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Flaschen-Stäubling Pilz im Wald

Was auch immer sie im Fungus sehen wollen: Auf einen frühen ökologischen Holismus können Pilzversteher nicht zählen. Bild: Annick Ramp / NZZ

Produktion & Konsum

Die Liebe zu den Pilzen wurde von Physikern und Chemikern eingeführt

Pilze gelten als empathische Geschöpfe und Heilsbringer, mit denen die Menschen immer schon eng verbunden waren. Die Vorstellung ist schön, aber falsch: Unsere Vorfahren verachteten die Gewächse.

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Die Liebe zu den Pilzen wurde von Physikern und Chemikern eingeführt

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Sie treibt den Kult auf die Spitze. Anna Lowenhaupt Tsing behauptet in ihrem erfolgreichen Buch «Der Pilz am Ende der Welt», der Matsutake-Pilz könnte der Lehrmeister von uns Menschen sein. Von diesem geheimnisvollen Gewächs könnten wir Geduld lernen, mit ihm Glück finden und anderes mehr. Der Pilz habe antikapitalistisches Potenzial: die Rettung unserer Welt, die vor der Zerstörung stehe.

Die amerikanische Anthropologin ist nicht allein mit ihrem Enthusiasmus für die Fungi, wie die Pilze in der Fachsprache heissen. Für ihren Landsmann, den Biologen und Linguisten Terence McKenna, hat die Menschheit den Pilzen nicht weniger als den Sprung vom Homo erectus zum Homo sapiens zu verdanken. Ihre psychoaktiven Substanzen hätten den Urmenschen zu kognitiven Fähigkeiten verholfen. Ohne Pilze würden wir also noch immer in Höhlen leben. Wenigstens könnten wir die Welt nicht zerstören.

Der deutsche Förster und Bestsellerautor Peter Wohlleben wiederum kommt mit Berufung auf die Wissenschaften zu dem Schluss, dass die Pilze den Bäumen beim Kommunizieren hülfen, indem sie in deren Wurzeln drängten. Kranken Bäumen führten sie sogar Heilmittel zu. Unterirdisch verrichten die Pilze für die gesamte Natur lebenswichtige Arbeiten. Sie müssten für die Menschen ein Vorbild sein. Das «Wood Wide Web», von dem Biologen reden, ist nicht wie das menschliche Internet von Rassismus und Sexismus verseucht, es blüht dank Altruismus und Kooperation.

Auch prominente Sozialhistoriker haben den Pilzen ihre Reverenz erwiesen. Laut Rudolf Braun etwa zählten Pilze in der Vormoderne zur Nahrungsgrundlage von Bäuerinnen und Hirten. Es klingt einleuchtend: Die Landleute streiften durch Wälder und Wiesen und sättigten sich an den gesunden Gewächsen, die nur fand, wer vertraut war mit dem Gelände. Und das seit Jahrhunderten.

Das komplexeste Ökosystem der Welt

Und nicht nur das, liesse sich mit den pilzbegeisterten Wissenschaftern folgern: Dank den Fungi, diesen rätselhaften Lebewesen zwischen Mensch, Tier und Pflanze, hatten unsere Vorfahren noch eine intensive Verbindung zur Natur, sie waren noch nicht von ihr abgespalten in den Städten. Die Pilze, sie wissen viel mehr als die Menschen, nämlich alles, und sie haben Fähigkeiten, von denen sich selbst die Fachleute erst einen Bruchteil erklären können: Sie sind das komplexeste Ökosystem der Welt. Dies hat die deutsche Wissenschaftsjournalistin Barbara Höfler einmal geschrieben.

Was Wissenschafterinnen und Pilzversteher auch immer im Fungus sehen wollen und welche aussergewöhnlichen Fähigkeiten dieser auch immer mit seinesgleichen teilen mag: Auf die Vergangenheit, auf einen frühen ökologischen Holismus oder gar ein altes Volkswissen können Mykologen nicht zählen, jedenfalls nicht in Westeuropa.

In einem soeben in der Zeitschrift «Historische Anthropologie» (Nr. 32, 1) publizierten Aufsatz weisen die beiden Schweizer Historiker Jon Mathieu und Jakob Messerli nach, dass sowohl das Interesse für Pilze als auch deren Konsum erst um 1900 einsetzte – dank den Bemühungen von Wissenschaftern. Weder ist die Pilzliebe alt, noch kam sie von unten, sie ist von oben eingeführt worden.

Die längste Zeit hatten Pilze in Westeuropa einen denkbar schlechten Ruf, wenn sie denn überhaupt einen hatten. Natürlich war bekannt, dass manche Pilze giftig sind und ihr Verzehr tödlich endet. Ebenso bedeutsam war die Einschätzung der Mediziner, die noch im 18. Jahrhundert der Lehre des griechischen Arztes Galenos folgten. Pilze galten als kalt und feucht, also als das Gegenteil bekömmlicher Nahrung, die warm und trocken sein sollte. Der berühmte Berner Arzt und Botaniker Albrecht von Haller warnte 1768 vor Pilzen. Er würde sie keinesfalls essen, auch die besten Exemplare hätten schon Schaden angerichtet.

