Vergiftungen durch Schlangenbisse sind ein globales Gesundheitsproblem mit einer halben Million Toten und Versehrten pro Jahr. Nun bahnt sich eine längst überfällige Revolution in der Therapie an. Ein Besuch im Liverpooler Zentrum für Schlangenbiss-Forschung – mit knapp zweihundert hochgiftigen Bewohnern.
6 Min.
• • Susanne Wedlich, Sustainable Switzerland Editorial Team
«DANGER» steht an der Tür, gefolgt von einem Hinweis auf Giftschlangen. Wer hier passieren möchte, muss die Regeln kennen, die sich auf eine Vorgabe reduzieren lassen: Finger weg! Von den Luftlöchern der Plastikboxen, in denen die Schlangen leben. Aber auch von den dicken Knöpfen an den Wänden. «Die sind nur für den Notfall, also einen Schlangenbiss», sagt Nicholas Casewell. «Wenn jemand aus Versehen drückt, müssen wir trotzdem alle das Gebäude verlassen.»
Die historische Liverpool School of Tropical Medicine (LSTM) ist in einem mehrstöckigen Backsteingebäude mit modernen Glasanbau in denkbar bester Nachbarschaft untergebracht. Das für Schlangenbiss-Patienten perfekt präparierte Royal Hospital liegt normalerweise nur fünf Minuten die Strasse runter. «Wir haben das auch einmal mit einem ‚Biss-Opfer‘ im Rollstuhl getestet», sagt Schlangenpfleger Paul Rowley. «Da hat der Weg 16 Minuten gedauert.»
Eine wichtige Erkenntnis, weil zur LSTM das Centre for Snakebite Research & Interventions gehört. Casewell, der hemdsärmelige Leiter der Einrichtung, strahlt eine unerschütterliche Ruhe aus. Gut so, steht er doch neben 20 Mitarbeitern auch rund 170 überwiegend gefährlichen Schlangen von Mambas über Kobras bis zu Lanzenottern vor. Ein vielleicht einzigartiger Querschnitt des Who’s Who der Giftschlangen der Welt im vermutlich grössten Forschungszentrum dieser Art in Europa.
Hinter der Tür mit der Warnung geht es zunächst unaufgeregt zu. Die Schlangen sind hinter Glas oder in Plastikbehältern aus dem Baumarkt untergebracht, die neben- und übereinander gestapelt die Wände bedecken. Und meist karg möbliert sind: Auf dem Boden der Boxen liegt Zeitungspapier, darauf ein Ast mit künstlicher Pflanzenranke, ein Wasserschälchen und ein Unterschlupf aus Plastik. Viele Schlangen haben sich zurückgezogen, andere hängen ungerührt auf ihrem Ast ab.
Nur eine kräftige Gabunviper ist erbost über den Besuch. Sie pumpt sich auf und schnauft empört, fast wie ein wütender Teekessel. Fehlt nur der schrille Pfeifton. «Geh lieber einen Schritt zurück», sagt Casewell. «Sonst stösst sie gleich zu.»
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Das hochgiftige Tier trägt ein auffällig geometrisches Muster in Braun, Schwarz und Weiss. Ein Blickfang in der Box, aber eine perfekte Tarnung, wenn sich Gabunvipern in ihrem Habitat am Boden unter trockenem Laub verstecken. Immer wieder werden Menschen gebissen, weil sie aus Versehen auf die hochgiftigen Schlangen treten.
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat Schlangenbiss-Vergiftung zu einer der zehn wichtigsten vernachlässigten Tropenkrankheiten ernannt. Laut WHO sterben jedes Jahr bis zu 138 000 Menschen an einem Schlangenbiss, bis zu 400 000 überleben mit bleibenden Gesundheitsproblemen wie Amputationen, Blindheit oder Organschäden. Zahlen, die vermutlich noch zu niedrig sind: Es fehlen in vielen Ländern akkurate Daten.
Schlangenbisse in der Schweiz
Auch in einem Land wie der Schweiz ist die Angst vor Schlangen weit verbreitet. Doch keine Sorge: Von den acht Schlangenarten, die in der Schweiz heimisch sind, sind nur zwei Giftschlangen: die Aspisviper und die Kreuzotter. Begegnungen mit ihnen sind in freier Natur sehr selten. Noch viel seltener sind Bisse. Wenn es doch dazu kommen sollte, stellen sie dank der heutigen medizinischen Versorgung kein lebensgefährliches Problem mehr dar. Allerdings kann es zu allergischen Reaktionen führen. In der Schweiz ist seit 1961 kein Mensch mehr an einem Schlangenbiss einer einheimischen Art gestorben.
Schlangenbiss-Vergiftungen sind vor allem für arme Menschen in entlegenen Regionen eine Gefahr: für den Mann auf dem Feld, die Frau in der Teeplantage und das Kind auf dem Schulweg. Die bislang einzig wirksame Therapie sind sogenannte Antivenine – also Tierantikörper. Die selbst schwere Nebenwirkungen haben können und für viele Patienten nicht zugänglich sind (siehe Box am Ende des Textes).
Seit die WHO Schlangenbiss-Vergiftungen ins Rampenlicht gestellt und den Plan verkündet hat, die Zahl der Toten und Versehrten bis 2030 mindestens zu halbieren, erlebt die Forschung ein «Momentum», wie Casewell sagt – und bekommt mehr Geld. Schon jetzt gibt es mehrere Ansätze in der Pipeline, die auch an echtem Gift getestet werden müssen. Deshalb werden die Schlangen in Liverpool gehalten und von Zeit zu Zeit «gemolken».
