Sie treibt den Kult auf die Spitze. Anna Lowenhaupt Tsing behauptet in ihrem erfolgreichen Buch «Der Pilz am Ende der Welt», der Matsutake-Pilz könnte der Lehrmeister von uns Menschen sein. Von diesem geheimnisvollen Gewächs könnten wir Geduld lernen, mit ihm Glück finden und anderes mehr. Der Pilz habe antikapitalistisches Potenzial: die Rettung unserer Welt, die vor der Zerstörung stehe.
Die amerikanische Anthropologin ist nicht allein mit ihrem Enthusiasmus für die Fungi, wie die Pilze in der Fachsprache heissen. Für ihren Landsmann, den Biologen und Linguisten Terence McKenna, hat die Menschheit den Pilzen nicht weniger als den Sprung vom Homo erectus zum Homo sapiens zu verdanken. Ihre psychoaktiven Substanzen hätten den Urmenschen zu kognitiven Fähigkeiten verholfen. Ohne Pilze würden wir also noch immer in Höhlen leben. Wenigstens könnten wir die Welt nicht zerstören.
Der deutsche Förster und Bestsellerautor Peter Wohlleben wiederum kommt mit Berufung auf die Wissenschaften zu dem Schluss, dass die Pilze den Bäumen beim Kommunizieren hülfen, indem sie in deren Wurzeln drängten. Kranken Bäumen führten sie sogar Heilmittel zu. Unterirdisch verrichten die Pilze für die gesamte Natur lebenswichtige Arbeiten. Sie müssten für die Menschen ein Vorbild sein. Das «Wood Wide Web», von dem Biologen reden, ist nicht wie das menschliche Internet von Rassismus und Sexismus verseucht, es blüht dank Altruismus und Kooperation.
Auch prominente Sozialhistoriker haben den Pilzen ihre Reverenz erwiesen. Laut Rudolf Braun etwa zählten Pilze in der Vormoderne zur Nahrungsgrundlage von Bäuerinnen und Hirten. Es klingt einleuchtend: Die Landleute streiften durch Wälder und Wiesen und sättigten sich an den gesunden Gewächsen, die nur fand, wer vertraut war mit dem Gelände. Und das seit Jahrhunderten.
Das komplexeste Ökosystem der Welt
Und nicht nur das, liesse sich mit den pilzbegeisterten Wissenschaftern folgern: Dank den Fungi, diesen rätselhaften Lebewesen zwischen Mensch, Tier und Pflanze, hatten unsere Vorfahren noch eine intensive Verbindung zur Natur, sie waren noch nicht von ihr abgespalten in den Städten. Die Pilze, sie wissen viel mehr als die Menschen, nämlich alles, und sie haben Fähigkeiten, von denen sich selbst die Fachleute erst einen Bruchteil erklären können: Sie sind das komplexeste Ökosystem der Welt. Dies hat die deutsche Wissenschaftsjournalistin Barbara Höfler einmal geschrieben.
Was Wissenschafterinnen und Pilzversteher auch immer im Fungus sehen wollen und welche aussergewöhnlichen Fähigkeiten dieser auch immer mit seinesgleichen teilen mag: Auf die Vergangenheit, auf einen frühen ökologischen Holismus oder gar ein altes Volkswissen können Mykologen nicht zählen, jedenfalls nicht in Westeuropa.
In einem soeben in der Zeitschrift «Historische Anthropologie» (Nr. 32, 1) publizierten Aufsatz weisen die beiden Schweizer Historiker Jon Mathieu und Jakob Messerli nach, dass sowohl das Interesse für Pilze als auch deren Konsum erst um 1900 einsetzte – dank den Bemühungen von Wissenschaftern. Weder ist die Pilzliebe alt, noch kam sie von unten, sie ist von oben eingeführt worden.
Die längste Zeit hatten Pilze in Westeuropa einen denkbar schlechten Ruf, wenn sie denn überhaupt einen hatten. Natürlich war bekannt, dass manche Pilze giftig sind und ihr Verzehr tödlich endet. Ebenso bedeutsam war die Einschätzung der Mediziner, die noch im 18. Jahrhundert der Lehre des griechischen Arztes Galenos folgten. Pilze galten als kalt und feucht, also als das Gegenteil bekömmlicher Nahrung, die warm und trocken sein sollte. Der berühmte Berner Arzt und Botaniker Albrecht von Haller warnte 1768 vor Pilzen. Er würde sie keinesfalls essen, auch die besten Exemplare hätten schon Schaden angerichtet.
Es waren Chemiker, Physiologen und Physiker, die ab 1850 wissenschaftliche Ernährungsideale propagierten, allen voran der deutsche Universitätsprofessor Justus von Liebig. Das Eiweiss war gemäss ihren Forschungen der wertvollste Stoff, den der menschliche Körper benötige. Sie hatten zunächst die Proteine des Fleischs im Blick, doch in dessen Gefolge startete der ebenfalls eiweissreiche Pilz seine Karriere. Die Wissenschafter empfahlen ihn den Unterschichten als preiswerte Alternative: Dank den Pilzen könnten auch Arbeiterinnen und Bauern ihre Arbeitsleistung steigern.