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Was Schulnoten über den künftigen Erfolg im Beruf aussagen

Bild: Simon Tanner

Gesellschaft Wirtschaft

Was Schulnoten über den künftigen Erfolg im Beruf aussagen

Die Swisscom hat diesen Sommer für Aufsehen gesorgt: Sie will für die Auswahl von Lehrlingen in der Deutschschweiz keine Schulzeugnisse mehr sehen.

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Schulnoten sind ein emotionales Thema. Nicht nur für Schüler und Eltern, sondern auch für die Politik. Die Swisscom hat im Juli neuen Diskussionsstoff für die Notendebatte geliefert. Der Konzern kündigte Überraschendes an: «Wer sich bei Swisscom für eine Lehrstelle bewirbt, muss kein Schulzeugnis mehr einreichen.» Auch ein Bewerbungsdossier wird nicht mehr verlangt. Stattdessen sollen alle Bewerber zuerst in einem Video-Tool Fragen beantworten. Nur aufgrund dieser Antworten werden dann ausgewählte Kandidaten für die nächste Selektionsrunde an eine Firmenveranstaltung eingeladen. Das System soll vorerst als Test für alle Lehrstellen in der Deutschschweiz gelten.

Im Gegensatz zu manchen Gewerbebetrieben litt die Swisscom im Prinzip nicht unter einem Mangel an Bewerbern: Auf 250 Lehrstellen kamen in den letzten Jahren laut Firmenangaben jeweils etwa 8000 Bewerbungen. Dennoch betont die Swisscom: «Wir wollen nicht, dass uns Talente durch die Lappen gehen.» Das Unternehmen zieht die Aussagekraft von Schulnoten und schriftlichen Bewerbungsdossiers in Zweifel. Bei den Schulnoten sei die Vergleichbarkeit oft nicht gegeben, und das Gleiche gelte wegen Unterschieden im Ausmass der Hilfestellung der Eltern auch bei den Bewerbungsdossiers.

Sonderfall?

Dass Schulnoten längst nicht alles zeigen, ist seit langem kaum bestritten. Doch von der Behandlung von Schulnoten als einem von diversen Auswahlkriterien zum völligen Verzicht darauf ist es ein grosser Schritt. So könnte man aus der Ankündigung der Swisscom folgenden Schluss ziehen: Die Volksschule vermittelt aus Sicht des Unternehmens nicht (mehr) ein relevantes Grundgerüst für das Berufsleben – oder die Schule ist zumindest nicht fähig, zu messen, in welchem Umfang das relevante Grundgerüst vorhanden ist.

Doch die Swisscom will ihr Projekt nicht als Kritik an der Volksschule verstanden wissen. Entscheidend für den Beschluss sei vielmehr die «spezielle Situation» des Unternehmens. Die Swisscom meint damit neben der hohen Bewerberzahl ihr Ausbildungsmodell, «bei welchem die Lernenden auf einem internen Projekt-Marktplatz ihre Einsätze selber suchen und zusammenstellen» – weshalb von den Betroffenen viel Eigeninitiative gefragt sei.

Viel Lob findet das Swisscom-Ausbildungsmodell mit seinen Entwicklungschancen bei der Bildungsforscherin Ursula Renold von der ETH Zürich. Generell haben laut Renold für die Arbeitgeber betriebsübergreifende «weiche» Qualitäten von Mitarbeitern wie etwa Problemlösungskompetenzen, Selbstinitiative, Sozialkompetenzen und Durchhaltewillen an Bedeutung gewonnen. Die Frage ist, inwieweit Schulnoten Hinweise auf solche Kompetenzen geben.

Die Swisscom hat laut eigenen Angaben keine statistischen Analysen zum Zusammenhang zwischen Volksschulnoten und späteren beruflichen Leistungen ihrer Lehrlinge gemacht. Befragungen in der Vergangenheit von Arbeitgebern und Berufsberatern zeigten aber oft erhebliche Zweifel an der Aussagekraft von Schulnoten. Eine Kernkritik: Die Strenge der Notengebung ist nicht in jeder Schule gleich, und innerhalb der Schulen gibt es auch Unterschiede zwischen den einzelnen Lehrern. Zudem decken Schulnoten manche im Berufsleben relevanten Faktoren wie etwa Sozialkompetenzen, Eigeninitiative und Kreativität nur höchst beschränkt oder gar nicht ab. Die Noten spiegeln überdies laut Skeptikern schulische Leistungen in einem oft schwierigen Alter zwischen 13 und 15 und sagen wenig aus über das Potenzial der Betroffenen im späteren Berufsleben.

