Die Klimapolitik in einer angespannten Welt
Ein Blick auf die Annahmen, mit denen das Shell-Team gearbeitet hat, zeigt, welche Faktoren und Argumente diese Entwicklung antreiben und verlangsamen können. Das erlaubt auch einen analytischen Rahmen, mit dem der gegenwärtige Zustand der Klimapolitik eingeordnet werden kann.
So treibt etwa in einer von Konflikten geprägten Welt die Sorge um die Abhängigkeit von Öl- und Gasimporten die Elektrifizierung an. Das wird beispielsweise als ein Hauptgrund für Chinas Vorstoss bei den Elektroautos (und schon heute als einen der Gründe für die Energiewende in Europa) aufgeführt.
Gleichzeitig ist diese Welt von fehlendem Vertrauen in die globalen Wertschöpfungsketten für saubere Energietechnologien geprägt. Industriepolitische Interessen- und Klientelpolitik in den einzelnen Ländern spielen eine Rolle: Manche Regierungen möchten wichtige Geschäftsfelder schützen, etwa die Autoindustrie in Deutschland. Unpopuläre Mandate für grüne Technologien, etwa Gasheizungen gegen Wärmepumpen auszutauschen, werden von der Politik kassiert.
Die Folge für die Energiewende? Der Fortschritt ist langsam. Die fossilen Brennstoffe halten sich über das Jahr 2050 hartnäckig im System, was auch zu «schmerzhaften» gesellschaftlichen Auseinandersetzungen führt.
Und dennoch zeigt sich auch hier, die Verlagerung in Richtung Solar-, Batterie- und weiteren grünen Technologien ist nicht mehr zu stoppen. Shell rechnet dabei mit einer globale Erwärmung von 2,2 Grad. Das liegt zwar über dem Ziel des Pariser Klimaabkommens, aber unter den 3 Grad, auf die die Welt laut Uno-Hochrechnungen zusteuert.
Dagegen geht in einer Welt, die von technologischer Innovation und Durchbrüchen durch die künstliche Intelligenz geprägt ist, die Elektrifizierung sehr viel schneller voran. Die Nachfrage nach Öl und Gas fällt nach 2040 stark ab, und erneuerbare Technologien, insbesondere Solar- und Batterietechnologien, profitieren. Emissionen werden mittels technologischer Eingriffe aus der Atmosphäre entfernt, die Klimaziele des Pariser Abkommens werden knapp erreicht.
Was bringt diese Zukunft einem Erdölunternehmen?
Shells Zukunftsbilder lassen sich nicht direkt in die Geschäftsstrategie des Unternehmens übersetzen. Das Unternehmen verkauft weiterhin fossile Brennstoffe, die den Klimawandel anheizen.
Aber sie beeinflussen dessen strategische Aussicht. Denn die Szenarien geben einen Einblick in das Denken eines der grossen Erdölunternehmen über die technologischen, politischen und wirtschaftlichen Unsicherheiten und Bestimmungsfaktoren der kommenden Jahrzehnte.
Eine Frage drängt sich im Gespräch mit Laszlo Varro, dem führenden Kopf hinter den Szenarien, deswegen auch immer wieder auf: Wie passt der Öl- und Gasriese Shell in eine solche grüne Zukunft?
Aktivisten haben in der Vergangenheit gefordert, dass die grossen Erdölfirmen «ein Teil der Lösung» sein, also aus dem Geschäft mit den fossilen Brennstoffen aussteigen sollen. Kritiker sagen, dass Shell die zukünftige Nachfrage nach Erdöl und Gas weiterhin bewusst überschätzt. Das betreffe vor allem die Prognosen für Flüssigerdgas (LNG), eines der Hauptgeschäfte für das Unternehmen.
Shell hat unter der Führung von Wael Sawan jedoch klargemacht, dass seine Rolle in der Energiewende hauptsächlich bei den fossilen Brennstoffen liegt. Dort, wo es einen Wettbewerbsvorteil im Markt hat – und dort, wo es die Emissionen in der Produktion so weit wie möglich reduzieren kann.
Denn auch in den Klimaszenarien des Weltklimarats bedienen Erdöl und Erdgas weiterhin einen gewissen Anteil der Energienachfrage. Für ein Unternehmen wie Shell geht es also vor allem darum, sich im schrumpfenden Markt für fossile Brennstoffe gegenüber seinen Mitbewerbern zu behaupten.
Die Formulierung «gestrandete Vermögenswerte» lässt sich in den Szenarien derweil nicht finden. «Wir sehen eine bedeutende Rolle für Erdgas in der Energiewende, insbesondere für Flüssigerdgas in denjenigen Volkswirtschaften, die heute von der Kohle abhängen», sagt Varro und zeigt auf Asien.
Die erneuerbaren Energien werden anderen Unternehmen überlassen. «In welchem Teil in der Lieferkette von Solar- und Windenergie ist Shell wettbewerbsfähig?» Das sei doch die strategisch relevante Frage, sagt Varro. Es gebe zwar interessante Diskussionen darüber, in anderen Technologiebereichen sei die Lage jedoch klarer. So sieht Shell laut Varro eine Rolle für sich bei denjenigen Technologien, die CO2 aus der Atmosphäre entfernen oder in Fabrikschloten absondern und langfristig speichern können.
Für Aktivisten ringen bei solchen Gesprächspunkten die Alarmglocken. Sie sehen diese Technologien als ein Ablenkungsmanöver, um weiterhin fossile Brennstoffe verbrennen zu können. Gleichzeitig zeigen die Klimamodelle jedoch auch, dass solche Anwendungen notwendig sind, um die Klimaziele zu erreichen. Forscher und Aktivisten arbeiten heute schon an Vorschlägen, um die Risiken der Anwendung zu minimieren.
Varro zeigt sich jedenfalls als unsentimentaler Gläubiger der Energiewende: «Die bemerkenswerte, lang weilende Stabilität der fossilen Brennstoffe, die während eines halben Jahrhunderts bei einem Anteil von etwa 80 Prozent stagnierten, ist so gut wie sicher vorbei.» Das Energiesystem wird grüner, so viel steht fest, sagt Varro. «Aber wie schnell das in Zukunft geschieht, hängt stark von der Politik ab.»