Auch die Kultur ist ein Klimafaktor
Die Stadt Zürich will die Treibhausgasemissionen bis 2040 auf netto null senken. Damit das gelingt, müssen alle mithelfen – auch die Kulturinstitutionen. Ein Pilotprojekt schafft die Grundlagen dafür.
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Das seit 1957 bestehende Kammerorchester Camerata Zürich spielt im Schweizer Musikleben eine wichtige Rolle – nun auch in Sachen Nachhaltigkeit. Foto: Camerata, Zürich
Die Stadt Zürich will die Treibhausgasemissionen bis 2040 auf netto null senken. Damit das gelingt, müssen alle mithelfen – auch die Kulturinstitutionen. Ein Pilotprojekt schafft die Grundlagen dafür.
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6 Min. • • Manfred Papst
Die durch den Menschen verursachte Erderwärmung ist das spürbarste Zeichen eines immer rascher verlaufenden Klimawandels, der ökologische und soziale Krisen befürchten lässt. Die Begrenzung der globalen Erwärmung ist deshalb ein Hauptziel der Umweltpolitik. Diese ist darauf angewiesen, dass sowohl die grossen «Player» zu internationaler Zusammenarbeit finden als auch nationale und lokale Initiativen greifen. Hier setzt die Stadt Zürich an. Sie will die direkten Treibhausgasemissionen bis 2040 auf Netto-Null senken; die indirekten Emissionen sollen bis 2040 gegenüber dem Stand von 1990 um 30 Prozent reduziert werden. Die Zürcher Stimmbevölkerung hat den städtischen Klimaschutzzielen 2022 mit einer klaren Mehrheit zugestimmt. Um diesen Entscheid umzusetzen, werden die städtischen Strategien, Planungen und Massnahmen derzeit überprüft, verschärft oder neu erarbeitet. Massnahmen zur Reduktion der direkten Treibhausgasemissionen werden hauptsächlich in den Bereichen Gebäude, Energie und Mobilität umgesetzt. Dabei geht es etwa um den Ersatz fossiler Heizungen durch klimafreundliche Lösungen, den Ausbau der Fernwärme oder die Produktion von erneuerbarem Strom.
Die indirekten Treibhausgasemissionen kann die Stadtverwaltung – abgesehen von einer klimafreundlichen Beschaffung – kaum unmittelbar beeinflussen. Hier setzt sie vor allem Massnahmen um, die klimafreundliches Verhalten ermöglichen und erleichtern, beispielsweise durch Beratung oder die Bereitstellung und Förderung von klimafreundlichen Alternativen zu den bestehenden Lösungen.
Fundierte Methoden
Damit Emissionen gesenkt werden können, muss man erst einmal genau wissen, wo überall sie anfallen. Deshalb gewinnt die Klimabilanzierung auch im Kulturbereich zunehmend an Bedeutung. Besonders bei städtisch geförderten Kulturinstitutionen wie Orchestern oder Konzerthäusern wird transparentes Reporting zu Energieverbrauch, Mobilität und Ressourcen künftig eine zentrale Rolle spielen. Im Rahmen eines städtischen Pilotprojekts haben daher insgesamt sechs Kulturinstitutionen – darunter die Musikinstitutionen Camerata Zürich und Tonhalle Zürich – kürzlich eine neue Klimabilanz erstellt, und zwar auf Basis des international breit anerkannten Greenhouse Gas (GHG) Protocol.
Eine möglichst transparente und umfassende Erfassung der Treibhausgasbilanz gemäss GHG Protocol verfolgt auch die ETH Zürich. Diese setzt sich für fundierte Methoden der Klimabilanzierung sowie für ein verlässliches Reporting ein und stellt ihr Wissen dazu proaktiv zur Verfügung.
«Eine allumfassende Treibhausgasbilanzierung ist essenziell für die Ausarbeitung wirkungsvoller Massnahmen.»
Simon Muntwiler
Nachhaltigkeitsmanager ETH Zürich
Ziel des Wissensaustauschs ist es, dass Institutionen in die Lage versetzt werden, einen messbaren Beitrag zur Erreichung der Klimaziele zu leisten und – im Falle von Kulturinstitutionen – ihren kulturellen Auftrag auch hinsichtlich der Klimawirkung einzuordnen. «An der ETH bemühen wir uns, die Treibhausgasemissionen für die ETH selber möglichst genau zu berechnen», sagt Simon Muntwiler, Nachhaltigkeitsmanager im Stab ETH Sustainability. «Unser Bestreben ist es, die Ergebnisse und auch die Berechnungsgrundlagen möglichst transparent zu kommunizieren und damit einen hohen Standard zu setzen.»
Der ETH Zürich dient die Klimabilanzierung als wichtige Grundlage für die Ausarbeitung von wirkungsvollen Massnahmen auf dem Weg zu netto null Treibhausgasemissionen. Daher erachtet es Simon Muntwiler auch als sehr unterstützenswert, dass dank dem Pilotprojekt der Stadt Zürich Institutionen wie das Kammerorchester Camerata Zürich befähigt werden, diese Grundlage für sich ebenfalls zu erarbeiten und sinnvoll einzusetzen. Obwohl sich die absolute Menge der Emissionen der Camerata Zürich und der ETH stark unterscheiden, resultieren für beide ähnliche Dilemmata – zum Beispiel im Hinblick auf Flugreisen. Umso wichtiger sind eine transparente Kommunikation und das Teilen von Best-Practice-Ansätzen.