Ob man auf dieser Basis die Noten völlig ignorieren sollte, ist aber unklar. So könnten die Noten gewisse Hinweise geben auf beruflich relevante Kompetenzen wie etwa Fleiss, Durchhaltevermögen und analytisches Denken. Zudem können die Volksschulnoten Aussagekraft zu den Leistungen in der Berufsschule haben und damit auch für den Erfolg der Berufslehre. Und bei Mittelwerten von Noten von mehreren Fächern und Lehrern mögen sich die Differenzen zwischen den einzelnen Lehrern ein Stück weit einebnen. Noten geben überdies den Schülern «eine zeitnahe und rasche Rückmeldung und können sich damit positiv auf die Lernmotivation auswirken», sagt Stefan Wolter, Direktor der Schweizerischen Koordinationsstelle für Bildungsforschung in Aarau. Und bei einem Verzicht auf Schulnoten als Auswahlkriterium müsse man zuerst noch eine bessere Alternative finden.

Letztlich ist der Zusammenhang zwischen Volksschulnoten und späterem Erfolg in der Berufslehre nur aufgrund von Studien in der Praxis zu klären. «Es gibt für die Schweiz kaum neue repräsentative Untersuchungen dazu», sagt Stefan Wolter. Einen älteren grenzüberschreitenden Literaturüberblick lieferte 2010 die Masterarbeit von Michael Siegenthaler, der heute als Arbeitsmarktexperte bei der Konjunkturforschungsstelle der ETH Zürich tätig ist. Das Bild ist durchzogen. So umfasst die Forschung breite Kritik an der Notengebung ebenso wie Befunde zu einem «hohen» Prognosegehalt von Schulnoten bezüglich Ausbildungs- und Arbeitsmarkterfolg.

In seiner eigenen Studie über 300 Migros-Lehrlinge kam Siegenthaler zum Schluss, dass die Volksschulnoten eine gewisse Prognosekraft für die Berufslehre hatten (gemessen an Berufsschulnoten, Lehrabbruchquote und unentschuldigten Absenzen in der Berufsschule). Der von manchen Betrieben zwecks Standardisierung verwendete Eignungstest Multicheck wies nach Berücksichtigung der Volksschulnoten keinen zusätzlichen Prognosewert mehr auf. Einen schlüssigen Befund erlaubt die Studie aber nicht.

Was die Firmen tun

Gemessen an Umfragen sowie gezielten Rückfragen bei Exponenten gehen Arbeitgeber zum Teil ganz unterschiedlich mit Schulnoten in der Lehrlingsselektion um. Hier einige Tendenzaussagen. Erstens: In Grossbetrieben mit vielen Bewerbern und relativ anspruchsvollen Lehrstellen dienen schlechte Schulnoten oft als eines der ersten Ausschlusskriterien, um den Selektionsaufwand in Grenzen zu halten. Zweitens: Kleinere Betriebe mit nur einzelnen Lehrstellen und wenigen Kandidaten schauen sich auch Kandidaten mit schlechteren Zeugnissen an und setzen oft vor allem auf Schnupperlehren. Doch auch KMU wollen keine Lehrlinge mit ganz schlechten Schulnoten, weil sonst das Risiko von Problemen in der Berufsschule und damit auch das Risiko eines Lehrabbruchs steigt.

Drittens: Manche Betriebe verwenden als Ergänzung zu den Schulzeugnissen externe standardisierte Eignungstests wie etwa Multicheck. Laut einer Befragung des Eidgenössischen Hochschulinstituts für Berufsbildung von rund 5700 Betrieben für das Lehrjahr 2016/17 verwendeten 38 Prozent aller Betriebe externe Eignungstests, und über die Hälfte benutzen externe und/oder eigene Eignungstests. Bei grösseren Betrieben sind diese Quoten noch deutlich höher. Viertens: Die Arbeitgeber hoffen, dass die zusammen mit den Behörden aufgestellten schulischen Anforderungsprofile für die verschiedenen Berufe den Volksschulen künftig Leitplanken zur Eindämmung der Vielfalt in der Notenstrenge geben. Und fünftens: Laute Rufe nach Abschaffung der Schulnoten sind von den Arbeitgebern nicht zu hören.

Hansueli Schöchli, «Neue Zürcher Zeitung» (09.08.2022)

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