Pilzmärkte, Pilzabende und Pilzspiele
Mathieu und Messerli veranschaulichen den Aufstieg des Fungus anhand des Erfolgs des Kochbuchklassikers «Das fleissige Hausmütterchen» der Toggenburger Arbeitslehrerin Susanna Müller. In der ersten Auflage von 1860 kommt der Pilz nicht vor, 1879 tritt er erstmals auf, die siebzehnte Auflage von 1915 enthält die farbige Bildtafel «Die bekanntesten essbaren Pilze». Damit war der Fungus in vielen Schweizer Küchen angekommen.
Neben den Ernährungswissenschaften, deren Erkenntnisse nicht nur über Kochbücher, sondern auch über Tagespresse, Illustrierte und Volkskalender verbreitet wurden, schlugen die Pilzvereine die Werbetrommel für den Fungus. Ihre Mitglieder waren Pilzenthusiasten, die vorwiegend aus kleinbürgerlichen Milieus stammten. Sie führten die Forschung der Wissenschafter weiter und organisierten Pilzausstellungen, Pilzmärkte und Pilzabende, um sich an Pilzspielen zu erfreuen und Pilzmodelle zu basteln.
Die ersten Vereine entstanden ab 1910 in Bern, Grenchen, Biel, Bern und Burgdorf. Dort wurde dank dem Eifer des Bahnbeamten Herrmann Walter Zaugg 1919 der Verband Schweizerischer Vereine für Pilzkunde aus der Taufe gehoben. 1929 durfte der Berner Lehrer Ernst Habersaat, Präsident des Verbands Schweizer Pilzproduzenten und Autor des «Schweizer Pilzbuchs», in seinem Kreise zufrieden konstatieren: «Während noch vor wenigen Jahren in der Schweiz sich nur Pilzkenner und einzelne Pilzliebhaber an den Genuss der Speisepilze wagten, sind die Pilze heute, dank der Aufklärungsarbeit durch die Pilzvereine, bereits zu einem Volksnahrungsmittel geworden.»
Allerdings war es noch nicht so weit, der Wunsch war Vater von Habersaats Gedanken. Die Abneigung gegen die Pilze hielt sich hartnäckig. Noch um 1950 wurden etwa im Kanton Graubünden kaum Pilze gesammelt, man begegnete ihnen mit Misstrauen. Gleiches gilt für das norditalienische Aostatal: In den Augen der Einheimischen waren die Steinpilze sammelnden Piemontesen entweder verrückt oder am Verhungern.
Ideologisch aufgeladene Geschöpfe
Heute ist das «Pilzeln», das Sammeln von Pilzen im freien Gelände, ein Volkssport der Freizeitgesellschaft. Dieser Sport freilich hat für viele Sammler eine spirituelle Dimension. Mykophile Wissenschafter haben Pilze breitenwirksam in ideologisch aufgeladene Wesen verwandelt. Aber wieso ausgerechnet die Pilze? Wieso haben sie die Aufgabe übernommen, die Sehnsucht nach einer ökologisch intakten Welt zu stillen? Eine Sehnsucht, die angesichts der akuten Umweltzerstörung mehr als verständlich ist.
Die Pilze passen einfach. Sie sind fragile und doch robuste Zwischenwesen, die dem postbinären Zeitgeist entgegenkommen. Pilze zu züchten, ist aufwendiger als gemeines Gemüse in einem Gewächshaus. Und sie lassen sich so einfach manipulieren. Um 1970 haben sie in der biologischen Systematik eine Sonderstellung als drittes Reich zwischen Tieren und Pflanzen erhalten – wobei sie mittlerweile als enger verwandt mit den Tieren gelten. Diese Erkenntnis ficht die Veganer allerdings nicht an. So oder so: Das Reich der Pilze wächst unaufhörlich dank neuen Arten, ihre Erforschung scheint unerschöpflich.
Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing nennt Pilze «nichtentfremdete Nichtmenschen», die uns Heil bringen könnten. Aber wahrscheinlich wäre es besser und wirksamer, wenn wir Menschen uns selber helfen würden.