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Wirtschaft

Der AHV-Entscheid als Götterdämmerung in der Schweiz? «Die Mehrheit der Jungen wird wohl einmal aufbegehren»

Das Resultat der Abstimmung zur 13. AHV-Rente legt nahe, dass sich der Verteilungskampf zuspitzen wird. Wir haben vier Persönlichkeiten gefragt, ob das Erfolgsmodell der Schweiz am Ende ist.

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Der AHV-Entscheid als Götterdämmerung in der Schweiz? «Die Mehrheit der Jungen wird wohl einmal aufbegehren»

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In Analysen zur Schweiz heisst es oft, die Stimmbevölkerung zeichne sich hierzulande in wirtschaftlichen Fragen durch ordnungspolitische Zurückhaltung aus. Als Beispiel wird die Ablehnung der Volksinitiative «6 Wochen Ferien für alle» im Jahr 2012 genannt. Doch das ist schon einige Jahre her, und das Ja zur linken Forderung nach einer 13. AHV-Rente weckt Zweifel, ob der implizite Gesellschaftsvertrag – Masshalten sowohl der Wirtschaft als auch der Bevölkerung – noch Gültigkeit hat.

Die NZZ hat vier Stimmen aus der Privatwirtschaft, den Gewerkschaften und der Wissenschaft danach befragt, ob das Erfolgsmodell der Schweiz weiterhin funktioniert oder ob derzeit gerade ein grundlegender Wandel im Verhältnis zwischen Wirtschaft und Stimmbevölkerung stattfindet:

  • Franziska Tschudi Sauber, Präsidentin des Verwaltungsrats der Weidmann Holding AG und Vorstandsmitglied bei Economiesuisse
  • Daniel Lampart, Chefökonom des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes
  • Tobias Straumann, Wirtschaftshistoriker und Professor an der Universität Zürich
  • Mark Schelker, Finanzwissenschafter und Professor an der Universität Freiburg

Am Sonntag hat sich eine klare Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer für einen Ausbau der AHV ausgesprochen. Ist das Erfolgsmodell Schweiz, zu dem eine sparsame und wirtschaftsfreundliche Haltung des Stimmvolkes gehört, damit Geschichte?

Franziska Tschudi Sauber: Nein, um Geschichte zu werden, müssten noch mehrere solcher Entscheidungen fallen. Verschiedene andere, kantonale Abstimmungen haben am Sonntag ja auch die «Vernunft des Souveräns» gezeigt. Wenn es aber ums eigene Portemonnaie geht, ist den Schweizerinnen und Schweizern das Hemd näher als der Rock. Wer A sagt, muss offenbar auch nicht mehr B sagen. Diese Anspruchshaltung, der Staat könne alles richten, finde ich bedenklich und gefährlich.

Daniel Lampart: Eine wichtige Eigenschaft des «Erfolgsmodells» Schweiz war, dass die Arbeitnehmenden am Wohlstand partizipieren. Die Löhne und Renten stiegen, wenn es wirtschaftlich besserging und wenn es Teuerung gab. Behörden und Arbeitgeber haben sich in den letzten Jahren tendenziell davon verabschiedet. Das Parlament tat nichts gegen real sinkende Renten. Und die Arbeitgeber verweigerten teilweise sogar den Teuerungsausgleich. Mit der 13. AHV-Rente hat das die Bevölkerung in der Altersvorsorge korrigiert.

Tobias Straumann: Nein. Zum einen war die Schweiz auch früher nicht immer sparsam und wirtschaftsfreundlich. So wurden zum Beispiel seit den 1990er Jahren die meisten sozialpolitischen Reformen an der Urne abgelehnt. Zum andern gilt es, abzuwarten, wie die 13. AHV-Rente finanziert wird. Das klare Ja vom vergangenen Sonntag kam nur dank bürgerlichen Stimmen zustande. Sie werden kaum für Steuererhöhungen ohne Sparmassnahmen beim Bundeshaushalt zu haben sein.

Mark Schelker: Die Entscheidung ist ein Sündenfall. Aber das Erfolgsmodell ist erst Geschichte, wenn auf breiter Basis die Dämme brechen. Die Schuldenbremse steuert hier gegen. Ihre Aushebelung ist die grösste Gefahr. Die Schuldenbremse ist ein moderner Pfeiler unseres Erfolgsmodells. Bisher galt sie als unantastbar. Doch neben Kritik von links sind im Herbst auch Stimmen von rechts hinzugekommen. Falls am Wochenende tatsächlich eine Änderung der Mehrheiten in finanzpolitischen Fragen sichtbar geworden wäre, könnte eine Entschärfung als mehrheitsfähig erachtet werden, mit weitreichenden Folgen.

