Frau Dixson-Declève, der Club of Rome warnt seit über fünfzig Jahren vor den Gefahren grenzenlosen Wachstums. Hat die Welt nicht zugehört?
Sandrine Dixson-Declève: Ich arbeite seit 35 Jahren in diesem Feld – und wir haben substanzielle Fortschritte erzielt: in der Chemikaliengesetzgebung, bei Umweltmanagementsystemen, Nachhaltigkeit, Fahrzeugemissionen, Kraftstoffqualität und der Dekarbonisierung. Wir haben tatsächlich etwas bewegt. Und ja, dabei haben wir manche kräftig verärgert – das werte ich als gutes Zeichen. Jetzt geht es darum, diese Erfolge zu kanalisieren und für die nächste Phase zu nutzen: mehr Menschen mitzunehmen und Veränderung in ihrem Alltag spürbar zu machen. Da haben wir bislang unsere Chancen liegen lassen. In unserem Bericht «Earth for All» wollen wir daher die Deutungshoheit zurückgewinnen – und zeigen, dass dieser Weg zwar mit Hindernissen bewachsen ist, wir aber dennoch einen wertegeleiteten Kurs halten können.
Sind wir noch auf Kurs, um die Nachhaltigkeitsziele der UNO, die insgesamt 17 Sustainable Development Goals (SDGs), zu erreichen?
Die nüchterne Wahrheit lautet: Wir verfehlen weltweit die meisten SDGs. Es gibt massiven Widerstand gegen ESG – die Nachhaltigkeitskriterien Umwelt, Soziales und Unternehmensführung –, gegen Diversität und Klimaziele, und das nicht nur in den USA, sondern auch in Europa. Und wir adressieren die nötigen systemischen Veränderungen nicht. Unsere Wirtschaft ist überfinanzialisiert, getrieben von Geld, Profit und vielfach auch Macht. Aktionäre diktieren, wie Unternehmen handeln. Deshalb müssen wir über Wachstum und Bruttoinlandprodukt hinausdenken – hin zu einer Wirtschaft, die zugleich den Menschen, dem Planeten und dem Wohlstand dient.
Ihr Bericht «Earth for All» skizziert zentrale Hebel für eine lebenswerte Zukunft. Die Hauptaussage lautet: Es ist nicht zu spät. Gilt das angesichts der aktuellen Weltlage noch immer?
Ja, absolut. Wir haben die Lösungen – aber die Gesellschaft muss die Macht zurückerobern. Wir brauchen den Mut, jenen entgegenzutreten, die ihre Position allein für das Eigeninteresse ausnutzen, statt dem Gemeinwohl zu dienen. Das sind keine «kommunistischen» Ideen, sondern tief verankerte europäische Werte. Wir stehen an einem Scheideweg: auf der einen Seite eine eigennützige Regierungsführung – der «Tech- Bro-Feudalismus» der USA –, auf der anderen Seite Führungskräfte, die stark von den Ereignissen in den Vereinigten Staaten, in Russland, China und auch vom Gaza-Konflikt absorbiert sind. Europa muss sein Selbstverständnis zurückgewinnen und einen eigenständigen, wertegeleiteten Weg wählen.
Wie viel Zeit bleibt uns dafür?
Keine! Wir müssen jetzt handeln. Selbstzufriedenheit ist mit schuld an unserer aktuellen Weltlage. Die aktuelle US-Regierung fährt Bemühungen zum Klimaund Umweltschutz zurück, Europa steht unter Druck, Verteidigung und Wettbewerbsfähigkeit zu priorisieren – teils zulasten von Umweltauflagen. Viele Unternehmen sind zurückhaltend, um nicht ins Visier zu geraten. Aber wir müssen jetzt aufstehen, sonst ist es zu spät.
Was muss sich Ihrer Meinung nach konkret ändern?
Wir werden gebremst durch Überfinanzialisierung und das Primat der Aktionäre: Kapitalflüsse dienen nicht Menschen, dem Planeten und dem Wohlstand der Allgemeinheit; Unternehmensführungen und Politik sind von kurzfristigem Profit- und Machtdenken geprägt; geopolitisch dominieren Egos, die humanistische Werte verdrängen. Zudem verwehren wir weiterhin vielen Frauen den Zugang zu Bildung, politischen Ämtern und Aufsichtsräten – diese strukturelle Entmachtung schwächt ganze Gesellschaften.
Gleichstellung ist also eine zentrale Lösung?
