte Planted Foods eine Fleischalternative auf Basis von Erbsenprotein.
Im Laborkäse von Formo sahen die Investoren nun «the next big thing».
Alles steht, die Bewilligung fehlt
Um den Käse herzustellen, nimmt Formo die DNA der Kuh und baut Teile des genetischen Bauplans in das Genom von Bakterien, Pilzen und Hefen. Das Verfahren nennt sich Präzisionsfermentation. Die neu programmierten Mikroorganismen werden dann in stählernen Fermentern mit Sauerstoff, Zucker und anderen Nährstoffen gefüttert. Daraufhin erzeugen sie das Milchprotein Kasein, das in weiteren Schritten zu Käse verarbeitet wird.
Das Resultat ist ein Erzeugnis, für dessen Herstellung es keine Kühe braucht, das aber auch kein Imitat aus pflanzlichen Ersatzmitteln wie Sojabohnen oder Cashewnüssen ist. Der Käse, sagen die Gründer, weise dieselben Eigenschaften und Nährstoffe auf wie das tierische Original.
Doch die Sache hat einen Haken: Der Käse aus dem Labor ist nicht für den Verkauf zugelassen. Weil für seine Herstellung genetisch veränderte Organismen zum Einsatz kommen, ist er laut der Europäischen Union ein sogenannter «Novel Food», ein neuartiges Lebensmittel. Und für dieses braucht es eine Bewilligung.
Die Behörde, die diese Bewilligung erteilt, sitzt ausgerechnet im italienischen Parma, im Herzen des Rohschinkenlandes. Wann sie den Laborkäse zulassen wird – und ob überhaupt –, weiss niemand. Roman Plewka, der Co-Geschäftsführer von Formo, sagt: «Der Prozess ist aufwendig und kann Jahre dauern. Wir rechnen nicht vor 2026 mit einem Bescheid.»
Aus diesem Grund produziert Formo parallel einen Käse mithilfe von Mikrofermentation, einem Verfahren, mit dem auch Sauerteigbrot gebacken und Bier gebraut wird. Formo benutzt Koji-Pilze und stellt daraus Frischkäse oder Camembert her, die den Originalen im Geschmack verblüffend ähnlich sind. Und weil dabei keine Gene manipuliert werden, dürfen die Produkte verkauft werden. Nächstes Jahr sollen sie in die Schweiz kommen.
Der Gründer Raffael Wohlgensinger hofft, bald auch Käse aus der Präzisionsfermentation verkaufen zu dürfen. Er sagt: «Aus ethischer Sicht sehen wir kein Problem damit.» Schon heute gebe es Produkte, die durch genetische Veränderung hergestellt würden, Insulin zum Beispiel.
Doch Lebensmittel zu essen, die durch gentechnisch veränderte Organismen hergestellt werden, ist etwas anderes. Bis jetzt ist es nur in wenigen Ländern erlaubt. In Singapur zum Beispiel: Supermärkte verkaufen dort Chicken-Nuggets aus gezüchtetem Pouletfleisch. In Kanada hat das israelische Startup Remilk vor wenigen Monaten eine Zulassung für sein tierfreies Milcheiweiss erhalten. Und in den USA ging eine entsprechende Erlaubnis an das singapurische Unternehmen Turtle Tree. In der Schweiz orientiert man sich an der EU: Ohne Erlaubnis darf kein gentechnisch modifiziertes Produkt verkauft werden.
Der Detailhandel ist dennoch schon interessiert. Die Migros investiert seit einigen Jahren in die israelischen Startups Aleph Farms und Supermeat, die an der Entwicklung von In-vitro-Fleisch arbeiten. Sie erklärt: «Diese Produkte haben eine deutlich bessere Klimabilanz, zudem erfordern sie keine Massentierhaltung und keinen Antibiotika-Einsatz.»
Der Vegi-Boom ist vorbei
Doch wann wird aus all den Experimenten ein profitables Geschäft? Noch hat kein Projekt in Europa diese Hürde genommen. Und selbst wenn die Zulassungen einst vorliegen sollten, werden die Konsumenten über den wirtschaftlichen Erfolg entscheiden. Sind sie neugierig auf ein neues Konzept, steigt der Umsatz. Verlieren sie das Interesse, kann er genauso leicht wieder sinken. In kaum einer Branche kippt die Stimmung schneller als bei den Lebensmitteln.
Was dann passiert, zeigt sich derzeit bei den bis vor kurzem so gefeierten pflanzlichen Ersatzprodukten. Die Aktie des Hafermilchherstellers Oatly, die kurz nach Börsenstart im Mai 2021 auf über 28 Dollar kletterte, wird derzeit für 87 Cent gehandelt. Und auch von der Aufregung um Beyond Meat ist nicht mehr viel übrig. Mehrfach musste das Unternehmen sinkende Umsätze melden und Stellen abbauen. Seit dem Börsenstart hat die Aktie mehr als 90 Prozent ihres Wertes verloren.
Um die Verluste zu erklären, zeigen beide Unternehmen auf die Konsumenten. Diese würden wegen der hohen Inflation wieder häufiger zu günstigeren, also tierischen Produkten greifen. Lobbygruppen hätten es zudem geschafft, Ängste bezüglich der Inhaltsstoffe zu schüren.
Man kann es auch deutlicher sagen: Die Menschen trinken weiterhin lieber Kuh- als Hafermilch. Vielen Fleischessern schmecken Sojaschnitzel und Erbsenburger nicht, oder sie setzen sich aus Prinzip nicht damit auseinander.
Die anfängliche Euphorie der Vegi-Branche: Sie ist einer ernüchternden Realität gewichen.
Unbeliebter sind nur noch Insekten
Umso mehr fragt sich, wie offen die Konsumenten für Lebensmittel aus dem Labor sind. Das Gottlieb-Duttweiler-Institut hat es im vergangenen Jahr herausgefunden: Zwei Drittel der Schweizer halten es für unwahrscheinlich, dass sie In-vitro-Fleisch probieren werden. Unbeliebter als das Laborfleisch waren nur noch Insekten und Kaffee, der aus Pilzen gemacht wird.
Es wird also dauern, bis Lebensmittel aus dem Labor im grossen Stil in den Supermärkten verkauft – und gekauft – werden. Entscheidend wird auch der Preis sein. Und da steckt Formo in einem ungleichen Wettbewerb. Der Käse des Startups konkurriert mit den Produkten der stark subventionierten Milchproduzenten. «Wenn wir langfristig Erfolg haben wollen, müssen wir günstiger werden als das Tier», sagt Roman Plewka.
Und dann, vielleicht, in einer fernen Zukunft, könnte die Vision von Formo wahr werden. Wenn seine Produkte weder im Preis noch im Geschmack von echtem Käse unterschieden werden können, dann könnte das die Milchkühe tatsächlich verdrängen. Und das, was wir heute tierfreien Käse nennen, würde einfach Käse werden.
Doch solange nicht klar ist, ob die Produkte überhaupt je zugelassen werden, sind die Investitionen in die Präzisionsfermentation vor allem eine milliardenschwere Wette auf die Zukunft.
Und die gottgleiche Idee, die Natur im Labor nachbauen zu können, bleibt bis auf weiteres ein frommer Wunsch.
Janique Weder, Berlin, «Neue Zürcher Zeitung» (10.09.2024)
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