Wie sehr spiegelt das Resultat eine Entfremdung der Gesellschaft von der Wirtschaft, vor allem von grossen internationalen Unternehmen?

Franziska Tschudi Sauber: Ich glaube nicht, dass es bei diesem Abstimmungsresultat primär um eine solche Entfremdung ging. Vielmehr hat es mit der persönlichen Besserstellung zu tun, nach dem Motto: Jetzt komme zuerst einmal ich. Die Entfremdung ist, quasi als Grundrauschen, aber da, und sie ist verständlich. Zwar schaffen die sogenannten Multis in der Schweiz Arbeitsplätze, auch indirekt bei vielen kleinen Zulieferfirmen, und sie zahlen Steuern. Aber ihre Werte, glaubhaft gemacht durch ihre Führungspersonen, sind nicht sichtbar. Und natürlich be- und entfremdet die Ausrichtung zu hoher Löhne und Boni.

Daniel Lampart: Es sind primär Schweizer Mitglieder der Elite, welche sich vom Erfolgsmodell entfernt haben – gewählte Politikerinnen und Politiker und die Führungen der Schweizer Arbeitgeberorganisationen.

Tobias Straumann: Die Linke hat schon immer gefremdelt, und die Bürgerlichen, die für die Initiative gestimmt haben, tun sich seit längerem schwer mit den Wirtschaftsverbänden und den internationalen Grossunternehmen. Vor allem die SVP-Basis hat noch eine Rechnung offen. Die 2014 angenommene Initiative gegen die Personenfreizügigkeit wurde nicht richtig umgesetzt. Zudem ist in diesen bürgerlichen Kreisen die Meinung verbreitet, dass der Bund seine Ausgaben zugunsten des Auslands laufend erhöhe, während die Einheimischen immer mehr bezahlen müssten.

Mark Schelker: Das Argument wird seit langem angeführt. Meines Erachtens lenkt diese Interpretation aber von den Problemen im politischen Prozess ab. Wer hat noch Anreize, sich ernsthaft für Sparsamkeit und fiskalische Nachhaltigkeit einzusetzen, statt im Verteilungskampf mitzumischen? Denn mittlerweile hängen praktisch alle in der einen oder anderen Form am Tropf des Staates. Während dies links (soziale Umverteilung) und rechts (Landwirtschaft) zu erwarten ist, sind es nun auch fast alle anderen. Auch Vertreter der Privatwirtschaft fordern heute eher staatliche Regulierung, Schutz und Subventionen statt Handlungsfreiheit, Selbstverantwortung und Wettbewerb.

Ist der ungeschriebene Gesellschaftsvertrag gebrochen worden, indem Manager sich exzessive Löhne haben auszahlen lassen und der Staat gigantische Rettungspakete etwa für Grossbanken geschnürt hat?

Franziska Tschudi Sauber: Ja, in der Wahrnehmung vieler Schweizerinnen und Schweizer ist das so. Das schürt die Anspruchshaltung gegenüber dem Staat.

Daniel Lampart: Für die Bevölkerung ist es unverständlich, wie sich die Schweizer Führungsriege so hohe Gehälter auszahlen kann und gleichzeitig versagt oder nicht die volle Verantwortung übernimmt. Der Arbeitsalltag der Normalverdienenden ist so, dass sie mit Kündigung und Arbeitslosigkeit rechnen müssen, wenn es im Betrieb Probleme gibt – auch wenn sie nichts für die Probleme können. Das bei wesentlich tieferen Löhnen als bei den Managern.

Tobias Straumann: Die hohen Löhne belasten seit Jahrzehnten den Zusammenhalt. So erzielte die sogenannte «Abzocker»-Initiative 2013 an der Urne eine ausserordentliche Zustimmung von 68 Prozent. Die Rettungspakete zugunsten der Grossbanken mögen auch eine Rolle spielen, aber sie allein sind nicht das Problem. Die Leute stören sich vielmehr daran, dass die verantwortlichen Manager und Verwaltungsräte ungeschoren davonkommen. Sie müssen nicht einmal einen Teil ihrer hohen Saläre zurückbezahlen.

Mark Schelker: Die gigantischen Rettungspakete zuerst für die UBS und zuletzt die CS, die praktisch über ein Wochenende geschnürt und politisch abgewickelt wurden, waren hochproblematisch. Warum sollen sich Normalsterbliche für ausgeglichene Finanzen einsetzen und auch einmal zum Wohle aller auf etwas verzichten, wenn sich gefühlt die Eliten am Steuertopf frei bedienen? Selbst wenn es für diese Rettungspakete nachvollziehbare Gründe gab, so ist es nun sehr viel schwieriger zu erklären, dass die öffentlichen Mittel nicht unendlich und Zurückhaltung und Nachhaltigkeit geboten sind.