Ja. Viele der heutigen Konflikte wurzeln in Frustration: Öl- und Gaskonzerne wollen Profite zurückgewinnen; Tech- Bros (Anm. der Redaktion: umgangssprachlich für Personen in der Technologiebranche, die sich selbst als stereotyp männlich wahrnehmen, insbesondere in Unternehmen des Silicon Valley) suchen Kontrolle über Frauen, Technologie und die ganze Weltgemeinschaft – eine dystopische Vision. Die Trumpsche Weltanschauung des «Make America Great Again» steht für patriarchalische und teils monarchische Sehnsüchte. Wir müssen Frauen ihren rechtmässigen Platz in der Gesellschaft geben. Gleichstellung ist kein «Gender-Add-on», sie stellt humanistische Werte wieder her und stärkt zugleich die Wirtschaft.
Wie realistisch ist systemischer Wandel in der heutigen Zeit?
Ich sehe keine Alternative. Der Widerstand existiert, weil wir Fortschritte gemacht und damit viele Personen in Machtpositionen verärgert haben. Dazu zählen Politiker, die autokratische Totalmacht anstreben, und Unternehmen, die nicht für die Werte einstehen, die unsere Wirtschaft leiten sollten. Menschen sollten sich entfalten können, nicht nur überleben. Der jüngste UN-Fortschrittsbericht zeigt: wirtschaftliche Entwicklung stagniert, Lebensqualitätsindikatoren sinken – auch in Europa.
Welchen Einfluss kann die Schweiz ausüben, um den Wandel voranzutreiben?
Die Schweiz kann in mehreren Bereichen viel bewirken. Ihre Neutralität ermöglicht es, Länder an einen Tisch zu bringen – für eine erneuerte europäische wie auch globale Vision. Als international verankerter Finanzplatz kann sie den Wandel nicht nur finanzieren, sondern die Finanzwelt auch so verändern, dass die Kapitalflüsse dem Planeten und dem allgemeinen Wohlstand dienen.
Und zu Hause – jenseits von Neutralität und Finanzplatz?
Als wohlhabendes Land konsumiert die Schweiz überproportional – Verantwortung liegt deshalb in einem bewussten Konsum. Es geht nicht um den moralischen Zeigefinger gegenüber Einzelnen, sondern um öffentliche Programme: erneuerbare Energien ausbauen und Investoren in die Pflicht nehmen, Ernährungssysteme auf regenerative Praktiken umstellen und die Folgen von Importen für Mensch und Natur berücksichtigen.
Auch die soziale Dimension darf nicht fehlen: Die Schweiz ist teuer; Obdachlosigkeit, Drogenkonsum und psychische Belastungen nehmen zu. Wir müssen soziale und ökologische Wendepunkte gemeinsam angehen.
Junge Menschen wachsen heute mit multiplen Krisen auf. Was raten Sie einer Generation, die sich nach Orientierung und Hoffnung sehnt?
Halten Sie die Spannung zwischen Verzweiflung und Hoffnung aus. Wir müssen ehrlich sein: Es ist schwer. Entscheidungsträger müssen den Menschen zuhören und konkrete Lösungen liefern, damit sich die Gesellschaft entfalten kann. Ein gutes Beispiel dafür sind die «Gilets Jaunes» in Frankreich: Es war nicht die Erhöhung der Dieselsteuer per se, die die Gelbwesten-Bewegung ausgelöst hat. Zwei Wochen zuvor schaffte Frankreich die Vermögenssteuer ab. Viele hatten deshalb das Gefühl, der Mittelstand trage nun die finanzielle Last, während die Reichsten davonkämen. Daher ist es wichtig, dass Regierungen zuhören und echte Lösungen liefern.
Entscheidend ist auch, alternative Wege aufzuzeigen: Was bedeutet es, wenn wir so weitermachen wie bisher, und was passiert, wenn wir dagegenhalten Klimapolitisch haben wir die im Pariser Klimaabkommen gesetzte 1,5-Grad-Grenze bereits überschritten. Rasch zurück können wir nicht – aber wir können uns dieser Realität stellen und den Wandel positiv nutzen.
Sind es diese Lösungen, die Ihnen Hoffnung geben?
Ja. Diese Lösungen geben mir Hoffnung – und der schlichte Umstand, dass ich keine andere Wahl sehe: Entweder man gibt auf oder man kämpft weiter. Ich bin die Enkelin einer Widerstandskämpferin, die Konzentrationslager überlebt hat. Darum glaube ich zutiefst, dass wir mit Mut standhalten müssen. Das ist der einzige Weg.