Es waren Chemiker, Physiologen und Physiker, die ab 1850 wissenschaftliche Ernährungsideale propagierten, allen voran der deutsche Universitätsprofessor Justus von Liebig. Das Eiweiss war gemäss ihren Forschungen der wertvollste Stoff, den der menschliche Körper benötige. Sie hatten zunächst die Proteine des Fleischs im Blick, doch in dessen Gefolge startete der ebenfalls eiweissreiche Pilz seine Karriere. Die Wissenschafter empfahlen ihn den Unterschichten als preiswerte Alternative: Dank den Pilzen könnten auch Arbeiterinnen und Bauern ihre Arbeitsleistung steigern.

Hallimasch Pilze im Wald von Hinwil

Die Abneigung gegen die Pilze hielt sich in der Schweiz hartnäckig. Noch um 1950 wurden im Kanton Graubünden kaum Pilze gesammelt. Bild: Annick Ramp / NZZ

Pilzmärkte, Pilzabende und Pilzspiele

Mathieu und Messerli veranschaulichen den Aufstieg des Fungus anhand des Erfolgs des Kochbuchklassikers «Das fleissige Hausmütterchen» der Toggenburger Arbeitslehrerin Susanna Müller. In der ersten Auflage von 1860 kommt der Pilz nicht vor, 1879 tritt er erstmals auf, die siebzehnte Auflage von 1915 enthält die farbige Bildtafel «Die bekanntesten essbaren Pilze». Damit war der Fungus in vielen Schweizer Küchen angekommen.

Neben den Ernährungswissenschaften, deren Erkenntnisse nicht nur über Kochbücher, sondern auch über Tagespresse, Illustrierte und Volkskalender verbreitet wurden, schlugen die Pilzvereine die Werbetrommel für den Fungus. Ihre Mitglieder waren Pilzenthusiasten, die vorwiegend aus kleinbürgerlichen Milieus stammten. Sie führten die Forschung der Wissenschafter weiter und organisierten Pilzausstellungen, Pilzmärkte und Pilzabende, um sich an Pilzspielen zu erfreuen und Pilzmodelle zu basteln.

Die ersten Vereine entstanden ab 1910 in Bern, Grenchen, Biel, Bern und Burgdorf. Dort wurde dank dem Eifer des Bahnbeamten Herrmann Walter Zaugg 1919 der Verband Schweizerischer Vereine für Pilzkunde aus der Taufe gehoben. 1929 durfte der Berner Lehrer Ernst Habersaat, Präsident des Verbands Schweizer Pilzproduzenten und Autor des «Schweizer Pilzbuchs», in seinem Kreise zufrieden konstatieren: «Während noch vor wenigen Jahren in der Schweiz sich nur Pilzkenner und einzelne Pilzliebhaber an den Genuss der Speisepilze wagten, sind die Pilze heute, dank der Aufklärungsarbeit durch die Pilzvereine, bereits zu einem Volksnahrungsmittel geworden.»

Allerdings war es noch nicht so weit, der Wunsch war Vater von Habersaats Gedanken. Die Abneigung gegen die Pilze hielt sich hartnäckig. Noch um 1950 wurden etwa im Kanton Graubünden kaum Pilze gesammelt, man begegnete ihnen mit Misstrauen. Gleiches gilt für das norditalienische Aostatal: In den Augen der Einheimischen waren die Steinpilze sammelnden Piemontesen entweder verrückt oder am Verhungern.

Ideologisch aufgeladene Geschöpfe

Heute ist das «Pilzeln», das Sammeln von Pilzen im freien Gelände, ein Volkssport der Freizeitgesellschaft. Dieser Sport freilich hat für viele Sammler eine spirituelle Dimension. Mykophile Wissenschafter haben Pilze breitenwirksam in ideologisch aufgeladene Wesen verwandelt. Aber wieso ausgerechnet die Pilze? Wieso haben sie die Aufgabe übernommen, die Sehnsucht nach einer ökologisch intakten Welt zu stillen? Eine Sehnsucht, die angesichts der akuten Umweltzerstörung mehr als verständlich ist.

Die Pilze passen einfach. Sie sind fragile und doch robuste Zwischenwesen, die dem postbinären Zeitgeist entgegenkommen. Pilze zu züchten, ist aufwendiger als gemeines Gemüse in einem Gewächshaus. Und sie lassen sich so einfach manipulieren. Um 1970 haben sie in der biologischen Systematik eine Sonderstellung als drittes Reich zwischen Tieren und Pflanzen erhalten – wobei sie mittlerweile als enger verwandt mit den Tieren gelten. Diese Erkenntnis ficht die Veganer allerdings nicht an. So oder so: Das Reich der Pilze wächst unaufhörlich dank neuen Arten, ihre Erforschung scheint unerschöpflich.

Die Anthropologin Anna Lowenhaupt Tsing nennt Pilze «nichtentfremdete Nichtmenschen», die uns Heil bringen könnten. Aber wahrscheinlich wäre es besser und wirksamer, wenn wir Menschen uns selber helfen würden.

Urs Hafner, «NZZ am Sonntag» (Datum)

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