Im Prozess viel gelernt
Die Erstellung einer allumfassenden Klimabilanz war für die ETH ein lehrreicher Prozess – dasselbe gilt für die Camerata Zürich. Das seit 1957 bestehende Kammerorchester, das im Schweizer Musikleben eine wichtige Rolle spielt, beschäftigt 16 Berufsmusikerinnen und -musiker. Das Ensemble verfügt weder über eigene Proberäume noch über einen eigenen Konzertsaal, und es geht selten auf grössere Tourneen. Wie sieht seine Klimabilanz aus, und wie hat Gustavo de Freitas, seit 2022 Direktor der Camerata Zürich, das Projekt erlebt? Darüber spricht er im nebenstehenden Interview. «Ich habe in dem Prozess viel gelernt », bilanziert er, «und weiss jetzt, wo wir Einsparungen vornehmen können, ohne Abstriche an unserer künstlerischen Exzellenz zu machen.»
«Künstlerische Exzellenz und Nachhaltigkeit schliessen sich nicht aus»
Interview mit Gustavo de Freitas, Direktor der Camerata Zürich, über die Klimabilanzierung des Kammerorchesters
Herr de Freitas, was hat Sie dazu bewogen, eine Klimabilanzierung für die Camerata Zürich erstellen zu lassen?
Gustavo de Freitas: Als eine von der Stadt und dem Kanton Zürich subventionierte Kulturinstitution liegt es in unserer Verantwortung, zum Klimaziel unserer Stadt beizutragen. Die Klimabilanzierung ist ein Angebot der Stadt Zürich, das uns ermöglicht, unsere Emissionen besser zu verstehen. Es war eine interessante Erfahrung, unser eigenes Tun einmal nicht aus der künstlerischen oder administrativen Perspektive zu betrachten, sondern aus einer rein ökologischen.
Und was haben Sie dabei gelernt?
Ich habe nun ein klares Bild, wo wir überhaupt Emissionen verursachen. Da wir weder über ein eigenes Gebäude noch über ein Gastronomieangebot verfügen, war von vornherein klar, dass unser CO₂-Abdruck gering ausfallen würde. Spannender war der Blick auf Logistik, Material und Infrastruktur: Wie viel Papier wird für Noten benötigt? Welche Transporte und Reisen fallen an? Solche Fragen helfen uns, Routineprozesse zu hinterfragen.
Welche Posten fallen am stärksten ins Gewicht?
Ganz klar die Mobilität. Für uns heisst das konkret: Wie reisen unsere Gastkünstler an und wie kommt das Publikum zu uns? Wir arbeiten mit internationalen Musikerinnen und Musikern zusammen, was gewisse Reisewege mit sich bringt. Das Publikum ist überwiegend lokal, aber auch da summieren sich viele kurze Strecken. In diesen Bereichen können wir etwas optimieren, allerdings darf dies nie auf Kosten der künstlerischen Qualität geschehen.
Welche Zahl steht für Sie unter dem Strich?
Wir liegen insgesamt bei rund 8,5 Tonnen CO₂ pro Jahr. Das entspricht einem Hinund Rückflug von drei Personen von Zürich nach New York. Für ein Kammerorchester mit einem Dutzend Projekten pro Saison ist das verschwindend klein. Zwei Drittel dieser Menge sind auf die Personenmobilität zurückzuführen – davon etwa 60 Prozent auf Reisen von Gastkünstlerinnen und Gastkünstlern und 30 Prozent auf die Mobilität des Publikums.
Was folgern Sie daraus?
Dass künstlerische Exzellenz und Nachhaltigkeit sich nicht ausschliessen müssen. Wir werden selbstverständlich weiterhin internationale Künstlerinnen und Künstler einladen und auch Gastspiele im Ausland realisieren. Das gehört zu unserer künstlerischen Mission und zu unserem Bildungsauftrag. Eine Kulturinstitution darf nie primär aus der Emissionsperspektive betrachtet werden. Das wäre sehr kurzsichtig. Wir fördern Bildung, Austausch und Verständnis zwischen Menschen und Kulturen, und das ist ebenfalls nachhaltige Arbeit, wenn auch auf einer anderen Ebene.
Wie könnten Sie Emissionen optimieren?
Man kann Anreize schaffen: zum Beispiel eine zusätzliche Hotelnacht anbieten, wenn Gastkünstler mit dem Zug anreisen, oder dem Publikum schon beim Ticketkauf die bequeme Anreise mit dem öV empfehlen. Interessant ist: Nur vier Prozent unseres Publikums kommen mit dem Auto, verursachen aber rund die Hälfte der Publikumsemissionen. Kleine Massnahmen können also durchaus grosse Wirkung erzielen.
Welche Summe ziehen Sie?
Unsere Klimabilanzierung hat bestätigt, dass künstlerische Exzellenz und ökologisches Bewusstsein gut vereinbar sind, solange man das Thema mit Augenmass behandelt. Für uns war das eine Übung, die uns konkret hilft, bewusster zu handeln. Und sie zeigt klar: Auch mit relativ bescheidenen Mitteln kann eine Institution wie die Camerata Zürich durch zielgerichtetes Handeln kulturell, gesellschaftlich und ökologisch viel bewegen.
Foto: Camerata Zürich
Gustavo de Freitas
Direktor Camerata Zürich
Deklaration: Dieser Inhalt wurde vom Sustainable Switzerland Editorial Team im Auftrag der ETH erstellt.
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