Die Sandrasselotter ist wenig länger als ein Schnürsenkel, macht das aber mit grottenschlechter Laune wett. Die Tiere sind reizbar und bilden mit der Kettenviper, dem Krait und der Kobra die Big Four: Vier Arten, die für den Grossteil tödlicher Schlangenbisse in Indien verantwortlich sind. Wer eine Sandrasselotter melken möchte, braucht gute Nerven und Fingerspitzengefühl – um den zierlichen Kopf fest, aber auch nicht zu fest zu packen.
Forscher Nicholas Casewell (rechts) und Schlangenpfleger Paul Rowley mit einer giftigen Sandrasselotter im Labor. Bild: Susanne Wedlich
Den Job übernimmt Rowley, der vierzig Jahre Erfahrung mit gefährlichen Reptilien mitbringt, zusammen mit dem jüngeren Edouard Crittenden. Ein brenzliger Pas de deux, bei dem ein Partner den Kopf und der andere das Hinterende halten muss – was vorab trainiert werden muss.
Rowley und Crittenden halten das Maul der Sandrasselotter an den Rand eines Glasbechers, bis sie zuschnappt – und ihr Gift fliesst zäh ins Gefäss. Nur wenige Millimeter, die den Tod bedeuten können, aber auch hier in Liverpool oder als Spende an anderen Forschungszentren bei der Entwicklung neuer Wirkstoffe helfen können.
Die Sandrasselotter beisst im Forschungszentrum in den Rand eines Glasbechers – ihr Gift fliesst zäh ins Gefäss. Bild: Susanne Wedlich
Ein therapeutischer Hoffnungsträger ist der Wirkstoff Varepladib. Er blockiert toxische Enzyme, die in fast allen Schlangengiften vorkommen. Ein kalifornisches Startup führt dazu gerade klinische Tests durch – mit Erfolg. Aber auch Casewells Team arbeitet daran und konnte kürzlich zeigen, dass der Wirkstoff schwere Gewebeschäden nach dem Biss afrikanischer Speikobras verhindern kann. Er muss dafür innerhalb einer Stunde in die Bisswunde gespritzt werden. Nach einer weiteren Studie aus Casewells Labor zeigen die als Blutverdünner bekannten Heparine eine ähnlich schützende Wirkung.
Die Forschung fokussiert aber nicht nur auf bereits bewährte Wirkstoffe. Casewells Team ist an der Entwicklung von «Nanoschwämmen» beteiligt. Winzige Konstrukte, die einmal flexibel mit Bindungsstellen für Schlangentoxinen ausgestattet werden sollen – um das Gift im Blut von Menschen zu neutralisieren.
Neue Antivenin-Generationen wiederum werden im Labor entwickelt und menschlichen Antikörpern nachempfunden, um schwere Nachwirkungen zu vermeiden – und sie flexibel an Änderungen in Schlangengiften anpassen zu können. Was in Zeiten der Klimakrise nötig sein könnte. Wenn beliebte Beutetiere selten werden oder die Schlangen selbst neue Lebensräume finden müssen, beeinflusst die neue Diät auch den Giftcocktail.
Wenn Schlangen – und vielleicht auch Menschen – migrieren, sind Konflikte und Schlangenbisse vorprogrammiert. Was die Suche nach modernen Therapien nur noch dringlicher macht. Und die Arbeit von Menschen noch wertvoller, die sich mit 170 gefährlichen Schlangen umgeben.
«Wir hatten bisher nur eine Schlange, die definitiv einen Menschen getötet hat», sagt Rowley. «Eine Waldkobra, die ein Mafioso in den 80er Jahren für einen Mord genutzt hat. Er hatte sie wohl im Hotelzimmer seines Opfers versteckt und die Schlange ist letztlich bei uns gelandet.» Auch für einen Profi ist das eine Horrorvorstellung: «Mit einer Waldkobra in einem Zimmer?», Rowley schüttelt den Kopf: «Das würde ich wirklich nicht wollen. Zumindest nicht ohne meinen Schlangenhaken und die anderen Instrumente.»
Heilen wie vor einem Jahrhundert
Für die Produktion von Antiveninen wird Pferden oder Schafen wie seit 130 Jahren eine kleine Dosis Schlangengift gespritzt. Aus dem Blut der Tiere lassen sich später Antikörper gegen die Toxine gewinnen. Als Therapeutikum können diese Tierantikörper hochwirksam sein, aber im menschlichen Körper lösen sie oft einen allergischen Schock aus.
Deshalb werden Antivenine nur in medizinischen Einrichtungen verabreicht, wo die potenziell lebensgefährlichen Nebenwirkungen wie ein Atemstillstand bei Bedarf abgefangen werden können. Dazu kommt, dass Antivenine sehr teuer sind, gekühlt aufbewahrt und fachgerecht injiziert werden müssen. Das bedeutet: Für Farmer weitab vom Schuss ist der Weg ins Krankenhaus und damit zur lebensrettenden Therapie oft keine Option. Das soll sich jetzt ändern.
Dieser Artikel behandelt folgende SDGs
Die Sustainable Development Goals (SDGs) sind 17 globale Ziele für nachhaltige Entwicklung, vereinbart von den UN-Mitgliedsstaaten in der Agenda 2030. Sie decken Themen wie Armutsbekämpfung, Ernährungssicherheit, Gesundheit, Bildung, Geschlechtergleichheit, sauberes Wasser, erneuerbare Energie, nachhaltiges Wirtschaftswachstum, Infrastruktur, Klimaschutz und den Schutz der Ozeane und der Biodiversität ab.