Haben die Schweizer Stimmbürger, von denen die Mehrheit über 50 Jahre alt ist, angesichts höherer Preise zuerst aufs eigene Portemonnaie geschaut und die 13. AHV-Rente aus primär egoistischen Motiven mitgenommen?

Franziska Tschudi Sauber: Ja, das glaube ich, und zwar aus verschiedenen Gründen: Teilweise weil real weniger Geld im Portemonnaie ist und die Existenzsicherung im Alter für viele Menschen, berechtigt oder unberechtigt, ein Thema ist. Teilweise mit dem Argument, man habe ja genug in die AHV einbezahlt und habe nun das Anrecht, auch einmal etwas zurückzubekommen. Zudem herrscht auch bei älteren Menschen immer mehr die Meinung, die Schweiz sei ja reich genug und es sei genügend Geld da. Wenn nötig, könne man an Ausgaben für andere Anspruchsgruppen sparen, etwa bei der Entwicklungshilfe.

Daniel Lampart: Die Preise wurden von den Firmen erhöht. Ihre Ertragslage ist mehrheitlich gut. Gleichzeitig ist die Leistungsfähigkeit der Pensionskassen spürbar gesunken. Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sind in dieser Situation zu dem Schluss gekommen, dass eine Erhöhung der AHV-Rente die richtige Antwort sei. Weil die Pensionierten ein Einkommen brauchen, von dem man leben kann. Das ist vor allem ein Zeichen von Klugheit.

Tobias Straumann: Fast 80 Prozent der über 65-Jährigen stimmten für die Initiative, obwohl die meisten von ihnen keine Zusatzrente brauchen. Auch die über 50-Jährigen waren mehrheitlich dafür. Wie viele von ihnen aus monetären Gründen für die Initiative gestimmt haben, ist schwierig zu sagen. Offiziell begründen sie ihr Ja lieber mit ihrem sozialpolitischen Verantwortungsgefühl und ähnlichen Motiven.

Mark Schelker: Davon ist auszugehen, und es wäre naheliegend. Die Jungen haben sich wohl das Gleiche überlegt und wollten die dramatischen Zusatzkosten nicht auch noch schultern müssen. Das Problem ist, dass die Demografie bei den Abstimmungen die ältere Generation bevorteilt. Im konkreten Fall war aber wohl das grössere Problem, dass die Finanzierungsfrage bei der Abstimmung ausgeklammert war und in der Diskussion erfolgreich ignoriert wurde.

Was bedeutet die Annahme der Initiative für das Zusammenleben von Alt und Jung?

Franziska Tschudi Sauber: Offensichtlich ist es für die Mehrheit der Alten zweitrangig, dass sie den Generationsvertrag, also die Solidarität mit den Jungen, gebrochen haben. Jedoch haben das angesichts der hohen Ja-Quote auch viele Junge akzeptiert. Die Mehrheit der Jungen wird wohl einmal aufbegehren, und dann werden wir Alten in eine Rechtfertigungsrolle gedrängt. Schade.

Daniel Lampart: Dank der 13. AHV-Rente ist das Rentenproblem der Berufstätigen und Pensionierten entschärft. Das ist positiv für die finanzielle Lage der Normalverdienenden. Die Berufstätigen haben mehr Geld zum Leben, weil sie weniger privat vorsorgen müssen, was wesentlich teurer ist als die AHV.

Tobias Straumann: Auf den ersten Blick belastet sie das Zusammenleben von Alt und Jung. Aber weil das Ergebnis vom Sonntag den Generationenkonflikt so eklatant zum Vorschein gebracht hat, besteht durchaus die Chance, dass er endlich offen diskutiert wird. Er existiert ja bei der Altersvorsorge schon lange, nur wurde er nie ernst genommen. Bei der finanzpolitischen Umsetzung der 13. AHV-Rente wird es zu einer Annäherung der Generationen kommen müssen. Sonst droht ein Nein an der Urne.

Mark Schelker: Der Verteilungskampf wird sich zuspitzen. Die Frage der Finanzierung der 13. AHV-Rente muss nun beantwortet werden, und im Juni kommen schon die Abstimmungen im Gesundheitsbereich, welche die grossen Ungleichgewichte noch verschärfen könnten. All dies in einem angespannten finanzpolitischen Umfeld. Das hat Sprengkraft. Ich fürchte, dass das Ausweichen in die Verschuldung bald sehr attraktiv wirken könnte. Dafür müsste aber die jetzige Form der Schuldenbremse fallen. Statt dass notwendige Reformen angepackt werden, könnten die finanzpolitischen Dämme brechen. Aber so weit sind wir noch nicht.

Thomas Fuster, Christoph Eisenring, «Neue Zürcher Zeitung» (06.03.2024)

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